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' Beitfchtift für |
Politik, Literatur und Kunft
Berausgegeben von Georg Cleinow
?5. Dabrgang Jährlich 52 Mefte
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Pr. 1
Revolutionäre Strömungen in Rußland . . . . ; |
Die gefchichtliche Betrahhtung der vergangenen PEN und
des gegenwärtigen Krieges. Don Dr. Hans Boldfhmidt . 15
Staatenbund von Hordeuropa. Don Juftizrat Bamberger . . 25
Dolfsmärchen der Bulgaren. Don Profellor Dr. Robert Pet . 28
Husgegeben am 5. Januar 1916
co Pi. Berlin DM. II 6 Mark
das Heft — — vierteljährlich
| DEUTSCHE BANK
BERLIN W.8.
Aktienkapital und Reserven 428 500 000 Mark.
Dividenden im letzten Jahrzehnt (1905— 1914): 12, 12,12, 12, 121/,, 121/,, 12%/,, 121/45 121/,, 10 %/
FILIALEN:
Aachen, Barmen, Bremen, Brüssel, Crefeld, Dresden, Düsseldorf,
Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Köln, Konstantinopel, Leipzig,
London, München, Nürnberg, Saarbrücken.
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Augsburg, Berncastel-Cues, Bielefeld, Bocholt, Bonn, Chemnitz,
| Coblenz, Cronenberg, Darmstadt, M.-Gladbach, Hagen, Hamm,
Hanau, Köln-Mülheim, Meissen, Neheim, Neuss, Offenbach a. M.,
Paderborn, Remscheid, Rheydt, Solingen, Trier, Wiesbaden.
Depositenkassen:
Bergedorf, Deuben, Goch, Idar, Langerfeld, Lippstadt, Moers,
Opladen, Potsdam, Radeberg, Ronsdorf, Schlebusch, Schwelm,
Soest, Spandau, Vegesack, Velbert, Wald, Warburg.
Eröffnung von laufenden Rechnungen. — Depositen- und Scheckverkehr. —
An- und Verkauf von Wechseln und Schecks auf alle bedeutenderen Plätze
des In- und Auslandes. — Einziehung von Wechseln und Verschiffungs-
dokumenten auf alle überseeischen Plätze von irgendwelcher Bedeutung. —
Rembours-Akzept gegen überseeische Warenbezüge. — Bevorschussung von
Warenverschiffungen. — Vermittelung von Börsengeschäften an in- und aus-
ländischen Börsen, sowie Gewährung von Vorschüssen gegen Unterlagen. —
Versicherung von Wertpapieren gegen Kursverlust im Falle der Auslosung. —
Aufbewahrung und Verwaltung von Wertpapieren.
Die} Deutsche Bank ist mit ihren sämtlichen Niederlassungen
amtliche Annahmestelle von Zahlungen für Inhaber von Scheck-
Konten bei dem K. K. Oesterreichischen Postsparcassen-Amt.
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Die Grenzboten
75. Jahrgang. Erftes Dierteljahr
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Die
Hrenzboten
Seitfchrift für
Politif, Literatur und Hunft
Herausgeber
| Georg Lleinow
75. Jahrgang
Erftes Dierteljahr
Berlin
Derlag der Brenzboten G. m. b. h.
1916
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Inhaltsverzeichnis
Sabrgang 1916.
Erftes Vierteljahr
— — — —te —
Heft Seite
Politik, Geſchichte, Kolonialweſen,
Militãr
A olitit, Die Mißgriffe der engliſchen —,
n Beitrag zur engliſchen wrachianmiriſe
* Dr. &. Bue 11,
Amerilaniſchen, De Mast des — Vrändenten,
von sJelig Bauman 11,
Andrany, Graf Sulins — und bie —
ungar iſche Orientpolitik, von S 9,
China. Die amerikaniſche Organiſation in — 7,
Deutſche Kultur im engitigen Spiegel. von
Richard Kilian . . — 7,
England, Die Dienftpflicht in —, b,
——— Die Mißgriffe der — "Agrarpolitif,
n Beitrag zur englijhen Beaptraumitıe,
von Dr. ®. Buek . 11,
Frankreich, a 5 Nainer in _, von Brof.
Dr. Rar J. W 2,
Frankreich, Wie ne _ iu Bot "Botfringen, und
dem Elia? von Brof. Stanfe . 5,
— —— Dr. Srit
Sriebride" des ®roßen, Die Orientzolint —,
von Dr. Selma Etem . . . . 12,
Gallieni, von Rudolf Wagner . . -» 6,
Geſchichtliche Die — Betrachtung der ver⸗
genaenın Ssriedenszeit und des gegenwärtigen
iege3, von Dr. Hand Goldihmidt . . . 1,
se und der englifche En aftetrieg. 6,
—— Der — Gedanke, von Dr. Kari
—— Die franzöflie —, vonDr. Grit i
oepfe h
Japan, Grokfürft Georg Dicaitomitie in. —,
(Rach der ruffiſchen Preſſe) .. —
KRoalitiondfrieg . 10,
— Die eſchichiliche Beirachtung der ver⸗
——— riedenszeit und des gegen—
wärtigen —, von Dr. Hand a 1,
Kriegdtagebu g. . 4,125; 9,
— — Das: —, von Srieb: 5
ri & ;
Montenegro, König Nikola von — und feine
Bolitik, von Spirtdion Gopcevic . . 6,
— Das — a der Krieg,
von Prof. Dr. Sonrab Bornhal. . 8,
Naumann oder Barth? von Bach. Dr. Bil:
beim Martin Beder . . 12,
Reutralen, Der beigiiche Boltsfrieg im Untet
der —, Eine neutrale PBolemil . . 8,
⸗ u —
ur
321
344
274
193
201
139
Heft Seite
BVferderennen, Zur Retorm der —, von Be
neraleutnant H. Rohre . . ‚107
Pitirim, Metropolit von Petersburg. : . 13, 385
Nuffiicher Brief, fiche Auf dem toten Bunt . 5, 129
Rußland, ſiehe Pitirim. 385
Rußland, Revolutionäre Strömungen in —, 1, 1
Salonifi, von Prof. Dr. Mar I. ® 7, 218
Schiedegerihtsbund, Ein — vor⸗
deraſiatiſcher — von Dr. Rarl Mehrmann. 4, 97
Schweiz, Die Stellung der neutralen — zu
Deutichland im WWelifriege, von Prof.
Dr. Zohanned Wendland . . 8, 86
Staatenbund von ——— von Juſligrai
— 1, 25
Yuanſchikai, ſiehe Der neue Sohn des Himmels,
von Erih von Salzmann . . . „4, 101; 5, 144
Bolkswirtſchaft, Verwaltung,
Sozialweſen
Beſteuerung, Die Ausgleichung der Familien⸗
laſten als Grundlage einer gerechten —, von
Staatsanwalt A. ai r . 10, 304
Bevöllerungsfrage, fiehe Die Ausgleihung der
Samilienlaften al® Grundlage einer ge:
a ENG von onen
A. Zeil 10, 304
Eieftrotechnit, Sriebensziele der —, von Ober:
ingenieur Lajo8 Steiner . . 23, 4
Hanbelsitaat, Der geihloffene — Fichtes, von
Prof. hir Conrad Borndal . 11, 230
Kinderarbeit, Gewerblidde —, Eli Beitrag aus
Bevölferungdfrage, von Dr. Bue — 7, 209
Kriegsanleihe, Merlkblatt zur Bieten —, 11, 348
Ktriegsanleihe und Bonifikationen .. 10, 320
Oſtpreutzens, Der Wiederauſbau — als wirt⸗
fchaftepolitifches und fulturelled Siedlungs>
problem, von Baurat Kurt Hager. . 13, 391
Unternehmeridaft, Der Weltkrieg uns die Rage
der — in Europa, von Heinrih Göhring . 9, 266
Neigtöfragen, Bildung und
Erziehung, Kircde
Zinden, Einiged vom —, don Geh. Juftizrat
R. Bruns. 2 2, 311
Kriminalität. Kritiiches zur Kriegs⸗ —dei
Ju oo von Umtsriter Dr. Albert
de 11, 338
— ——— "Phantofien eines Englän:
ders, von Prof. Abert Werminghoff 3, 65
Heft Seite
a, als Patriot, von Benrnoralte:
rof.
Böitertehte, De —— des —, von Biol
Dr. jur. Iulius iriedrid . . . . .
Kulturgeſchichtliches,
Länder⸗, Böller⸗ und Sprachenkunde
Hagion Oros, ie — heilige von
farrer Edmund Are
Mordredt, Bom — ber 'D rigkeit, von 5. bon
Puttkamerrr.. er nen
Pannen Elawiidhe — im Brandenburgifchen,
von Dr. Suflav Rauter . . » 2: 2.2.
6 a Bon der entien —, von Dr va
au er ®. . . . ‘ . ® ®
Literatur, Kuuft, Bhilofopfie
Architefturfiubiums, Bom Rulurnent des —,
von Dr. R. Shadt ;
Bulgaren, Boliömärden ber —, von Prof
Dr. Robert Belich
Be Der eihloffene Sandeisfiant —
xof. Dr. Conrad Bo
Yör aaenfen, Johannes — al Der belgifche
u im Urteil der Reutzalen“ in Set)
von Dr. RL. Cöfler . . 2 2 2 2 0 0.
Ts er ———— der —, von Dr. War
ed ;
— von
Boltbmär en ber Bulgaren, Don Bel Dr.
Nobert Petih . Be at
Novellen, Romane, Gebiäte
fiegerlied, von Werner zn: garen . . »
ärlifche Neiler, von No — Ley ....
Pioniere, von Werner Peter Larſen.
Bücherbeiprecdhungen
Ein „B” anftelle der Eeitenzahl bebeutet:
Bücherlifte im Anzeigenteil bes betr. Heftes.
v. After: Einführung in bie Piychologie (Dr.
Mar —— J
Bartſch, R.H.: Das deutfche Bolt in ſchwerer
— iehe „ „Rayman oder Bartih 7” (Prof.
Beveridge, Albert S.: What is back of the
war (Dr. jur. Kurt Eb. Inıb ere) :
Bloder, Eduard: Belgiihe Neu ralität und
Schmwelzeriihe Neutralität (Prof. Dr. Jo»
banned Wendland) -. . » 2 2 2.0.
— Die Schweiz als Berföhnerin und Ber»
mittlerin ben Das und Deutid-
land Brof, Dr, Johannes Wendland) . .
Boat, Roman: Der europälfhe Strieg und
unter jhweizer Krieg (Prof. Dr. Johannes
Bendland) . > 2 u m ren
v. Brauer, arge, v. Müller: Erinnerungen
an Bismard (*) . 2 2 2 2 re ran
Braunsbaufen: Einführung indie ek
— (Dr. Ma Rn uhl)
Brodhaus, & ze e ftädtifche Kunkt und
ihr Sinn (Dr. R. n
ur zer, — —* er aunſigechichte
B eflin, en Eid» und Mittelamerifa
un dem wirtfchaftlihen —— e des Welt⸗
es (Dr. jur. Kurt Ed. Imberqg)
Sea. Srancid: La guerre qui vient (Dr.
jur. Kurt &. Imbagı. . o 2.2.2. .
Der Lufitania-Fal im Urteile von beutichen
Gelehrten (Dr. jur. Kurt Ed. Imberg) . .
Dr. Aloys: Ludwig Gteub —
Endres Kranz Karl: Die Türkei .
Erin, Dr. Sohannes: Die europäifche Union
als Bedingung und Grundlage bed dauernden
riedend (Prof. Dr. Johannes Wendland)
oriehläge zu einem baldigen und bauernden
Srieden rl Dr. Johannes Wendland) .
10, 310
6, 167
B, 43
13, 404
8, 74
8, 246
13, 408
1, 38
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124
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8, 260
18, 412
18, 412
4, 122
4, 119
4, 121
. 10, 818
B, B
VI
Heft Seite
alte, Konrad: Der Ihmeiserifäe Kulturwille
(®rof. Dr. 3 —a Wendland 2, 42
rankl, Paul: Die ——— der
neueren Vaukunſt (Dr. R. Schacht 18, 410
Grabowsly, Dr. Adolf: Die polniiche Trage
(Dr. Earl Jentih) - » oo 2 0000. 13, 414
Buglia, Eugen: Die Geburts-, Sterbe- und
tabftätten der zömifch-deutfchen Raifer und
Könige (Dito Hof). - » 2 2 2 nen 2, 58
Herner. Brof. Dr. Beinrich: Die wirtſchaftliche
Annaͤherung zwiſchen dem Deutſchen Reiche
u. ſeinen Verbündeien (Dr. H. v. — 12, 878
Sftel, Edgar: Die moderne Oper, vom Tode
Wagners biß zum Weltkrieg (Dr. Richard
— Se Tat er 9, 278
J ——— Johannes: „Glocke Roland“ —
Der belgiſche Bolfätrieg im Urteil
Neutralen . . 8, 282
Karte der Rang efan jenenlager vom Sur.
paͤiſchen und en Buhl abe 2, B
san Bernbard: Der Krieg im Weiten
(Hanns Martin Eifier u 2, 62
Korg, Brof. Rarl: Die Deutiehfeinbittet
Amerilas Dr jur. Kurt &b. Imberg) 4, 119
Br sig Führer vu ben Ronzertjonl
r —— Hohenemſer). 9 80
"Teigtiäe Un —2* ung fr den ge
ichen Unte an eren ulen
r. W. Cape 8, 255
— 5— Ru ol; Simerite während bes Welt.
friege3 (Dr. jur. mberg) . 4, 118
Bestien, Augıf: Balfanmärden ( rof. Dr.
Robert Verf 1, 38
Zonis, Hubert ie deutfche Mufit ber Ren
zeit (Dr. Riard Hohenemier) . ı 9,2778
Maıds und Lenz: Das Bismard-Jahr (*) . 13, 415
Marcıte, Dr. Baul: Die Bantreform in den
Vereinigten Staaten von Ame (Dr. jur.
Kurt Ed. Imberg) » oo 200 4, 1%3
Reuter, Ehriftian: Der Lufltania-Fal (Dr.
jur. Kurt &b. Imberg). -» » » 2... 4, 122
Meyer, Eduard: Rordamerita ei Deutſch⸗
land (Dr. jur. Kurt Ed. Imber 4, 117
Möller van ben Brud: Der Drenkiiche Stil
(Dr. R. Schadt) . 13, 411
Muünfterberg, Hugo: The Peace and America
(Dr. jur. Kurt Ed. Imb B. 4, 116
-- The War and America (Dr. fur. Kurt Ed.
Imbergh... % 4, 115
Naumann, Fr.: „Witteleuropa, fiede „ Naumann
oder Bartih ?* (Prof. Dr. ®. M. Beder) . 12, 853
Oldenberg, a Die Lehre ber pa»
nübhaden und die Anfänge des Bubdhismus
(Rarl Ad. Biellerup). . - » 2 2 0 0. 2, 8
Onden, Hermann: Deutſchlands Weltkrieg und
die Deutihamerilaner (Dr. jur. Kurt €b.
Imbergh... m 4, 118
— Theodor Hermann: Aus den In⸗
gen nbjahren eines alten Kurländers (Hannd
artin a ee ee rel 2, 61
Paterſon, W Deutſche Kultur (Richard
Killani). - = 00 a nn ne 7, 901
Planiscig, Leo: Denimale ber u. in den .
füblihen Kriegsgebieten (Dr. R. Shadt) . 18, 412
Planta, Baudenz von: Die Schwei
a —8 Dr. Johannes Wenb⸗ —
Monat, Vrof.: ur nationalen Berftändigung
a Einigfeit Brof. Dr. yayanın Wend⸗ —
ar. Arnold von: Die Neutralität der
Schweiz Dr: Dr. Johannes Wendland 9, 87
— Abhandlungen und Aufl ge —
& ——— Paul: naee Weltkriegs⸗
ronit (Sch) ...- .. 13, 416
Schweizeriſches Komitee zum Studium der
Grundlagen eines dauerhaften fyriedendver-
trages: Die Grundlagen eines dauerhaften
— —— (Prof. Dr. Johannes
endlandd.. 8, W
Eiern, William: Pſychologie Be frühen Rind»
heit (Dr. War Levy - Buhl) een. 8B 4
— —-
VII
Heft Eeite
— iedrich: Schwediſche Stimmen
en Robert & S.: "Der beutich « englilche
Krieg im Urteil eines Amerifaners (Dr. jur.
Kurt Eb. Imberg)
Bilder, Prof. Eber — Wir Schwei er, unfere
Neutralität und der Krieg ( or Dr. 30»
hannes Wendland) .
Bolbehr, Th.: Bau en) Leben der bildenden
Ku ‘Dr. R. Scha
Bantel, Alfred: He elifche Kirchenbau
u Beginn bes zwangigfien —
Dr. R. Schadt) i
Wehberg, Hans: Die "amerilanifd en Waffen:
und WRunitiondlieferungen an —
Gegner (Dr. jur. Kurt &b. Imberg) .
Bernie, aul: Gedanken eines Deutic-
Echmeizers (Brof. Dr. Johannes Wenbdi )
Bir Schweizer, unlere Reutralität und ber
Krieg 6 Prof. Dr. Iohannes Wendland) .
Witlop, Philipp: Heidelberg und bie deutiche
Dichtung (Ernſt Ludwig ee)
Bolf, Reonbatd: S. Sebaſtian Bachs schen»
Iantaten (Dr. Richard Hohenemfer) .
Mitarbeiter-Berzeicgnis
Bamberger, Juftigrat: Staatenbund von Nogp-
:- euro a . . = . . . . . . . . . . .
— Felix: Die Macht des amerikaniſchen
Praͤfidenten
Beder, Prof. BR Wilpelm Martin: Naumann
oder Bart
„Ybhandhungen und Nuffäge“,
Boehm, Dr.:
von Mar Scele
Bornhal, Brof. Dr. Conrad: : Das Nationalitäts«
prinzip und der Krieg ;
— Der geichlofiene Sandeistiant Fichtes —
Bruns, Geh. Juſtizrat K.: Einiges voin Finden
—— Dr. aa: Der internationale Ge-
Bueg, Dr. ®.: Die Mitzoriffe der englife en
Agrarpolitil, Ein Peek aus englifchen
Frachtraumkriſe.
— Gewerbliche Kinderarbeit.
Bevölterungdfra e
J. Graf Zulius Andraff ſy und die
ö erreihiich,ungartide Drientpolitit . .
Eapelle, Dr. ®.: „Duellenfammlung für den
geſchichtlichen Unterricht an höheren Schulen“,
herausg. von G. Lambeck, F. Kurze und
. Rühlmann ..
Elſt ter, Hanns Martin: „Aus ben Jugendjahren
eines alten Nurländers“, von Theodor Her»
mann PBanteniuß .
„Der Krieg im Welten“, ‚ don Bernhard
_ Rellermann ;
Franle, Prof. Dr. Gatl: Wie iam Frantreich
au Lothringen und dem Elfab? .
Briedrid, Prot. Dr. jur. Julius: Die ? Zukunft
des Bölterrehtd .
Gjellerup, Karl Ad.: ‚Die "Lehre der, Upa-
nifhaden und bie Anfänge des Buddhisſsmus“,
von Hermann Oldenberg
Goͤhring, Heinrich: Der Weltfrieg und die Lage
der nternehmerichaft in Europa . .
Boldfhmidt, Dr. Hand: Die geihichtliche Ber
tradtung ber vergangenen Griedensgeit und
bes gegenwärtigen Krieges .
Gopcevic, Spiribion: König Ritole von n Ronte
negro und feine Bolttit. . .
Ein Beitrag zut
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18,
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290
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Heit Seite
Hager. Baurat Kurt: Der Wiederaufbau Dit-
preußens alß wirtichaftspolitifhes und fıl-
turelle8 Siegesproblen . 13, 391
Hellwig, Amtsridter Dr. Albert: Kritiſches zut
en der Ju a 0. 11, 338
SHohenemfer, Dr. aa: eue Bücher über
ufik —— 9, 278
Imberg. Dr. jur. Kurt Ed.: Rriegsliteratur V. 4, 116
Sentih, Dr. E.: „Die polnifche Trage“ von
Dr. Adorf Sraboweh 13, 414
Kiliani, Richard: — Kultur im englifcien
Spiegel . 7, 21
— Pfarrer Edmund: Der heili e Ber 8, 93
Sangermann, Dr. 9. v.: „Die meet
Annäherung zwühen dem Deutichen Rei
und feinen Berbündeten“, berausg. von Prof.
Dr. Heinrid Hertner . 12, 878
Rarien, Werner Meter: "Sliegerlied 4, 124
— Bioniere . 6, 192
a —— Dr. Mar: Richtungen der Einer —
, Hoberid: "Märtifche Reiter... . 6, 169
& ler, Dr. &.: Sohannes Dörgenien . . . 12, 883
Mehrmann, Dr. Karl: Ein mitteleuropäifch-
vorderafiatiiher Schiedsgerihtäbund . . . 4 97
Mottel, Zriedrih: Das annihaftd-Rriegs-
— 3 2, bB
Petſch, Prof. Dr Robert: vollsmaͤrchen der
Bulgaren . 1, W
Port, rieda: „Ludwig Steub* von Dr. Aloyt
Dreyer. . 10, 819
v. —X Bom Mordrecht der Obrigkeit 18, 404
Rauter, Dr. Buftav: Slawiſche ———
Vrandenburgiſchen .. 8, 74
— Von der deutſchen Schrift ,
Noepte, Dr. Zrig: Die franzöfifche Inter
nationale . 9, 37
—— Generalleutnant z. D. 5. Zus Reform
ber Pferderennen . . 4, 107
—— Erich von: Der neue Sobn bes
ımmels . 01; DB, 144
= „Slufirierte Weltfriegschronit“ von Saul
U enbah . 13, 416
Chad, Dr. R.: Bom Kulturwert des Archi⸗
telturftubiums (Sammelberidt). . 13, 408
Schellenberg, Ernit Ludwig: „Heidelberg und
die deutihe Dichtung“, von hilipp Witlop 2. 63
Simon, Konfiftorialrat Prof. r.: Edleier:
mader ald Patriot . . 10, 310
Steiner, Oberingenieur Lajos: Friedentziele
der Elekirotechnik .. 2, 47
Stern, Dr. Selma: Die Erienipotitit Griedrice
des Grosen. 12, 360
Waguer, —W Gaͤllieni 6, 180
Yserdland, Prof. Dr. Johannes: Die ‚Stellung
der neutralen Ehweiz zu zeutiglane in
Sselllciege . 2, 97, 3, 85
Werminghof, Prof. Dr. Aibert: "Nalionalfird«
Iihe Thartaften eined Engländer . . 8, 66
Rolf, Prof. Dr. Dar — neuen Männer
in Branfreid) ; 2, 33
- Ealmii . . 7, 218
Heiler, Staatsanwalt .: Die Ausgleihung
der Familienlaſten als Grundlage einer ge>
rechten ah: 10, 304
Bo, Otto: „Die Ge hurtös, Eterbe- und Grab:
ftätten der Römifc) » deutichen Kalle und
„ Könige“, von Eugen Guglia. . 2, 68
„Das — herausg. von Grid
"Mards und Mar el... 13, 416
* Erinnerungen an Bismard“, geraung. von
.d. Brauer, Erid Mards und Rider 13, 416
oo
— — —
Revolutionäre Strömungen in Rußland
13 Diallalow, der damalige ruffifhe Minister des Innern, ein
| 13 eleganter noch jugendlicher Mann, defjen gut gepflegte Hände in
WR geihmadlofer Weile mit Loftbaren Ringen bededt waren, an
jenem 24. $uli 1914, als die ruffiihe Mobilmacdjung beichloffen
2 wurde, vom Minifterpräfidenten gefragt ward, ob er dafür
garantiere, daß im Falle eines Krieges das Volk ruhig bleiben würde, ant-
wortete er mit einem zuverfichtlihen „ja”. Diefes „ja“, das die Ereigniffe
fpäter rechtfertigten, hat fjehr viel zu den Entichlüffen der ruffiihen Staat$-
lenter in jenen entjeheidenden Stunden mit beigetragen.
Maklakow glaubte, daß die Konfolidierungsarbeit, die Stolypin begonnen
hatte, bei den Bauern weit genug fortgefchritten war, um jede Möglichkeit von
Unruhen zu verhindern. Zudem war e8 den Bauern zulegt gut gegangen.
Mehrere Ernten waren glänzend gemwefen. Das Dorf war fatt und, wenn man
ihm den Alfohol nähme, fo würde die Nüchternheit zur Ruhe zwingen und die
Mobilijation glatt vonftatten gehen. Die Streifls in Petersburg feien ziemlid)
beendet, man habe einige NRädelsführer erfhoffen, andere nah Gibirien
transportiert, im übrigen werde die panflaviftifche dee des Krieges für die
Brudernation, für die Befreiung der unterdrüdten flavifchen Völker, für bie
Abjhüttelung des teutonifchen Yoches auch beim niederen Volke, felbjt bei ben
Sozialiften wirfen. Wenn der Krieg fiegreich fein werde, fo würde er zugleich
eine glänzende Gelegenheit zur Befeftigung des reaftionären Negimes bieten,
dba3 war der Nebengedanfe der inneren Politiker, die für den Krieg ftimmten.
Und dafür ftimmten fie alle. Nur Krimofchein, dem e8 mit der Agrarreform
ernft war und der als Folge eines europäifchen Krieges die wirtfchaftliche
Rüdentwidlung Rußlands vor Augen fah, befannte fi) offen als Gegner bes
Krieges.
Orenzboten I 1916 1
" Bevolutiondee Steömungen in Aufland
| Mallakow hatte zunaͤchſt recht. Er ahnte in dieſer erſten Periode des
Krieges nicht, daß er ſelbſt eines ſeiner Opfer ſein würde. ———
ſchelnende ruffifhe Zeitung „Sozialbemotrat“ beicjreibt diefe Periode,
unmittelbar nad) — einfegte, folgendermaßen:
„Ausbruch des Patrlotismus des fehwargen Hundert. Die ganze
Bourgeotfie bis zur liberalften hinunter geht in das Felblager ber Be-
wunberer ber garifhen Bande über. Die Prefle, die Tribüne der Duma,
die Schule, der Altar — alles wird in Gang gefekt, um in ber Tiefe
Nuplands, im fernen, bunleln, zerilagenen Dorfe den Betrug vom
‚Befreiungstriege‘ des Zarismus populär zu machen, um bie Arbeiter,
die Bauern, bie Mafle der erwerbenden Klafie in ben Stäbten mit
Chauvinismus zu vergiften. Alles ehrlie, alles, was der lange der
Revolution treu geblieben war, war an Händen und Fühen gebunden.
Das Land war duch bie Ketten des Belagerungszuftandes gefeflelt.
Broteft gegen ben Krieg erhebt fi) nur in den Reihen der Arbeiterflaffe.
Der Tühne Borlämpfer der Arbeiter, die ruffilde Tozialbemofratiiche
Arbeiterfraltion, wurde gefangen genommen und in das Gefängnis
geſetzt.“ —
Man erinnert ſich auch in Deutſchland dieſes Vorgehens der ruſſiſchen
Polizei gegen die funf ſozialiſtiſchen Dumaabgeordneten, die man gegen jedes
Geſetz und gegen die Verfaſſung gefangen genommen hatte. Sie wurden nach
kurzem Prozeß nach Sibirien verbannt und noch heute ſind ſie da, ohne daß
es den Bemuhungen ihrer Fraktionsgenoſſen gelungen wäre, ihr Los erheblich
zu beſſern. Es lag in der Abſicht der Regierung, die Arbeitermaſſen, die noch
in den größeren Städten zurückgeblieben waren, unter allen Umſtänden
unſchädlich zu machen und zu desorientieren. Das konnte man am beſten durch
Bejeitigung ihrer Führer.
An die ruffiihe Revolution beim Ausbruch eines Krieges hatte man wohl
nur in Deutichland in manchen Kreifen geglaubt und zwar in denen, die Ruß⸗
land gegenüber ftetS vorgefaßte Meinungen gehabt, fich aber zugleich als be-
fondere Kenner der rujfiihen Berhältniffe ausgegeben hatten. Die Drien-
tierung unferee Qagesprefie über ruſſtſche Berhältnifie war mangelhaft.
Mit Ausnahme von zwei, drei wirklich deutjchen und Tompetenten Auslands
torrejpondenten wurden unfere Zeitungen über ruffifhe AZuftände von
durdhaus zweifelhaften Quellen bedient. Auf diefe von ben amtlichen Streifen
ftetS bedauerte Mangelbaftigleit unferer journaliftifchen Auslandsvertretungen
muß in diefem Zufammenhange einmal hingewiefen werden. Es gebt nicht
on, dag man für alle grundlofen Einbildungen unferes Publitums immer
wieder die Diplomatie verantwortlich madt. Möchte auch bier der Krieg einen
Wandel bringen. — E8 war ja Har, daß eine Revolution in Rußland bei Krieg8-
beginn nicht ausbredden Tonnte. Wer hätte fie denn machen follen? Bon ben
Arbeitern babe ich Ion gefprodden. Das Dorf war durd) mehrere glänzende
Revolutionäre Strömungen in Rußland g
Graten, befrtebigt und die Agrarreforn tm beften Zuge; — die ruſſiſche Bour⸗
geoifie verbieute duch die überreiche Befruchtung bes Landes mit beutfdhem
Gelde, das der ſoviel geſchmähte Handelsvertrag ben Nuffen gebradjt hatte,
ſo glänzend, daß ſte ſchon halb auf dem Wege war, ſich mit den beſtehenden
Buftänden auszuföhnen, jedenfalls aber volle Bereitſchaft zeigte, wie ein Gimpel
auf den Leim zu gehen und der nationaliſtiſchen Politik der Regierung blind-
lings zu folgen.
Die erſte Phaſe des Krieges brachte alſo nicht nur keine Revolution,
ſondern die Arbeiter, die in Rußland immer revolutionäre Tendenzen gehabt
haben, wurden teils durch die panſlaviſtiſche Agitation, teils durch Terrorismus
und die Drohung mit dem Standgericht in die der Regierung genehme Haltung
gebracht.
Es lam die zweite Phaſe des Krieges für Rußland, die der, Sozialdemokrat“
wie folgt charalteriſiert:
„Siege der zariſchen Armeen in Galizien. Ein noch größerer Aus⸗
bruch des Schwarzhundert⸗Chauvinismus. Die Bande des ſchwarzen
Hundert feiert ihre Orgien nicht nur innerhalb Rußlands, ſie beraubt,
ſfie zerſtört, ſie erwürgt die Bevöllerung Galiziens. Die Bourgeoiſie
ſchwelgt im Vorgeſchmack der Gewinne, die ihren Taſchen mit der Ein⸗
nahme der Dardanellen zufließen würden, was wie es ſchien eine Frage
der naͤchſten Zukunft ſein würde. Der Liberalismus faällt noch demon⸗
ſtrativer vor dem Zarenthron auf die Knie. Die Demokratie ſchweigt.
Die Kontrerevolution wũtet mit noch größerem Zynismus.“ —
Auch während dieſer Zeit konnte natürlich von irgend welchen revolutionären
oder Arbeiterbewegungen nicht die Rede ſein. Im Gegenteil, wir ſehen, wie
ſogar die größten Feinde des Zarismus, Leute mit ausgeſprochen revolutionärer
Bergangenheit, verſeucht von den Ideen der Ententepreſſe, die Deutſchland als
den internationalen realtionaͤren Popanz, als Feind jeden Fortſchritts hinſtellt,
den imperialiſtiſchen ruſfiſchen Regierungsideen verfallen. Vera Fiegner und
Burzew ſind gute Beiſpiele für dieſe Strömung. Sie kehren aus ihrem Pariſer
Aſyl zurück, um fi) dem Vaterlande zur Verfügung zu ſtellen, ohne die wirk⸗
lichen Tendenzen der zariſchen Regierung zu erkennen, die den Heimgelehrten
in den ruſſtſchen Gefängniffen und in Sibirien einen warmen Empfang bereitete.
In Paris gab es eine Menge revolutionärer Ruſſen, die zwar nicht heim⸗
kehrten, aber ſich der franzöſiſchen Regierung halb gezwungen halb freiwillig
zur Verfügung ſtellten. Von den unmenſchlichen Leiden, denen ſie in der
franzöfiſchen Fremdenlegion unterworfen wurden, legt eine Veröffentlichung der
ruſſiſchen Emigrantenkolonie Zeugnis ab. Wo fie nicht im Schutzengraben⸗
kampfe den Tod fanden, da bereitete ihnen die Kugel der franzöfiſchen Freunde
den Untergang. Bugende von den ruffifchen Freiwilligen find von franzöfifchen
Standgerichten wegen angeblicher disziplinarifcher Vergebungen ohne eigentlichen
Ürtellsfprudd zum Tode des Erſchießens beitimmt und hingerichtet worden.
1*
:4 "Redoltitionäre Strömmmgen in Rußland
Mit“einem iromifhen Hechrufe auf die franzöfiihe Yreiheit — auf das “Ybol,
für :das fie als Ndealiften in den Kampf gegangen waren, — ftarben bie
beberzteften diefer Enttäufchten unter den franzöfiien Kugeln. Der Appell an
das franzöfiide Parlament, den ihre Brüder in Paris verfaßten, verhallte ohne
Cho, weil e8 die Zenjur des freibeitliden Srankreich fo für gut hielt. Wie
hätte au) das Belanntwerden dieſes Proteftes zu dem Phrafenfhwall von
dem edlen Kriege des freiheitlichen und demofratiichen Frankreich und Englands
gepaßt! Begreifen aber fann man ben Schreden und ben Abicheu, der bie
legten no in Paris zurüdgebliebenen rufflihen revolutionären Emigranten
-erfaßte, al der Abgeorbnete Galli in der Barifer Munizipalität den Antrag
einreichte, daß alle in Frankreich lebenten Untertanen der Allierten Franfreichs
entweder nad) ihrem SHeimatlande abgejchoben oder zum Dienfte in der
franzöfifden Fremdenlegion gezwungen werden follten. Das Betfpiel von
Burzew, von W. ©. Dchotsli, der nah NRukland zurüdgelehrt wegen eines
neun Jahre zurüdliegenden politiichen Vergehens in das Ismailowſche Ge⸗
fängnisS geworfen wurde, das von Germanow-Morofom, ber troß feiner
Propagandatätigfeit für die Regierung zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt
ward, und das 208 ihrer Genoffen in der franzöfiiden Fremdenlegion ſchwebte
vor aller Augen. — Unter bem Drude der ruffihen Botfchaft in Paris hatte
man in Frankrei die Scham verloren, das Bündnis bis zur Nachahmung
der ruffiihen Regierungsmethoden zu treiben. Nur wenige einfichtige Franzofen,
3. ®. der Philologe Meillet hatten es offen auszufpredhen gewagt, daß bie
innere ruffifhe Politit „eine Duelle für die moralifhe und materielle Schwäche
ber Allierten Rußlands bedeute.“
Das dritte Stadium bes Krieges brachte die ungeheuere Ummälzung nicht
nur der äußeren Sriegslage, fondern des inneren ruffiihen Lebens. Es fällt
Lemberg und Przemysl, e8 fallen die ruffifchen Feftungen. Die Völlerwanderung
der Flüchtlinge beginnt. ch zitiere wieder den „Soztaldemofrat“ :
„Die Reaktion verliert den Kopf. Es beginnen SYntrigen zwifchen
einzelnen einflußreichen Kliquen der Krtegspartei. „Das Vaterland tft in
Gefahr". ES erfolgt „die Mobilifation der Imduftrie” und die Mobili-
fation der Kräfte der Gefelihhaft . .. . Kongrefie, Neben, Refolutionen,
Zelegramme, Komitees, Deputationen. Gutfhloff tft faft Diktator,
Miljuloff und Schingarioff faft Minifter.“
Die Regierung, die zuerit die Zügel der Regierung am Boden fchleifen
läßt, mat eine zeitlang Miene, dem empörten VBollswillen nadhzugeben. Einige
Minifter werben entlaffen, Kommifflonen „zur Verteidigung des Landes“ und
zur Organifierung besfelben eingefebt, in denen Leute der Gejellihaft mit
Bürofraten zufammen tätig find. Diefe Herrlichleit dauert aber nicht ange.
@3 beginnt der Kampf der Regierung mit den Gutfchfoff und Lwoff. Die
Duma wird aufgelöfl. Dem Blod der Linken, der fid) gebildet hatte, find in
Goremylin und EChmoftom zielbewuhte Gegner entitanden. Yn diefem dritten
Revolutionäre Strömungen in Rußland
—
Stadium des Krieges beginnen ſofort Bewegungen unter den Arbeitern. Vom
März ab ſehen wir faſt in jedem Monat große Streiks der Arbeiter in den
Induſtriezentren. In Petersburg findet im April ein Sympathieſtreik zum
Gedachtnis de Lengereigniſſe ſtatt, im Mai ſtreilen 856000 Arbeiter, im Juni
ſetzt der Streik der Metallarbeiter ein. Juni und Juli ſind die beiden Monate,
da die Streilbemwegung im ganzen Reihe am umfangreichften tft, und teilweife
ausgeiprodhen regierungsfeindlicden Charakter annimmt.
Die Streits der Tertilarbeiter in Koftroma im Junt haben zu ber be-
fannten SInterpellation in der Duma geführt (Dumaverhandlungen vom
8./21. Auguft). In ihrem Verlauf waren Zufammenftöße zwifchen der Polizei
und den Arbeitern vorgelommen, die zur Erfchießung von ungefähr 1.4 Arbeitern
und zur Verwundung einer Menge anderer führten. Maffenarrefte folgten.
Wie die Ereigniffe von Koftroma auf das ruffiiche Volk wirkten, davon gibt
bie Mebe des ertrem reiten Abgeordneten, Grafen W. A. Bobrinsy, aus
Anla& der damaligen Snterpellation einen guten Eindrud:
„Dan flägt uns eine Ynterpellation über die traurigen Ereigniffe vor,
die vor mehr als zwei Monaten paffierten. Die Regierung hat Zeit
genug gehabt, alles aufzullären und fi auf eine Antwort für heute
vorzubereiten. Über biefes traurige Ereignis hat man fchon öffentlich
in Moskau auf ‚dem Kongreß gefproden. Die Regierung follte keinen
Zweifel darüber haben, fie follte verjtehen, daß die Ereigniffe in Koft-
oma einen traurigen Widerhal in ganz Rußland finden und viele
erregen. Sie follte hier erfcheinen und uns erflären, weldhe Umftände es
notwendig machten, auf die Menge zu fchießen, und, wenn foldhe nicht
vorhanden waren, welde Ihaßregeln zur Beftrafung der Schuldigen er-
griffen find. Statt defien bat es die Regierung, von ihrem formalen
Redhte Gebraud) machend, nit einmal für nötig gehalten, hier zu er-
feinen. Schlecht verfteht die Regierung ihre Pflichten in ber gegen-
wärtigen fhweren Minute, wenn fie fi) auf ihr formelles Recht ftübend,
biefem Ereignis gegenüber teilnahmsIos verhält.”
Koftroma findet bald Nachfolger in Mostau und Imano Wofnefjenst.
Genaue Nachrichten über diefe Streil3 haben wir nicht. Wenn man ber ruffi-
fihen foztaliftifchen Preffe trauen darf, gab es bei den Moslauer Unruhen im
uni 20 Tote und Verwundete, in Iwano Woſneſſensk im Juli 100 Tote und
40 Verwundete. Der lebtere Streit fcheint politiihen Charakter gehabt
zu baben. Nach den Berichten der fozialiftifchen Zeitungen ift man mit
Tahnen unter Abfingen revolutionärer Lieder umbergezogen und bat die Zofung
ausgegeben: „Fort mit der Regierung, allgemeine Amnejtie etc.“
Damit fcheint aber auch die Streifbewegung ihren Höhepunkt erreicht zu
haben, ohne daß fie allerding3 ganz abgeflaut hat. Denn in Petersburg haben
wir wieder Proteftitreil8 gegen das Urteil von Ywano Woinefjenst. Eine
größere Streifmelle gebt ferner bei der Auflöfung der Duma duch Land.
6 Revolutionäre Strömungen in Rußland
Nah dem „Spzialdemoktat” ftreilten in Petersburg 150 000 Arbeiter, in
Kifhny 25 000, „große Streils fanden ferner ftatt in Eharlow, Moslau und
Jelaterinoslaw.“
Zur Zeit hören wir nichts von Streils oder von offener Auflehnung
der Arbeitermaſſen gegen die Regierung. Der Kampf iſt jetzt auf ein anderes
Gebiet übertragen: auf das Gebiet der Organiſation.
Ich muß hier etwas weiter ausholen, um bdiefe Phafe verftändlich zu
maden. Die ruffiide Sozialdemokratie, die im Bergleich zur wefteuropäifchen
verhältnismäßig jungen Datums ift, ift nicht feitgefügt. Ste befiht zunächſt
feine Sefamtorganifation, die fi über das ganze eich erftredt, fondern in
der Art der Drganifation, die gewiffermaßen einer möglichen biftoriichen Ent-
widlung vorauseilt, fpiegelt fie den Nationalitätendharafter des ruffihden Reiches
wieder. Ta gibt es, ganz abgefehen von der volllommen betfeite ftehenden
finnifden Soztaldemofratie und den Sozialtevolutionären, — eine polnifche,
eine ufrainifche, eine Laufafifche, eine lettifche, eine jüdiiche ſozialiſtiſche Dr⸗
gantjation, die alle volllommen felbjtändig find und felbftändig handeln. Die
polniſche und jũdiſche DOrganifation fpielt in diefem Kriege feine befondere Nolle
mehr, da ihr Wirkungskreis hauptſächlich die vom deutſchen Heere beſetzten
Gebiete waren. Die Fraktion der Trudowili mit Kerensky an der Spitze, die
auch in gewiſſer Weiſe Arbeiterintereſſen vertritt, iſt organiſatoriſch von der
Fraktion der Tſcheidze und Tſchenkeli in der Duma geſchieden. In der Fraktion
ſelbſt iſt keine Einheit vorhanden, es haben ſich dort ſchon vor Beginn des
Krieges ähnlich wie früher in unſerer Sozialdemokratie zwei Tendenzen heraus⸗
gebildet, die ſogenannten Maximaliſten (Bolſchewili) und die Minimaliſten
(Menſchewiki, Liquidatoren), die letzteren unſern Reviſioniſten vergleichbar.
Außerdem ſpielen in der ruſſichen Sozialdemokratie auch die Emigranten, die
in Paris, New York, Genf ſitzen, und in denen zum Teil gerade die Intelligenz
des ruſſichen Sozialismus verkörpert iſt, eine Rolle.
Es iſt außerordentlich ſchwer, aus dieſen verſchiedenen Gruppen und
Einflüſſen fich ein klares Bild über die Tendenzen zu machen, die im gegen⸗
wärtigen Augenblick die ruſſiſche Arbeiterſchaft erfüllen, noch dazu, im Zeitalter
der ſtrengen ruſfiſchen Zenſur, beſonders da dieſe Tendenzen keineswegs ſich
über das ganze Reich erſtrecken, ſondern in jedem Induſtriezentrum ganz ver-
ſchieden find.
Wir wiſſen ſelbſt nicht genau, wie ſich die Dumafraktion zum Kriege
ſtellt. Es iſt jedem, der ſich mit den Verhältniſſen des ruſſiſchen Sozialismus
nach dem Kriege beſchäftigt hat, belannt, daß ſich unter der Einwirkung der
Kriegsereigniſſe zwei extreme Richtungen im ruſſiſchen Sozialismus bildeten,
die aber nicht ſo ernſt genommen werden ſollten, wie man es bei uns ge—⸗
wöhnlich tut. Es find das die Porafhenzy, eine Gruppe um Lenin herum,
die in der Niederlage (porashénie) des Vaterlandes das Heil des ruſſiſchen
Sozialismus fieht, alſo alles zu fördern ſucht, was dieſe Niederlage herbei⸗
Kevolutionäre Strömungen in ARußland 7
——
führen Tönnte*). Ahnen fteben gegenüber die Dboröncy, die für die Bere
teidigung des Baterlandes (oboröna) unter allen Umftänden ihre Dtithilfe nicht
verweigern wollen. Die Anwälte und geiftigen Führer bdiefer Gruppe find
ebenfalls Emigranten, hauptfähli Plehanow, Alerinffy in Paris und Deutfch
in New York. Burzem, der nad langem Hin und Her begnadigt worden ift
und dem man den Aufenthalt in Petersburg geftattet Hat, wird man jeht wohl
ebenfalls zu diejfer Gruppe rechnen dürfen, wenn er nicht von der ruffifchen
Dchrana gewonnen ift.
3b möchte zuerft von Pledanom ein paar Worte fagen. Das von ihm
zufammen mit Bjelouffiow, Alerinsty, Frl. Deutih, Yda Arelrod und anderen
herausgegebene Manifeft vom 10. September 1915 ift befannt. Es ift in
vollem Wortlaute abgedrudt in der von Alerinsiy in Paris herausgegebenen
Zeitung „Rossija i Swaböda“ (La Russie et la Liberte) Nr. 3 und wird
Nummer für Nummer in der von Plehanom neugegründeten Zeitung „Prisyw“
(l’Appel) erläutert und popularifiert. Don feinen Urhebern wird es als ein
grundlegender Beihluß der beiden Parteien der ruffiiden Sozialdemokraten und
der ruffifhen Soztalrevolutionäre bezeichnet und als folder von der ruffifchen
und Ententeprefie wiedergegeben. Das ift falih. Die Partfer Emigranten
batten feine Autorifatton, für die Parteien zu fprehen. Das Manifeft ift denn
au) fofort von der Auslandsgruppe der rufftiden Sozialrevolutionäre (3. R.
P.S.NR = BZentrallomitee der Partei der Sozialrevolutionäre) abgelehnt
worden. Der ablehnende Beihhluß ift abgedrudt in Nr. 25 (87) der in Genf
eriheinenden Wochenichrift Shisnj (La Vie), die fih in ihrem Leitartifel für
die Revolution sans phrase ausfpridt. Auch die in Paris erfcheinende „Nashe
Slowo“ (Notre Parole) bat fi gegen Plehanow geäußert.)
Plechanows Gedanlengang tjt etwa folgender: „Wenn Deutichland ger
winnt, wird Rußland eine ungeheuere Staatsfhuld haben, Deutichland mird
eine gewaltige Kriegstontribution fordern und Rupland wird Deutjchland äfo-
nomif) tributpflichtig fein. Uber weiter. Das alte Dreifatferbündnis wird
von nenem wiebererfiehen und es wird ber Hort ber Reaktion werben.
Der ruffifde Arbeiter wird die Folgen davon fomwohl ölonomifh mie politifch
tragen müfjen, „denn Rußland gehört nicht dem Zaren, fondern dem arbeitenden
ruffiihen Volle. Wenn das Boll Rukland verteidigt, fo verteidigt es fich felbft
und die Sadıe feiner Befreiung“. Man fage, daß Maklakow und Schtſcheglowitow
bereit gemwefjen feien, den Frieden mit Deutfhhland zu fehliefen. „Wenn das
nit wahr ift, jo tft e8 gut erfunden, denn eine Niederlage Deutichlands wäre
die Niederlage des den Reaktionären jo teueren monardiichen Prinzips”. eder
revolutionäre Putfch arbeitet dem äußeren Feinde in die Hände, tft alfo Verrat
am Baterlande. 3 ift die Pflicht jedes Arbeitervertreters, „nad Möglichkeit
an der Arbeit nicht nur der fpeziellen technifhen Drganifationen für die Be-
*) Ihre Devife ift: porashenie — mensheje zlo, die Niederlage ift da& Fleinere Üibel.
8 Revolutionäre Strömungen in Rußland
———
durfniſſe der Armee (Kriegsinduſtriekomitee u. a.) teilzunehmen, ſondern auch
an allen anderen Organiſationen geſellſchaftlichen und politiſchen Charakters“,
vor allem an der Duma. „Die Lage iſt ſo, daß wir zur Freiheit nicht anders
als durch das Mittel der nationalen Selbſtverteidigung kommen können“. —
Man fieht, welche Rolle in dieſem Manifeſte der alte Wahn ſpielt, daß
Deutſchland die Stütze und der Hort der Realtion in Europa iſt. Es iſt das
ein Glaube, der nicht nur dem ganzen liberalen, ſondern auch dem ſozialiſtiſchen
und revolutionären Rußland eingeimpft iſt. Das Geſpenſt des Separatfriedens
mit Deutſchland, den die beſitzenden Klaſſen im Falle des Überwiegens der
Richtung der Poraſchenzy auf Koſten der Arbeiterklaſſe angeblich zu ſchließen
beabſichtigen, iſt eines der Schreckmittel, die in jeder Nummer des Priſyw der
Arbeiterllaſſe vorgehalten werden.
Das Manifeſt des Plechanows haͤtte ſicherlich in Rußland einen noch
größeren Eindruck auf die Arbeiterſchaft machen müſſen, wenn die entgegen⸗
geſetzte Richtung, näͤmlich die des Lenin, die es kritiſierte, einen ausgeſprochenen
Anhang gehabt hätte. Denn die Umſtände für das Manifeſt waren außer⸗
ordentlich günſtig. Rußland war ein Land, in das der Feind eingefallen war,
das jetzt nicht mehr einen Angriffs⸗, ſondern einen Verteidigungskrieg führte.
Wie viel leichter war es, die Geſichtspunkte des Manifeſtes den Arbeiterklaſſen
deutlich zu machen als damals, da die zariſchen Waffen noch ſiegreich waren?
Und die Leninſche Richtung, die ausdrücklich auf die Niederlage der ruſſiſchen
Waffen hinarbeitet, hat gewiß etwas Unnatürliches das ſich gut widerlegen ließ.
So einfach aber lagen die Verhältniſſe denn doch nicht.
Zunächſt wurde von den Arbeitern alles, was zur Zuſammenarbeit mit
der Regierung aufmunterte, mit doppeltem Mißtrauen begrüßt, je realtionaͤrer
die Regierung der Chwoſtow und Goremylin wurde, und je näher eine andere
Moͤglichkeit rückte, naͤmlich die, doch noch einmal mit der Bourgeoiſie für eine
zweite ruſſiſche Revolution gegen die Regierung zuſammen zu arbeiten. Je
größer nämlich die Spannung zwiſchen Regierung und Bourgoiſie wurde, um
fo wichtiger wurde es, bereit zu ſein für alle Fälle. So war vielfach die
Stimmung.
Einen ſolchen Stimmungen am beſten entſprechenden mittleren Standpunkt
— weder für die Poraſchenzy noch für die Oboronzy — hatten bisher ſchon
manche maßgebenden ſozialiſtiſchen Vereinigungen in Rußland eingenommen,
wobei natürli auch der Gefichtspunkt der Parteitaltik eine große Rolle ſpielte.
Die Menſchewikli hatten immer die Loſung ausgegeben, daß die ruſſiſche Ar-
beiterpartei aufhören müſſe, ſich durch Hazardſtreils zu entnerven und der
Regierung nur Waffen in die Hand zu geben, daß vielmehr die Lage der
Arbeiterſchaft eine opportuniſtiſche Politik erfordere.
Das Verhalten der Dumafraktion zu den beiden Extremen iſt nicht ganz
klar. Es ſcheint aber, daß ſie zunächſt noch Plechanow gegenüber eine ab⸗
lehnende Rolle einnimmt, da noch nicht vor allzu langer Zeit der Deputierte
Revolutionäre Strömungen in Rußland 9
— — — — —— u nn —
Manjtom wegen äbnlicher been aus der Dumafraltion ausgefchloffen worden
ift, daß aber doch Tendenzen in ihr vorhanden find, die fih Plehanomws Leit-
fügen nähern. Die Haltung der paar Fraltionsmitglieder hat aber lange nicht
die Bedeutung wie bei ung. Es kommt in Rußland auf die Haltung der
Arbeiter, der Gruppen und Drganifationen, in denen fie zufammengefaßt find,
felbft an. Dabei ift Yolgendes zu bemerken.
Das Drganifationstomitee der ruffifchen Sozialdemokratie (D.8.S.D.R.B.),
die Vertretung des Menfchewili — au Dfiften genannt —, die immer einen
Iiquidatorif den opportuntftiiden Standpunft verfolgt haben, tft mit einer eigenen
VBroflamation aufgetreten, fie ift in der vom auswärtigen Seltetariat heraus-
gegebenen Zeitfehrift „Die Internationale und der Krieg" abgedrudt und be
ginnt mit den Worten:
„Senofien! Im Feuer des Weltkrieges, das unfer Land ergriffen
hat, find alle widerlichen Eiterbeulen unferes aftattfhen Regimes offen
zu Tage getreten... . . Das alte Regime, das mit feiner Bebrüdung
ganz Rukland verfendit bat, bringt Zerjebung und Tod mit fi .
Hit es nicht ein verräterifher Stoß in den Rüden, wenn im Moment
der Kriegsgefahr die Regierung die Armee und die dunflen Maflen auf
ganze Nationalitäten bett und einen Teil der Armee gegen den anderen
mobil madt? Wie fol man e8 anders nennen, wenn im Augenblid,
wo die Geihide des Landes entfchieden werden, wo die Anfpannung
aller Energie nötig ift, die Regierung das Land an Händen und Yüben
feffelt? Der ärgfte Feind Nuplands Tönnte nichts fchlimmeres für das
Land erfinden als die Goremylinfhe Regierung.“
Sodann folgt ein Abriß der Zätigfeit der Regierung gegen die Juden,
eine Beichreibung der Greigniffe von Koftroma und Iwano Wofnefjenst, der
Urteile der Feldgerichte und der bürgerlichen Gerichte gegen die Arbeiterflaffe.
&3 wird aud) bier der Abficht der reaftionären Klaffen gedacht, einen Separat-
frieden zu fchließen. Dann heißt e8 weiter:
„Das Land ift am Rande des Abgrunds! Seine Errettung fordert
vor allem den Sturz der gegenwärtigen Regierung. rn der fi) vorbe-
reitenden Revolution foll das Proletariat den Plat der Avantgarde der
Demokratie einnehmen. Der Sturz der zarifhen Regierung, des alten
Feindes des ruffiihen Volles muß fi in dem fchwierigen Augenblid des
Eindringens der fremden Heere vollziehen, wo auf den Schladitfeldern
das Blut der Böller fließt und die Gefchide des Landes und ganz
Europas fi entfcheiden.”
Dazu gehört, fo wird weiter ausgeführt, ein klares revolutionäres Be⸗
wußtien. Die Bemühungen der Reaktion, daS Boll gegen die Armee auszu-
fpielen, müßten bintertrieben werden. Kleine revolutionäre PButihe uud Aus-
drüdhe des Unwillens, die gegenwärtig unvermeidlich feien, dürften doch nie⸗
mals die große Fdee der gefamten revolutionären Erhebung „zeritäuben“ Iaffen.
10 Revolutionäre Strömungen in Rußland
„Deswegen tft die zielbewußte Aufgabe des felbftbewußten Proletariats
im gegenwärtigen Augenblid die möglichft breite Organifation der Arbeiter-
maflen . . . Zu biefem Zwede müfjen alle Mittel der Klafjenorganifation,
wie 3. 3. die Wahlen in die Krieginduftrielomitees, Ylüchtlingslomitees,
profeffionelle Verbände, SKorperativlaffen, Arbeiterdelegationen uf. aus»
genußt werden!
Man fieht bier mit einem Blide die Verfehiedenheit der Auffafiung der
Däiften im DBergleih mit der Stellung der Pledanom und Genofjen. Hier
wird Mar verlangt, daß der Moment ausgenugt werden muß, um die Regierung
zu ftürzen, um die Revolution herbeizuführen, daß aber zu dieſem Zwecke vor
allem eine große Drganifation zu fchaffen ift und unter Umftänden aus
taftifhen Gründen die Wünfchhe der Regierung in Bezug auf die Wahlen von
Arbeiterbeputierten für die Striegsinduftriefomitees erfüllt werden follen. Da
die Drganifation des D. K. in Rußland weite Verbreitung bat, fo find biefem
Standpuntt viele Anhänger gefiddert, um fo mehr als fon ein großer Zeil
der ruffliden Sozialtften vor dem Aufrufe foldden Ideen huldigte.
Bon diefem Gedankengang aus betrachtet erhalten wir größeres Licht über
zweierlei Vorgänge im ruffiichen politiihen Leben der Gegenwart. Cinmal
gewinnen wir ein gemilfes DVerftändnis für die Chowſtowſche Bolitil des
Wiederzurüdbämmens ber gejellichaftlicden Selbitorganifation, für fein Beftreben
3. DB. die Berforgung der Flüchtlinge in die eigene Hand zu nehmen, feinen
Kampf gegen die Kooporativgenofjenichaften, gegen die Ausbreitung der Semftwo-
tätigleit. ®r betrachtet offenbar alle diefe Organifationsbeftrebungen als be-
wußte Organifation der Gefellihaft für Die große Abrechnung mit der Regierung
— und will diefe unbedingt hindern.
Zweitens erhalten wir den richtigen Gefichtspunkt für die Beurteilung der
Haltung der Arbeiter bei den Wahlen ihrer Vertreter zu den Kriegsinduftrie-
fomttee8 in Petersburg und Mosktau. —
sn Petersburg, wo zuerjt, wie wir wifjen, die Arbeiter in überwiegender
Mehrzahl eine Teilnahme an den Wahlen abgelehnt haben, find die erhält.
niffe nicht jo einfach zu überjehben. Hier batten von jeher nicht die Dfiften
(Menſchewiki) die Majorität, fondern die Anhänger des Boljchewili, die in
dem fogenannten PB. K., dem Petersburger Komitee, vereinigt waren. Das Zahlen-
verhältnis der beiden Gruppen wird von fozialiftifehen Blättern als 1200 zu
200 angegeben, doh jcheint bier die Majorität für die Bolfchewili als viel
zu groß bemefjen zu fein. BZmilchen diefen beiden Gruppen fteht eine dritte,
die der fogenannten Obedinjenzy oder Primirenzy, die für eine Ginigung
zwifchen allen Gruppen der Partei eintreten. Xroß der großen Anbängerfchaft
der P. 8. tft die Organijation wenig mächtig und nicht reich, zubem verfügen
die Menfchemwili, die Dfiften, über fehr viel Intelligenz, die bei den PB. R.
volftändig fehlt. Bei den erften Wahlen von Arbeitervertretern für bie
friegswirtichaftlihen Komitees jprachen fich die Wahlmänner von 90000 Arbeitern
Wevolntionäre Strömungen in Rußland 11
gegen, bie von 80000 für bie Entjendung von Deputierten zu ben Komitees
aus. 52000 Arbeiter waren von vornherein für den vollftändigen Boyfott ber
Wahlen. Die Wahl von Arbeitervertretern lam aber nicht zu ftande, und
zwar trotz Plechanowſchen Aufrufes. „Naſche Slowo“ betont als beſonders
merkwurdig bei dieſen Wahlen, daß die Loſung zum Boykott diesmal von
den Menſchewili ausgegangen war, die doch nah ihrem Aufruf für bie
Organifation waren, und daß auch im übrigen die theoretiſchen Loſungen nur
eine geringe Rolle geſpielt haben. Das komme daher, weil einerſeits bei den
Menſchewili ſelbſt die Gemuter noch ſchwanken, andererſeits daher, „daß unter
den Wahlmannern revolutionäre Narodniki und parteiloſe Arbeiter⸗Revolutionäre
fich befanden, auf die die Sozialdemokraten Rüdfiht zu nehmen hatten.
Bei der Wiederholung der Wahlen in Petersburg, die die Regierung auf
Initiative von Gutſchkow angeordnet hat, ſcheint man eine Majorität für
Entſendung von Vertretern in die Komitees erzielt worden zu ſein. Genaue
Nachrichten darüber liegen nicht vor. Es iſt jedoch anzunehmen, daß bei dieſer
Haltung der Arbeiter leineswegs Plechanowſche Ideen, ſondern lediglich Ideen
der Organiſation entſcheidend find. Dies beſtätigt eine Notiz der Nowoje
Wremja, die trotz ihrer abſichtlich dunkeln Faſſung erkennen läßt, daß bei der
erſten Tagung des Komitees die Arbeitervertreter ſofort mit politiſchen Forde⸗
rungen hervorgetreten ſind, und daß Gutſchkow vergeblich verſucht hat, ihnen
den eigentlichen Zweck der Arbeit des Komitees klar zu machen.
In Moskau hatten von vornherein die Kadetten unter Führung von
Rjabuſchinsky Einflußnahme auf die Arbeiterwahlen zu nehmen verſucht. Man
hatte Vorwahlverſammlungen überhaupt nicht zugelaſſen, ſodaß die 90 Arbeiter-
vertreter, die zu den Wahlen erſchienen, die Stimmung ihrer Wähler garnicht
kannten. Rjabuſchinsky ſprach auf die Arbeiter in dem Sinne der Plechanow'⸗
ſchen Ausführungen ein, alle Proteſte der Arbeiter, daß er bei den Wahlen
nichts zu tun hätte, fruchteten nichts. 22 Arbeitervertreter entfernten ſich unter
Proteſt. Es ſcheint auf der Straße zu ziemlich heftigen Zuſammenſtößen ge—
fommen zu fein. Schließlich fand die Wahl der Arbeitervertreter von den Zu—⸗
rückbleibenden ſtatt. Aber dieſe Abſtimmung gibt auch kein klares Bild, wenn
man nicht berückſichtigt, daß ſich an den Vorwahlen der Wahlmänner von
89948 Arbeitern überhaupt nur 45987 Arbeiter beteiligt haben, daß davon
auch noch etwa 7000 Wahlzettel unausgefüllt oder abſichtlich falſch ausgefüllt
abgegeben wurden, ſodaß man rechnen kann, daß mehr als die Hälfte der
Moskauer Wähler durch ihre Haltung ſich für den Boykott der Wahl aus⸗
geſprochen hat.
Die wenigen, die gewählt haben, werden es ſicher im Sinne der Organi⸗
ſation und nicht im Sinne der Plechanow'ſchen Auffaſſung getan haben.
Wie verhalten ſich nun alle die Elemente, die von opportuniſcher Organi⸗
ſationsarbeit nichts wiſſen wollen? Sie ſind vollſtändig von revolutionären
Ideen erfüllt. Auch da gibts wieder verſchiedene Strömungen, auf die ich nicht
12 Revolutionäre Strömungen in Rußland
näher eingehen will. Auf einer Seite ertönt der Schladtruf: „die Revolution
um bes Sieges willen“, wobei eine vorausihauende Phantafie alle Phafen der
Revolution, des ruffiihen Staatsbankrotts, der bewußt herbeigeführt werden
wird, und eines zweiten Kampfes gegen das realtionäre Deutihland, jebt fhon
ausmalt, — auf der anderen Seite hören wir: „die Revolution um der Revo⸗
Iutton willen“. Doch das find vielfach Philofophien der emigrierten Intelligenz.
Die Flugblätter der Arbeiterfchaft jelbft find derber und vollstümlicder. Sie
find mit echt revolutionärem Geilte erfüllt. Da beikt e8:
„Aber werben wir, ruffiide Arbeiter, wirllih jo dumm fein, um auf
ihre (der ruffiiden Regierung) Lügenhafte Behauptungen hereinzufallen
(daß der Feind des ruffiichen Volles die Deutfchen find?). Werden mir
unfere eigene Sade um ihrer Sache willen vergefien? Nein, wenn wir
Ion fterben müffen, dann wollen wir für die Sache des Volles fterben
und nicht für die der Nomanoms und der Adligen vom Schwarzen Hundert“.
Die Flugblätter wenden fi an die ruffiihen Soldaten:
„Wenn die Revolution auflodert, fo erinnert Euch, Ahr Brüder
Soldaten daran, daß Euer Pla nicht gegen uns, fondern mit uns ift“.
Sn den fpäteren beikt es ausdrüdlidh:
„Richt fern mehr ift der Dioment der nabenden ruffifchen Revolution... .
Weg mit ber Selbitherrfhhaft. E8 Iebe die zweite ruffiihe Revolution!" —
Wir fehen alfo, Symptome für die revolutionäre Stimmung der ruffiihen
Arbeiterfchaft find reichlich) vorhanden.
Andererfeit8 wird die Stimmung der Arbeiterfchaft folange feine ausfchlag-
gebende Rolle fpielen lönnen, als die Bourgeoifte immer no) auf den Schlacht.
ruf „alles für den Krieg“ eingefhworen ift, als die Armee bei der Stange
bleibt, wa8 fie nach allen Berichten noch tut, und als das Dorf fih nicht
offen zur Revolution befennt. Wie die Stimmung dort ift, wiflen wir nicht.
Nah den Berichten der fozialiftifchen rujfifchen Blätter, die nicht ohne weiteres
Autorität für fidh beanipruchen können, ift He jchledht. Die Revolutionäre fuchen
für ihre Jdeen durdh die Lofung: „Konfistation der Ländereien der Gutsbefiter
zu Gunften der Bauern” Stimmung zu maden, wie fie behaupten, mit Erfolg.
Eines fteht jedenfalls feit. Nubig ifts in Rußland Teineswegs. ES brodelt
in den Tiefen, und es liegen dort Symptome einer fpäteren Zerfeßung vor,
die au) bei uns volle Beadhtung verdienen. Wir dürfen, wenn der Stand
der Dinge fo bleibt, wie er ift, mit einer baldigen Revolution in Rußland
nicht rechnen, werden aber gut tun, den Gang ber Dinge weiter mit der Auf-
merlfamleit zu verfolgen, die er verdient. ine einfchneidende Veränderung
der Kriegslage, die Yortlegung der ftrammen und gemaltfamen reaftionären
Regierungspolitif, eine Schwenkung der bürgerlichen Parteien, können ber inneren
ruffifhen Lage diejenigen Wendungen geben, die allerdings unter Umftänden für
ihr Gleichgewicht verhängnisvoll werden müflen.
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Die gefchichtliche Betrachtung der vergangenen
Sriedenszeit und des gegenwärtigen Krieges
Don Dr. Bans Boldfdhmidt
BZ gewöhnlich fchnell ift dem Hiftorifer für diefen Krieg und feine
a Borgejhichte ein reiches Duellenmaterial zugefloffen. Blaubücher
und Weißbücher der verfchiedenen miteinander Triegführenden
Staaten gewähren ein in hohem Mae einander ergänzenbes,
Ba amtliches Altenmaterial, wie wir e8 für den Krieg von 1870/71
und bie vorhergehenden Jahre diplomatifher Gemitterfehwüle noch heute nicht
befiten. Die ſchwerer als damals erfennbare Urfade des Sriege8 und ber
MRunid der Regierungen, fi von dem Berdbadit, den Krieg leichtfinnig unter-
nommen zu haben, vor den Parlamenten ihrer Länder zu reinigen, hat bieje
Yülle veranlaßt. Der Gang des Krieges hat uns dann in den Berichten ber
belgifhen Gefandten in London und Paris ein Uuellenwerk zur neueften Ge-
fchichte beichert, wie wir es für das 16. und 17. Yabhrhundert in den vene-
tianiſchen Relationen befiten, wie e8 uns aus fo unmittelbarer Vergangenheit aber
no nie aus den Altenfchränfen der Minifterien preisgegeben wurde. Wir
fehen bier fcharffinnige Diplomaten ohne befondere Vorliebe oder Abneigung
für die Beteiligten einen diplomatifchen Kampf beobachten, an dem fie praftifch
nicht beteiligt find, nur die Sorge, daß ihr Staat ein Opfer biefes Kampfes
werden lönnte, leitet ihr Urteil.
rot diefer Neichhaltigfeit bedarf e8 Taum einer Erörterung, daß e8 nodh
Sahrzehnte dauern wird, biß e8 möglich ift, die Dinge nad dem Rantlefchen
Wort wirklich darzuftellen, wie fie gemweien find. Gemäß dem Zwed, für
den fie beftimmt find, weifen die verfchiedenen Farbbücher, te nachdem fich
die Regierung mehr oder minder an dem Krieg fehuldig fühlte, Auslaffungen
und Faliuugen auf.) Sind folde auch auf unferer Seite nicht nötig ge-
wefen, fo ftellt doch Bergfträfier feit, daß aud) das von Defterreih und Deutſch⸗
land publizierte Material nicht lüdenlos ift.**) Unfere nampdafteften Hiftoriler
”) ©. Ludwig Bergfträfler, Die diplomatifhen Kämpfe vor Sriegdaußbrud, eine
Iritifde Studie auf Brund der offigiellen Beröffentlihungen aller beteiligten Staaten, Hiftor.
Ziſchr. Bd. 118, 4. ©. ©. 494, 515 Anm. 1, 518, Anm. 2, 520, Anm. 2, 544 Anm. 2,
6656 Anm. 1, 567, Anm. 2.
"©... ca. 9. ©. 584 Anm. 1, 581 Anm. 2.
14 Die gefhiätlie Betrachtung der vergangenen Sriedenszeit
Haben fi} bemgemäh bisher bamit begitügt, due Sctlberung bez politiichen
Entwidiung Deutfjlands und feiner Gegner unb bes Berhältniffes ber Staaten
jueinanber aufflärend zu wirlen. inter ben von uns befegten Lanbesteilen
ift der Gedichte‘ Belgiens. und bem Problem .feiner Neutralität befondere Be
adtung zuteil geworben. Etwas ander als mit der eigentlichen, biftorifchen
Forſchung fteht es mit der Betrachtung der jüngften Breignifie und bes gegen-
wärtigen Krieges im Nahmen ber Weltgefhichte. Die Ereignifie find fo weit
fortgefchritten, daß e8 dem Hfftorifer allmählich möglich wird fid) vorzuftellen,
in welddem Licht fie fih den kommenden Geichledhtern barftellen werben. Ba-
bei ift zwifden dem Nüdblid auf die Sriegsereigniffe felbft und ber ver-
änderten Anſchauung der voraufgegangenen Friedenszeit zu unterſcheiden.
Ganz außer Betracht muß ſelbſtverſtändlich einſtweilen die militäriſche Geſchichte
des Krieges bleiben. Deſto ſchneller pflegt ihr Material nach Beendigung des
Krieges zugänglich gemacht zu werden, da diplomatiſche Rückſichten hier im
allgemeinen nicht in Betracht kommen. Schon 1872 konnte Max Lehmann in
den Preußiſchen Jahrbũuchern (Band 29 und 30) feinen glänzenden Auffag über
die Schlacht bei Mars la Tour veröffentlichen, der weiteren Kreiſen leider
viel zu wenig belannt iſt.
Die großen Epochen der politiſchen Geſchichte, nach denen wir die Ver⸗
gangenheit teilen, ſind durchweg durch Kriege begrenzt. Die Urſachen dieſer
Kriege ſind junge friſche Kräfte, welche ſich gegen die das Zeitalter beherr⸗
ſchenden Mächte und Strömungen erheben. Je nach ſeiner Stärke und Be⸗
rechtigung dringt dieſes Neue im Krieg ſchließlich durch oder das Alte, durch
den Krieg geläutert und verjüngt, beherrſcht unter neuen Verhaältniſſen weiter
das Feld. Das europäiſche Staatenſyſtem des letzten Zeitabſchnitts baut auf
der Länderverteilung von 1816 auf. Das Emporſtreben neuer Kraͤfte, welche
die Machtverhältniſſe zu verſchieben ſuchten, macht ſich in dieſer Epoche ſehr
bald bemerlbar. Der Boden für die Konflikte war ſchon auf dem Wiener
Kongreß vorbereitet worden, da einmal die natürliche Reaktion gegen die zu
weit ausgedehnten Umwälzungen der napoleoniſchen Zeit die alten Zuſtände
auch dort wieder einführte, wo ſie ſich überlebt hatten, dann in anderen
Fragen die Eiferſucht der Mächte Verlegenheitslöſungen herbeiführte, zu denen
freilich teilweiſe gegriffen werden mußte, weil die Völlker noch nicht reif genug
waren, um das von ihnen gewüunſchte Ziel zu erreichen. So ſehen wir ſchon bald
die Italiener ſich immer wieder erheben, um den nationalen Einheitsſtaat zu
erlangen und ihr Land von der Abhängigkleit von habsburgiſchen und bour⸗
boniſchen Herrſchern zu befreien. 1880 löſt ſich Belgien aus dem Königreich
Holland ab, dem die Eiferſucht der drei Mächte England, Frankreich und
Preußen untereinander dieſe Lande gegeben hatte, welche ſtets weniger nach
einem ſelbſtändigen Staat als nach ſelbſtändiger Verwaltung geſtrebt hatten.
Wieder und wieder ſuchten ſich die Polen von dem ruſſiſchen Joch zu befreien.
Den deutſchen Völlerſtämmen gelang es nach ſchweren inneren Kämpfen, ihren
Die gefchichtlige Betradtung der vergangenen Sriedenszeit 15
obnmädtigen Staatenbund in einen einheitlidjen Bunbesftant zu verwandeln,
der ih fofort die ihm 1815 verweigerten Grenzlande Elfah-Lothringen er-
oberte. Schliekli erftarkten au die Ballanvölter fo, bak e8 ihnen glüdte,
der jahrhundertelang ertragenen türkiihen SHerrfhaft ledig zu werben. Go
große Ummälzungen alle biefe Konfliltte aud für die einzelnen Beteiligten
braditen, vom Standpunkt der europätichen Sefchichte gefehen blieben fie Lokal
beiränft, bereiteten jedoch alle, wie bie gegenwärtigen Greigniffe zum Über
Tiuß beweifen, ben Boben für einen allgemeinen Konflilt vor, ber in feiner
Ausdehnung über Europa in nichts Hinter dem bdreißigjährigen Kriege und
dem napoleonifchen zurüditeht, ja fie noch übertrifft. Dabei ift hervorzuheben,
daß diesmal mit NRüdfiht auf die großen materiellen und Kulturwerte und
die höhere Schägung bes Menichenlebens der Berfud gemacht wurde, den
Übergang von einem Zeitabfehnitt in ben anderen — vom beutidhen Stand-
punkt dürfen wir vieleicht fagen: den Übergang Deutichlands von nationaler
Wirtſchaft zur Weltwirtihaft — ohne einen Krieg zu erreichen und bie
Streitigfeiten auf friedlidem, diplomatiihem Wege auszugleihen. E83 gelang
nit. Als England, die Macht, weldde aus dem Krieg vor hundert Jahren
als ftärkfte See und Handelsmadt Europas hervorgegangen war, filh als
foldde von dem emporftrebenden Deutichen Neich bedroht fühlte, fchlofien fi
Tämtlide Staaten, bie filh Durch die Entwidlung des vergangenen Zeitalter benad)-
teiligt oder bedroht fühlten, beziehungsweife ihre Wünfche nicht erfüllt fahen, den bei-
den Parteien an, in der Hoffnung, unter dem Schuß ber ftärkften Mächte des
Zeitalter8 do ihr Schidfal in dem von ihnen gewünidhten Sinn wenden zu
fönnen. So hoffte Franfreih Elfah-Lothringen wieder zu erlangen, SYtalien
die noch fehlenden Landesteile italtenifder Zunge, Trient und Zrieft, feinem
Königreich einzuverleiben, Rußland die bdiplomatifhen Niederlagen wettzu-
machen, welde fterreih-Ungarn feinem Erpanfionsprang zu verjchiedenen
Malen bereitet hatte Die Türkei hofft durch den Anfhlub an Deutichland-
Dfterreich vor weiterer Verfleinerung gefhügt zu werden, Bulgarien fucht mit
Hilfe der Zentralmäcdhte feine Niederlage im zweiten Balfankrieg zu rächen.
Wir fehen alfo, daB der gefamte Konfliktftoff, welcher durch den Zufammen-
Toluß alter und junger Kräfte und durch die umbefriebigende Löfung terri
torialer Fragen (Belgien, Polen) in den lebten hundert Jahren entitanden
war, mit erftaunlicher Gefchloffenheit in dem gegenwärtigen Krieg feinen Aus-
trag ſucht. Und dieſe Entwicklung der Geichichte von 1814 bi8 1914 ge
ftattet ung wohl jhon jeht zu fagen, daß — wie immer fi) die Dinge au
im Friedensihluß geftalten mögen — alle Vorausfehungen gegeben find, um
Tünftigen Gefchlechtern diefe Zeit als eine geichloffene Epoche der europätichen
Geſchichte ericheinen zu Yafien. Sie ift beberricht von dem Streben der Zöller-
ſchaften, nationale Einheiten zu politiichen zu geftalten.
Aber auch für die deutfche Geihichte wird fie Fünftig eim gefchloflener
Zeitabfähnitt fein. Schon für uns verfchteht fi) das Bild, in welddem wir ben
Es
”
16 Die. gefchichtliche Betradhytung. der vergangenen Sriedenszeil
Krieg von. 1870 bisher ſahen. Er erjdien uns bis jet als Abjchluß der
Kämpfe, welde um die Wieberermedung des alten Deutihen Reichs faft feit
feiner Zertrümmerung geführt wurden. Er wird aud ftetS das Fundament
bleiben, auf welchem das neue Deutſche eich gefhaffen worden tft, aber wir
fund Schon jebt geneigt, die heutigen Kämpfe als diejenigen anzufehen, welche
das damals Gefhhaffene vollenden. Wohl zeigten der glänzende Auffhwung
‚unferer Induftrie, die beifpiellofe Ausdehnung unjeres Welthandels, unjere
foziale Gefeggebung und der Erwerb unferer Kolonien, die aufiteigende Ent-
widlung des Neihs, aber noch hatte e8 feine geographiien Landesgrenzen,
die und einen unferer zentralen Lage entfpredhenden Schu gegen Angriffe
unferer Nacbaren gewähren konnten, und ein gefichertes Wirtichaftsgebiet,
ohne deffen Befis und Nusbarmahung wir mit den anderen Großmädten
nicht fehritthalten Tonnten und in Gefahr gerieten, in die frühere Ohnmadt zu-
rüdzufinfen. Und nicht nur die äußere Bedrohung des Reis, anfangs nur
durch den Revanchegedanken der Franzofen, fpäter durch deflen Verbindung
mit der Vergrößerungsfucht des ruffiihen Neid und fhließlih mit dem Miß-
trauen und der Eiferfudht Englands, wird der Nachwelt den Beitand des neuen
Deutfhen Reichs von 1871 bis 1914 feineswegs als gefichert ericheinen lafjen:
die innerpolitifchen Verhältniffe der jüngft vergangenen Periode mögen fie in
dieſer Anſchauung beftärken. Wir dürfen nicht vergefien, daß noch in dem
Kebziger Jahren der Kulturfampf in dem Tatholifchen Zeil der Bevölkerung
Abneigung gegen das „proteftantifche Kaifertum” wedte und daß außer der
fozialiftifden Partei au da8 Zentrum und der Yinksftehende reifinn der
Neichsregierung bei Heeres- und Flottenvermehrungen und +»reformen die Ger
folgſchaft verſagten. Das heißt, fo wie wir die Dinge beute jehen, dürfen
wir direft fagen: in Griftenzfragen des Neihs. Daß doltrinäre Parteipolitif
in ber fozialdemofratifden Partei im Ernitfal nit den Steg über gejundes
vaterländiiches Empfinden davontragen würde, tft der Welt erit am 4. Auguft
1914 belfannt geworden. BiS dahin lan ihre Verhalten ebenfo wohl als Be⸗
droßung des NeichSbefitandes angefehen werden wie das von verfchiedenen
eljaß-Lothringifchen und polnifhen Abgeordneten, fChon weil e8 unfere Gegner
in ihren Plänen gegen uns beftärkte. Die Ereigniffe von 1870/71 bilden nur
den Abfehluß einer Periode in dem inneren und äußeren Kampf um Deutjch.
lands Stellung als europäifche Großmadit.
Über bie Tätigkeit der biftorifchen Forfcher in den anderen am Srieg be-
teiligten Großftaaten find wir naturgemäß nur für Üfterreih-Ungarn er-
Ihöpfend unterrichtet. Wie der Soldat mit der Waffe hat dort au) der Ge-
lehrte mit der Feder gemeinfam mit uns gearbeitet. Aufſfätze der öfterreich-
ungarifden Hiftoriler find ebenfo in beutfhhen wie in öfterreichifchen Zeit.
f&riften erfhienen; naturgemäß find fie ausfchließlicher den öftliden Problemen
gewidmet. In Franlreid und England find belannte SHiftorifer fchon vor
dem Krieg mit Kundgebungen an die Offentlicyfeit getreten, welche fi von
’
Die gefhichtlihe Betrachtung der vergangenen Kriedensgeit 17
denen chauviniſtiſcher Politiker in nichts unterſchieden. Erneſte Laviſſe, deutſchen
Hiſtoriklern in erſter Linie als der Herausgeber der „Histoire générale du
4° siecle A nos jours‘“ belfannt, richtete ſchon im April 1914 einen Brief
an die „Zimes“, in dem er für die fejtere Geftaltung der Entente cordiale ein-
trat und die elfaß-Iothringifche Frage al8 europäifde und Weltfrage bezeichnete,
Das Schreiben veranlaßte den belgifhen Gefandten in Berlin, Baron Beyens,
laut den befannten Gefandfhaftsberichten zu der Bemerkung, der Brief habe
bewiejen „qu’un bon historien peut fort bien n’etre qu’un pietre écrivain
politique.‘“ In England hielt der ehemalige Cambridger Profeflor 3. A. Eramb
Borträge, die zum Kampf gegen das Friegslüfterne Dentichland aufforderten.
Noch dringender hat übrigens ein neutraler Hiftorifer, der Amertlaner Homer
Lea, befannt durch feine Werle über die Ipanifche Imquifition in dem Bud)
„Ihe day of the Saxon“ 1912 die Engländer ermahnt „to limit the
political and territorial expansion of any European state.“
Rad dem Ausbruch des Krieges betätigte fi) der Vorgänger Delcafies,
der Berfaffer des Lebens Nichelieus und des auch in Deutfchland fehr ge-
Thägten Werfs über den Urfprung der Einrichtung der Provizialintendanten,
Gabriel Hanotaur, als Publizift im „Figaro“ in einer Weife, bie mit fachlicher,
mwifjenfhaftlicher Arbeit nichts zu tun bat, und Henri Welfchinger überzeugte
mit dem Gewicht feiner bHiftorifchen Stenntniffe die Mitglieder der Acad&mie
frangaife mit Leichtigkeit davon, daß Elfak-Lothringen nur zu Frankreich ge-
hören könne. Auf das niedrigfte Niveau, auch franzöfifher Publiziftit, hat fich
Arthur ChuquetS „De Valmy & la Marne 1914/15“ begeben, in dem alle
Märchen über Ermordung unfchuldiger Einwohner mit und ohne Befehl
deutfeher Dffiziere ufw. in glänzendem Stil zu EffatS verarbeitet find; Chuquet
ftudierte in Deutfchland und fhrieb außer einem großen Werk über bie fran-
zöftihen Nevolutionskriege audy über Heinrich von Kleift. E&8 muß überhaupt
hervorgehoben werben, daß e3 in dem vergangenen Jahrzehnten - jehr wohl
Tranzofen gab, welde mit ihrer Tätigleit im politifcden Leben Stenntnis und
Berftändnis für deutfhe Gefchichte für vereinbar hielten: der franzöfiide Senator
MWaddington, Schwiegerfohn des Präfidenten Jules Groͤvy, fchrieb ein be»
actenswertes, zweibändiges Werk über den Großen Kurfüriten; von Savatgnac,
dem Kriegsminifter um die Jahrhundertwende, befigen wir eine Schilderung
Preußens von 1806/13 (La formation de la Prusse contemporaine). @ine
Befonderheit weift die franzöftfche Kriegsliteratur dadur auf, daß ihr Stants-
oberhaupt fi) perjönlicd darum bemüht, gefchichtliche Legenden in Zeitfchriften
zu verbreiten. Noch jüngft hat Herr Poincare in der „Lecture pour tous“
bie Darftellung gegeben, daß im Juli 1914 feinerlet KriegSvorbereitungen getroffen
gemwefen fein. Man braucht fih nur Georges Ohnets „Journal d’un bourgeois
de Paris pendant la guerre de 1914‘ anzufehen, um fi) von der Unmwahr-
beit diefer Angaben zu überzeugen.
Die englifde Literatur über Vorgefchichte und Urfprung des Krieges ift
Grenzboten I 1916 2
18 Die gefchihtlide Betradytung der vergangenen Sriedenszeit
fehr umfangreid. Bon bekannten Gejhihtsforfhern haben fich, foweit e8 mir
feftzuftellen möglich war, an ihr unter anderen beteiligt %.%. Holland Rofe, The
origines of the war; Ramfay Mutr, Britain’s case againstGiermany. Leiftungen
wie Chuquet feinen zünftige Hiftorifer dort nicht vollbracht zu haben, aber vorge-
faßte, falfche Anfichten wie die von einem guten, friedlichen Deutfchland Goethes und
Kants, dem ein fchlechtes, eroberungsfüchtiges Deutichland gegenübergeftellt wird,
befien Gefchichte von Friedrich II. über Bismard, Niegfche, Treitichle zu unjerem
heutigen Herrfher führt, bilden auch hier (fo bei Muir) die Grundlage.
Kundgebungen ruffifcher und italienifcher Hiftorifer feit Ausbruch des Krieges
find mir nit zu Gefiht gelommen. Für die Auffafjung der ruffiihen Gelehrten
ift wohl der belannte in dem preußifchen Jahrbüchern vom Juni 1914 ver-
öffentlichte Brief des Petersburger PBrofeffors der Geihichte, Paul von Mitro-
fanoff, als fymptomatifh anzufehen, in weldjem er den Biftoriihen Urfprung
der ruffiihen Abneigung gegen alles Deutiche darlegt, fie als berechtigt erflärt
und feiner Überzeugung Ausdrud verleiht, daß der Meg nach Konftantinopel
für Rußland nur über Berlin gehe. In Italien famen bi8 zum Kriegsaus-
bruch mit Öfterreih in der Wochenfchrift „Italia nostra“ und im neapolitan-
ifden „Mattino‘“ rubigere Auffaffungen von ttalienifchen Gelehrten zu Worte,
freilich der Erwerb des Trentino wurde auch bier als unerläßlidh erflärt.
Die Gefhichte aller diefer Staaten in den legten hundert Jahren ergibt,
daß der öfterreihiiche Gefamtftant am fehwerften unter den nationalen Be-
wegungen des Beitalters zu leiden hatte. Der italientiche Einheitsftaat brachte
ihm Gebtetsverlufte, aus den deutjchen wurde er ausgeichloflen, und im Innern
hemmten die nationalen Tendenzen feiner Völkerfhaften die Verwaltungsmafchine
in immer bedenfliherem Maße. Das ftabile Element bildete demgegenüber
in der ganzen vergangenen Epoche die gemeinfame auswärtige Politil, welche
es mit einer Turzen Unterbredung von 13 Jahren mit Preußen-Deutichland
führte. Diefem Zufammenfhluß hat ſterreich-Ungarn es zu verdanken, daß
es troß der fehweren, inneren Erjehütterungen eine auswärtige Politik treiben
fonnte, wie fie feinen ntereffen entiprad. 8 tft anzunehmen, daß der gegen-
wärtige Krieg, deffen Gefahren die auseinanderftrebenden Kräfte wieder ver-
eintgte, dem öfterreichifchen Gefamtitant au) da8 Ende bes Zeitalter8 der
Nattonalitätenfämpfe in ihrer bisherigen, zerfegenden Form bringen wird.
Kaum wenigerfhhwerlittdas osmanifche Reich unter den nationalen Beitrebungen.
Die verflofjenen Hundert Jahre waren für dasjelbe eine Zeit ftändigen Gebiets⸗
verluftes. Die lange beitehende Ungeneigtheit des Yslam, abendländifche Bilbung
und abendländiihe Berfafjungsformen anzunehmen, hat e8 verjchuldet, daß es
faft vom europäifhen Boden vertrieben wurde. Als fchlieglihd 1908 bie
jungtärfifide Revolution den reaktionären Sultan Abdul Hamib vertrieb und
eine Verfaffung burchfeßte, Tonnte fie den erfolgreichen Überfall Staliens umd
ber Ballanvölker nicht mehr verhindern, fondern befchleuntgte ihn fogar, weil
jene fürdteten, einer erftarkten Türkei bie begehrten Gebiete nicht mehr ent-
Die gefchichtlihe Betradhtung der vergangenen Sriedenszeit 19
reißen zu lönnen. Der jebige Krieg bemweift aber, daß in der furzen Friedens»
zeit, weldhe der neuen Negierung bejchert war, Erftaunliches geleiftet worden
ift, um den Staat gegen weitere Eingriffe widerftandsfähig zu machen.
Die wictigften Merkmale der jüngften franzöfifden Gefhichte find der
dem Anfchein nach endgültige Übergang zur republifanifchen Staatsform und
der Rüdgang der Vollsvermehrung. Der einftweilige Sieg der Republif über
die Monarchie dürfte aber weniger darauf zurüdzuführen fein, daß die Be-
völferung fo ausgeiprodhen republifanifh gefinnt ift, als in dem Mangel von
geeigneten monardiihhen Prätendenten feinen Grund haben, die auch nur fo
viel Gefhid und Begabung aufweilen Fönnten wie Louis Philipp oder Napoleon Ill.
Das Fehlen einer Fräftigen zum Diltator geeigneten Perfönlichleit Tieß bie
monardiftifehen Putfchverfuhe immer barmlojer im Sande verlaufen; es fei
bier nur an den lebten belannt gewordenen von Deroul&de erinnert, der zur
Zeit des Dreyfus-Prozefies dem Pferde des Generals Rogier, als er von der Barade
beimfebrte, mit dem Ruf in die Zügel fiel: „A l’ Elysee, A I’ Elysee“! Die
tepublifanifhen Minifter verjtanden es auch in ihrer großen Mehrheit jo gut,
die dhauviniftifchen Neigungen der Bevöllerung zu befriedigen, daß nicht er-
fihtlih ift, was ein Diktator hier mehr hätte ausrichten können. Das Urteil
über die dritte Republit bis 1914 läßt fih dahin zufammenfaflen, daß fie zum
mindeften ebenfo daupiniftifh, Torrupt und unfozial wie das zweite Kaiferreich
war. Ein Beitehungsffandal ift dem anderen gefolgt. 8 gibt in Frankreich
weder eine Arbeiterverfiherung noch) eine Einfommenfteuer, und die SMinifter
Poincare und Delcafjee fteuerten ebenfo Ieichifinnig auf den Srieg bin wie
einft Sramont und Dlivier.”) Das Stagnieren der Bevölkerung bewirkte in ber
zweiten Hälfte der vergangenen Epoche einen ftarlen Rüdgang der Be-
deutung Frankreichs als felbftändige Großmadt. Zwar konnte e8 an Stelle
feines im 18. Jahrhundert großenteils an England verloren gegangenen Stolonials
reich ein neues großes fchaffen. Doch geihah die8 weniger aus eigener Kraft,
als infolge der allgemeinen politiihen Lage. Anfangs begünftigte Deutfchland
Frankreich Vorgehen, den algeriichen Belit weiter auszudehnen, um e8 von
der Nevandheidee abzulenfen. Später unterjtühte England es in feiner nord»
afrikaniſchen Politit, um Deutichland von Maroflo auszufchließen. Yranlreic)
*) Bergl. hierzu das treffende Urteil des deutihen Sozialdemokraten Heine, der bes
Zennt, „baß in dem republifanifhen Frankreich die Herrfhaft des Neihtums größer und
die foziale Fürforge geringer, die Nechtsfiderheit nit um eine Spur beffer, die politiiche
Moral in der äffentlihen Meinung und dem Treiben der Fraktionen noch wefentlich fhlechter
fei al im monardifhen Deutfhland. Auch lönne fi der Überzeugtefte theoretifche Republilaner
nicht verhehlen, daß in ber demokratifhen Mepublif Frankreich der Wille des Präfidenten
und einiger anderer mit Mußland verfchiworener Bolitifer e8 gewefen fei, wa3 das im
ganzen friedliebende Volt wider feinen Wunfcd in die Charybdiz diefes Krieges hineingeriffen
Habe.” (Wolfgang Heine, die Sozialdemokratie im neuen Deutihland, Südd. Monatshefte
Bd. XII, 1, S. 864.)
2"
20 Die gefdichtlihe Betradhtung der vergangenen Sriedenszeit
fann eben heute: feine felbftändige Politit mehr treiben wie noch zur Zeit
Napoleons III., weil es ohne die Hilfe einer anderen Macht nicht genug Dien-
ihen hat, um gegebenenfalls allein feine Abfihten mit dem Schwert durd)-
zuſetzen.
Die ruſſiſche Geſchichte hat auch ſeit 1815 bis heute völlig unter dem
Zeichen der Herrſchaft des unbeſchränkten Abſolutismus geſtanden. Dieſer hat
bewirkt, daß das Land nach innen wie nach außen ſich wenig fortentwickelt
hat. Die Selbſtherrſcher und ihre Berater ſahen ihre Staatskunſt darin, daß
ſie die Verwaltungsmaſchine und Volksbildung auf äußerſt niedriger Stufe
hielten. Den Neuerwerbungen Polen und Finnland wurden ihre höherſtehenden
ſtaatlichen Einrichtungen nach Kräften beſchnitten; es kann daher nicht wunder⸗
nehmen, daß ſie noch 1914 nicht mit dem ruſſiſchen Reich verwachſen waren.
An dieſen Zuſtänden haben weder die Aufhebung der Leibeigenſchaft 1861 noch
die Erteilung der Verfaſſung 1905 etwas geändert. Gegenüber den immer
wieder auftauchenden revolutionären Bewegungen machte die Regieruug wohl
zeitweilig Zugeſtändniſſe, ſie war aber immer ſtark genug, ſie ſpäter teilweiſe
wieder zurückzuziehen; am wichtigſten iſt wohl nach der Richtung die 1907
bereits erfolgte Abänderung der 19085 erſt erteilten Verfaſſung. In der aus⸗
wartigen Politik hatte Rußland zwar großen Landerwerb und neben den ver⸗
lorenen auch gewonnene Kriege zu verzeichnen, aber auch auf dieſem Gebiet
iſt es ihm meiſt nicht gelungen, ſich das Gewonnene dauernd einzugliedern und
zu erhalten. Auf dem Balkan, wo es Rußland einſtweilen mehr auf „moraliſche“
Eroberungen ankam, brachte der gewonnene Krieg von 1877,78 nicht die ge⸗
wünſchte dauernde Abhängigkeit der von Rußland unterſtützten Staaten; im
ODſten verlor es im ruſſiſch⸗-japaniſchen Krieg die wichtigſten neuerworbenen
Gebietsteile wieder.
Für England werden die Jahre 1815 bis 1914 vorausſichtlich den Höhe⸗
puntt ſeiner Macht darſtellen. Der geringe Kräfteverluſt, welchen es in den
napoleoniſchen Kriegen im Vergleich zu den Kontinentalſtaaten erlitten, gab
ihm einen ſolchen Vorſprung vor dieſen, daß es fich ein rieſiges Kolonialreich
ſchaffen konnte, ohne auf den Widerſtand der anderen europäiſchen Großſtaaten
zu ſtoßen. Erſt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren dieſe im
Gefolge der allmählich eintretenden längeren Friedenszeiten ſo erſtarkt, daß fie
in die gleichen Bahnen einlenlken konnten, und alsbald begannen auch bie
kolonialen Reibungen Englands mit Rußland, Frankreich und Deutſchland. Die
Schaffung der deutſchen Seemacht ließ dann England ſeine Weltſtellung von
dieſem Gegner am meiſten bedroht erſcheinen, ſodaß es ſeine Streitigkeiten mit
den anderen beiden Mächten beilegte, um zunächſt des gefährlichſten Herr zu
werden. In der inneren Politik kann es weniger große Fortſchritte verzeichnen.
Zwar wurden einige veraltete Beſtimmungen des Wahlrechts abgeſchafft, die
Katholiken emanzipiert und die Arbeitergeſetzgebung unter dem Drucke unge⸗
heuerlicher Mißſtaͤnde durchgeführt. Aber zu einer zeitgemäßen Reform bes
— — — — —— -
Die gefchichtliche Betrachtung der vergangenen Sriedenszeit 21
plutofratiiden Wahliyitems fam e8 ebenfomenig wie zu einer eriprießlichen
Negelung des Verbältniffes von rland zum Neid. Am. Ende der Epoche
fab ih England, wie fo oft fhon, wieder offener Empörung in Irland gegen-
über. Am bemerfenswerteften ift die ebenfalls gegen Ende des Beitabfchnitts
beginnende Bewegung gegen den lang gehegten Freihandel, die mit dem Aus-
bau des Kolonialreih8 im Zufammenhang fteht, und die gleichfalls hiermit zu-
fammenhängenden Berjiebungen in dem Jahrhunderte alten Parlamentarismus.
Snnerbalb der alten Parteien der Whigs und Tories vollzogen fi) Spaltungen,
aus denen die Untoniftenpartei hervorgegangen ift. Neben diefer begann bie
Arbeiterpartei ihr Haupt zu erheben, fobaß auch eines ihrer Mitglieber in das
Whigminifterium aufgenommen wurde. Und 1909 verlor das Dberhaus unter
beitimmten Bedingungen fein Vetorecht. Diefe Neuerungen mögen den Beginn
mweitgehender Wandlungen de8 altüberlieferten, parlamentariiden Regierungs-
foftems im Gefolge haben.
In Stalien fülten Aäbnlih wie in Deutichland die Einheitsfämpfe ben
eriten Zeil der Epoche aus. Doc unterfcheiden fie fich jehr merfbar daburd
von den unferen, daß Piemont-Savoyen, weldhes dort diefelbe Rolle fpielte,
wie für uns Preußen, nur mit fremder Hilfe fein Ziel erreichen konnte und e8
mit dem Berluft feines Stammlandes Savoyen an Franlreich bezahlen mußte.
Hierbei tft den ttalienifchen Freiheitsfämpfern zugute zu halten, daß fie Dfter-
reih mit zahlenmäßig weit fchmächeren Kräften entgegentreten mußten als
Preußen. Aber auch der italienifche Einheitsftaat ift nicht imftande gemejen,
felbftändig politiih oder militärifch etwas durchzufegen. Die Gefdhichte bes
neuen Staliens weift die Cigentümlichleit auf, daß fein Heer in allen Kriegen
geihlagen wurde, das Land aber infolge der Siege feiner Verbündeten oder
der allgemeinen politifhen Zage beim Friedensichluß ftetS den gemwünfchten
Zandzuwmakh8 befam, al8 ob es gefiegt Hätte. So mwurden die taliener 1859
und 1866 von den Dfterreichern gefchlagen, dan der Siege der Franzofen bezw.
der Preußen erhielt eg 1859 die Lombardei, 1866 Venetien. 1870 räumten bie
Franzofen Rom infolge der deutichen Siege, und endlih 1912 trat die Türket
Tripolitanien infolge des Ausbruh8 des erften Balfanfriegg an Stalien ab,
obwohl die militärifche Eroberung ausfihtslos fdhien und bis auf den heutigen
Tag noch nicht gelungen ift. Das einzige von den Stalienern allein begonnene
Unternehmen, der Kampf gegen Abeffinien, endete 1896 mit einem Häglichen
Miberfolg. Der Grund für bdiefe Unfelbftändigfeit liegt offenbar in einem
ftarlen Erpanflonshrang, dem feine entiprechende innere Entwidlung und Organi⸗
ſationsfähigkeit gegenüberſteht. Nach Rußland weiſt Stalien mit die größte
Zahl der Analphabeten und die größte Auswanderungsziffer auf; ein Zeichen
rückſtändiger Kultur in jeder Beziehungl Aus dieſer Schwäche erklärt ſich die
ſchwankende Politik des jungen Italiens, welche Salandra mit den Worten vom
„sacro egoĩſsmo“ trefflich charalterifiert hat. Obwohl die tief eingewurzelte
und aus feiner früheren Gefchichte begreifliche Abneigung gegen Oſterreich in
22 Die gefdichtlihe Betrachtung der vergangenen SKriedenszeit
der Benölferung fortbeftand und von ber Regierung nicht unterdrüdt wurde,
fhloß e8 den Dreibund, als es fi) durch Frankreichs Vorgehen in Tunis in
feiner Mittelmeerftellung bebroht fühlte. @8 näherte fi England und Frant-
reich feit Beginn biefes Jahrhunderts, als diefe Mächte infolge ihrer gegen
Deutſchland gerichteten Politit den Erwerb Tripolitantens mehr begünftigten
als von Deutfchland und Vfterreih-Ungarn mit Nüdficht auf ihre Beziehungen
zur Türkei billig zu erwarten war und zögerte fogar nicht, alle Vorbereitungen zu
einem Überfall auf feinen Bundesgenoffen Dfterreih-Ungarn zu treffen, als biefes
ion 1909 in einen Krieg mit Rußland verwidelt zu werben drohte. Das
hinderte Stalien aber nicht, alS es Zripolitanten eingeheimft hatte, 19183 in
der albanifhen Frage auf Seiten Deutfchlands und Vfterreih8 Stellung gegen
die Entente zu nehmen, bie hier befanntlid) Serbien, Montenegro und Griechen-
land hbegünftigte. Außerdem legte e8 durch die Fefthaltung des im italieniſch⸗
türfifhen Krieg befegten Dodelanes und die damit enthüllte Abit, fi im
öftlichen Mittelmeer feitzufeben, bereits den Grund zu neuen Bermwidiungen mit
der Türfei und Griechenland, obwohl es der Aufftände in Tripolis noch leines-
wegs Herr geworden war. Als endlich der Weltkrieg ausgebrochen war, wedhfelte
e3 wiederum die Farhe, und e8 vollzog fich feine einftweilen endgültige Abkehr
vom Dreibund, da es ihm jet möglich fchien, die unerlöften Gebiete, ben
Dodelanes und Albanien auf Seiten des Dreiverbandes ohne allzugroße Mübe
zu gewinnen, außerdem noch vielleicht in Sleinafien feiten Yu zu fallen. Pläne,
deren militärifche Vermwirflidung Stalien troß des fo laut verfündeten „Italia
fara da sel“ faft völlig feinen neuen Bundesgenoffen überlaffen mußte.
Bei der biftorifhen Betrachtung des bisherigen Verlaufs des Krieges
müflen wir uns dharakteriftiicherweife für unfere Gegner in der Hauptjadde rein
auf die Feftftellung der geichichtlichen Tatfachen beichränten. Denn von irgend
welchen erreichten Kriegszielen, bie einen Abfchnitt in ihrer SKriegsgeidhichte
bilden, Tann nur bei England in geringem Maße die Nede fein. Gemeinfam
find unferen Hauptgegnern die immer fehlechteren Bedingungen, unter melden
fie die nötigen Mittel zur Kriegführung aufbringen müfjen. Hieran ift teilmeife
die Notwendigkeit fchuld, einen erheblichen Zeil des Kriegsmateriald im Aus-
land zu befchaffen, aber ebenfo oder noch mehr die Unluft und mangelnde
Dpferwilligfeit der Bevölkerung, die ausgegebenen Kriegsanleihen aufzunehmen.
England hat den Zinsfuß der Kriegsanleihen ftändig erhöht und dennodh ein
Sinfen unter den Ausgabelurs nicht verhindern fönnen. Während in Deutfch-
land bie erfte Kriegsanleihe zwei Monate nach SKriegsbeginn zu 5 Prozent mit
97,5 Prozent berechnet wurde und fie heute fat den Nennwert erreicht bat,
gibt Frankreich nad 15 Monaten eine Anleihe mit demfelben Zinsfuß zum
Kurs von 88 Prozent heraus. Noch fehlechter fteht es mit Rußland. Aus
ſolchen Zahlen läßt fi ein zuverläffigerer Schluß auf die materielle Lage der Bevöl«
ferung und auf die Beurteilung der Kriegsausfichten ziehen als aus der Prefie
und Tagesliteratur. Für England und Frankreich ift noch feitzuftellen, daB
— ü·— — — — GEmmE—
* et ——
Die gefdichtliche Betrachtung der vergangenen Sriedenszeit 23
fie durch ihre Bündnispolitif im Krieg genötigt worden find, im Widerfprucd
mit ihrer jahrzehntelang betriebenen Drientpolitif, Rubland die ftetS verjagte
Dffnung der Dardanellen nit nur zu geftatten, fondern fogar unter ungeheuren
Opfern felbit zu verfuchen, ihm den Weg ins Mittelmeer zu bahnen. Im
übrigen ift e8 England gelungen, feine Übermadt zur See fo ftarl zu halten,
daß e8 uns von unferen Kolonien abfchneiden und fie größtenteils, unterjtägt
von Yapan, befeten und unferen Seehandel dank feiner willlürlihen Auslegung
bes KaperrechtS abgefehen von der Dftfee überall Iahmlegen konnte. Die Neu-
tralen haben filh als madhtlo8 erwiefen, ihre Rechte zu [chügen. Dagegen hat
England für die im Fall eines militärifchen Zufammenftoßes jedenfalls urjprüng-
ih in Ausfiht genommene fofortige Zerftörung unferer Flotte den Krieg zu
ipät begonnen. 8 mußte Verlufte fürchten, die auch im Falle eines Gieges
fein Übergewicht zur See dauernd beeinträdtigt hätten. In Englands innerer
Politit führte der Krieg mit der Bildung eines Koalitionsminiftertums eine
weitere einfchneidende Änderung feines Regierungsfyftems herbei, das fih immer
mehr dem der jüngeren parlamentarifch regierten Länder nähert. Frankreichs
Kriegsziel war zugeftandenermaßen in erfter Linie die Wiedereroberung von
Elſaß und Lothringen. Erreicht hat es bisher den Gewinn des zehnten Teiles
diefer Brovinzen, dafür aber den zehnten Teil feines gefamten Landes verloren.
Eine fo lang dauernde und umfangreiche Bejehung franzöfiicher Landesteile hat
feit den englifch-franzöfifchen Kämpfen im 14. und 15. Jahrhundert nicht mehr
ftaitgefunden. Bon den befetten Provinzen gehört Artois mit Lille und Conrtrai
feit 1659 zu Franfreih; das übrige Gebiet ift von jeher franzöfifeh geweſen.
Weit früher als in England ift in Frankreich verfucht wurden, durch ein Koa⸗
Iitionsminifterium den PBarteihader auszufchalten. Perfönlichkeiten aller Parteien,
fogar die Feinde der beftehenden Staatsform, die Monardiiten, haben fofort
nad Ausbrud) des Krieges durch den Eintritt in das Minijterium die Verant-
wortung mit übernommen, und fo tt von den StaatSlenfern gejhicdt dem vor-
gebeugt worden, daß ihnen im Falle eines unglüdlichen VerlaufS des Krieges
ein äbnlides Schidjal wie der Regierung von 1870 bereitet werden Fönnte.
Rußland ift nad) anfänglidem Erfolg gegen Ofterreich-Ungarn fast genau auf
die Landesgrenzen von 1793 (nad) der zweiten polnifhen Zeilung) zurüd«
gedrängt worden. Bet der Erreichung feines zweiten Hauptzieles, der Erobe-
tung Konftantinopel8 und der Dardanellen mit wejentlichen Kräften mitzuwirken,
it es bis jebt außerftande gewefen. Ahnlih vermochte Stalten fig bisher nur
gegen einen Gegner zu wenden; den Sriegserflärungen gegen die Türkei und
Bulgarien Tonnte es bis jeßt — zwei bezw. vier Monate nad) Erlaß derjelben
— feine Taten folgen lafjen. Seine Kriegsziele vermochte e8 bisher nirgends
zu erreichen. Belgien verlor im Kriege die allerdings nur 84 Jahre — eine
tm Lauf der Weltgefhichte verfehwindend kurze Zeit — innegehabte Selbit-
ftändigkeit. Setn Schidfal erinnert daran, weldhe Bedenten und Schmierig-
fetten fchon bei feiner Begründung als Königreich auftauchten. &3 wurde jept
94 Die gefhichtliche Betrahtung der vergangenen Sriedenszeit
von einer der drei Mächte, die ftetS am meiften an feinem Schidfal intereffiert
waren, bejett, weil fie den Plänen der anderen beiden zuvorlommen zu müffen
glaubte. — Auch für Dfterreih-Ungarn läßt ſich noch nicht der Überblick ge-
winnen, wie der bisherige Verlauf bdiefes Krieges fi) dereinft unferen Nach-
fommen darftelen mag, foweit fi nit das Bild mit dem für Deuticd-
land dedt. Die Polnifche Frage, weldhe erft mit dem Friedensfhluß gelöft
werben Tann, fpielt für Dfterreih-Ungarn eine weit einfcjneidendere Rolle als
für unferen Staatsorganismus und niemand weiß, ob ber Srieg gegen Stalien
mit der abgefchlagenen Dffenfive enden wird. Sedenfalls beweift die Abwehr
bes italienifchen Angriffs, welch außerordentliden Schub natürliche, geographifche
Grenzen gewähren können.
Für Deutichland ergibt der Gang der Kriegsereignifie zu Beginn des Jahres
1916 folgendes Bild: als feine tieffte Urfache erfcheint Englands Sorge, daß
wir e8 Durch die Ausdehnung unferes Wirtfchaftsgebietes als See- und Handels:
madt überflägeln könnten. Diefe Furcht veranlaßte e$, den anderen europätichen
Gropmädten Zugeftändniffe verfchiedenfter Art zu maden, nur um uns mit
ihrer Hilfe diplomatifh oder militärifch niederzuhalten. Wir haben mit Hilfe
unferer Verbündeten erft den einen, dann den anderen feiner beiden mädhtigften
Bundesgenofjen fo gefeffelt, daß fie uns nit in den Rüden fallen können
und bahnen uns nun mit den Waffen den Weg in das Gebiet, deffen Nubbar-
mahung man uns verwehren wolltel
9
— — — NZ
u % nn)
Staatenbund von Lordeuropa
Don Juftizrat Bamberger
Auffäge über den Staatenbund von Nordeuropa auß der Yeber
desjelben Verfaflerd finden fi in den Heften 38, 43, 49 de Jahres
1914 und in den Heften 2 und 28 des Sabre 1915.
6.
ya apft Benebilt XV tft, wie berichtet wurbe, im Interefje der Be-
a endigung des Krieges mit dem König von Belgien in Ber-
bindung getreten, doc) haben feine Bemühungen bisher nicht
a zum Grfolg geführt. Die Bedeutung ded3 PBorganges ift faum
= genügend gewürdigt, obwohl von vornherein angenommen werden
fonnte, daß Papft Benedilt fi) zu diefem Schritt nicht entjchloffen haben
würde, wenn er ihn für ausfichtslos gehalten hätte. Seine bebarrlidden Be-
mühungen um die Wiederherftellung des Friedens? und um die Linderung der
Schreden des Krieges müflen jeden Menfchenfreund mit Bewunderung und
Dankbarkeit erfüllen, zumal da unverkennbar tft, daß auch einfihtige und tat-
fräftige Männer angefihts des ungeheuren Schredens, ber die Welt erfült,
wie gelähmt die Hände in den Schoß legen. Sein erjtes Sendfchreiben an
bie Katholifen des Erbfreifes vom 8. September 1914 verhallte in dem Lärm
der Waffen. Unbeirrt dadurch Tieß er die umfaffende Encyllifa vom 1. No«
vember 1914 folgen und bejchwor die Lenker der Triegführenden Staaten von
neuem, ihren Böllern die Wohltaten des Yriedens wiederzugeben. Kurz da⸗
rauf erging die Mahnung an die Katholilen Staliens, das Neutralitätsprinzip
feft aufrecht zu erhalten, die Mahnung an die italienische Prefle, ja nicht gegen
Die eine oder andere Nation den Krieg zu befürworten. 8 folgte die er-
greifende Bitte an die Oberbäupter der ftreitenden Mächte, wenigjtens für die
Dauer des Weihnachtsfeftes eine Turze Waffenrube eintreten zu laflen. Gie
mar nit von Erfolg gefrönt. „Aber dadurch nicht entmutigt”, erwiderte der
Bapft bei der Weihnachhtsaudienz am 24. Dezember 1914 auf die Anfpracdhe
des Karbinals Vannutelli, „wollen Wir Unfere Anftrengungen verdoppeln, um
Das Ende des nie dagemeflenen Ungemadh8 zu befähleunigen oder wenigftens
die traurigen Folgen zu mildern.” Er ließ nicht nad) in feinen Bemühungen
und wußte e3 zu erreichen, baß die Triegführenden Mächte fih zu einem Aus-
taufh von friegsgefangenen Militär- und Eivilperfonen in der Erlenntnis des
96 Staatenbund von Xlordeuropa
gemeinfamen Sinterefje8 vereinigten. Man darf erwarten, daß Papft Benedift
bei diefem Erfolge nicht ftehen bleiben wird. Alle feine Kundgebungen lafjen
erkennen, daß er Herzensgüte mit Weltflugheit und Bebarrlichleit vereinigt.
Deswegen verdient auch der DVerfuch, Belgien zum Ginlenfen zu beftimmen,
ernfte Beachtung. Er dürfte auf der Erwägung beruhen, daß die Löjung der
belgifhen Frage den Anfang und die Vorbedingung des allgemeinen Frieden3-
ihluffes bilden müfle. Heute befteht ja fein Zweifel mehr darüber, wie es
gelommen ift, daß Belgien an dem Streit der Großmädhte teilnahm. Dem
fortgefegten Drängen Englands und Franfreih8 gegenüber war der belgifche
Kleinftaat mit feinen fieben Millionen Einwohnern ohnmädtig; feine General-
ftabsfchef8 Ducarme und Yungbluth verloren gegenüber den engliiden Militär-
attahes Barnadifton und Bridges, die fie feit dem Januar 1906 rüdjichtSlos
beftürmten, allmählich jede Wideritandsfraft, bi Belgien am 23. April 1912
den Schlag ins Geftcht hinnehmen mußte, den ihm ber Oberftleutenant Bridges
verfebte. (Dergleihe „Staatenbund von Nordeuropa” in den Grenzboten vom
13. Januar 1915, Seite 47 ff.) Nie tft befannt geworben, daß Belgien bei
feiner erzmungenen Stellungnahme ernfthaft eigene nterefjen verfolgt hätte.
E33 war und ift der Spielball fremder Mächte. So aus der natürlichen
Schwädhe des Nleinftaats, erflärt es fi, daß diefes Land unter den Schreden
bes Srieges mehr zu leiden hatte, al8 irgend ein anderes. Daß bdieje Leiden
bei der Bevölkerung, wie bei der Regierung Erbitterung berporgerufen haben,
läßt fich verftehen. Die naheliegende Befürchtung, das bisher Doch dem Namen
nad) unabhängige Land werde beim Friedensihluß einfach dem Deutſchen
Neid einverleibt werben, Tonnte auch nicht zur Beruhigung der erregten Ge-
müter und zur Anbahnung einer Verftändigung beitragen. Aus diejen und
nabeliegenden anderen Gründen läßt eS fich begreifen, wenn der Berjud), den
König Albert zur Einleitung von Friedensverhandlungen zu veranlaflen, ohne
Groebnis geblieben tft. CS wird fi fragen, ob diejfe Sachlage dur die Er-
Öffnungen bes beutfchen NReichsfanzlers in der Situng des Reichſtages vom
10. Dezember 1915 eine Anderung erfahren hat. Der Neichslanzler erflätte:
Die Feinde im Dften und Weiten follen nad) dem Friedensfhluß nicht mehr
fiber Einfallstore verfügen, duch die fie uns künftig von neuem bedrohen.
Auch dagegen müfjen wir uns fichern, daß England und Frankreih im
Zukunft Belgien als ihr Aufmarfchgebiet betrachten können. Weldde Garantien
wir in ber belgifhen Frage fordern werden, läht fich nicht beftimmen. Doc
werden die Garantieen um fo ftärker fein müflen, je erbitterter mir noch be»
Tämpft werden follten. Aus den Worten läßt fich nicht entnehmen, daß die
beutfche Regierung eine Cinverleibung Belgiens für unerläßlich erachtet. Un
erläßlich erfcheinen hingegen Garantien politiiher und militärifher Natur dafür,
daß Belgien in Zulunft nicht mehr das Aufmarfchgebiet der Engländer und
Stanzofen darjtellt. Welde Garantien zu fordern find, fol bis zu einem ge«
wiffen Grade davon abhängig gemadt werden, wie fih Belgien im weiteren
Staatenbund von Xlordeuropa 27
Berlauf des Krieges verhalten wird. Die Erklärung bes Neichslanzlers ift
von großer Tragweite. No einmal fol das Schidjal Belgiens in feine
eigenen Hände gegeben werden. Dbmwohl fi) das Land Deutihlands Feinden
verjährieben hat, obwohl e8 unter fehweren Opfern bis auf einen Heinen Zeil
erobert ift und feit Jahr und Tag unter deutſcher Herrſchaft ſteht, ſoll doch
von dem Recht des Siegers kein rückſichtsloſer Gebrauch gemacht werden.
Die belgiſchen Intereſſen ſollen geſchont werden, ſoweit es die Rückficht auf
die Sicherheit des Deutſchen Reiches zuläßt. Der Ausgleich der Intereſſen
beider Teile wird ſich um ſo leichter vollziehen, je entſchiedener Belgien ſeine
feindſelige Stellung gegen das Deutſche Reich aufgibt. Damit iſt König
Albert neuerdings vor eine folgenſchwere Entſcheidung geſtellt. Vielleicht
konnte er bei Ausbruch des Krieges im Hinblick auf die nun einmal beitehen-
den Abmachungen nicht anders handeln, als es geſchehen iſt. Welche Ent⸗
ſchließung er zum Beſten ſeines ſchwergeprüften Landes getroffen haben würde,
wenn er die Entwickelung der Dinge hätte vorausſehen können, iſt eine müßige
Frage. Nach menſchlichem Ermeſſen wäre aber Belgien im Bunde mit
Deutſchland beſſer gefahren. Noch einmal bietet fih jebt unter veränderten
Berbältnifien die Möglichkeit einer Verftändigung. Der Krieg hat ausgiebige
Selegenheit gegeben, die militärif de und wirtfchaftliche Kraft Deutfchlands mit
der feiner Gegner zu vergleichen und zu beurteilen, ob mit Sicherheit darauf
zu rechnen tft, daß Deutichland, im Weiten und Dften fiegreich, nun plößlich
überwältigt werben wird. Die belgifche Bevölkerung, der auch deutfdhe Ver-
waltung nicht fremd geblieben ift, Tann nun felbft urteilen, ob ihr StaatSmwefen
in Anlehnung an die ftärkite Militärmadht Europas nicht auf befferen Schuß
rechnen Tann, al8® mit Hilfe feiner bisherigen Bundesgenofien. Daß Diele
einer Zöfung der belgifhen Frage in dem angebeuteten Sinne unter allen
Umftänden abgemeigt fein würden, läßt fih faum behaupten. Sollten fie des
Krieges müde fein, wofir manche Zeichen fprechen, fo Lönnte ihnen eine ber-
artige Löfung vielmehr willlommen erjheinen, um fi aus einer jhwierigen
Lage zu befreien. Denn fie wären infoweit eigener Opfer überhoben und
nicht genötigt, einen treuen Bundesgenofjen preiszugeben. Nach den bekannten,
offenbar wohlüberlegten Erklärungen bervorragender Mitglieder des englijchen
Dberhaufes fcheint fih dort jedenfalls die Exrfenntnis Bahn zu brechen, daß es
den englifhen Intereſſen entſpricht, wenn Verhandlungen zur Beendigung bed
Krieges eingeleitet werden.
Dolfsmärchen der Bulgaren
Don Profeflor Dr. Robert Petfd
Durch den Gang der politiihen Creigniffe ift auf einmal ein
Bolt an unfere Seite gedrängt worden, defjen ftaatliche Entwid-
lung uns in den letten Jahrzehnten gelegentlich beichäftigte, defien
8 heldenhafte Kämpfe im Ballanfriege tiefen Eindrud auf uns
= aemadıt baben, von defien geiftiger Art wir aber doch recht wenig
wiffen. Hoffentlich bleibt diefer Zuftand nicht beftehen, denn abgefehen von
unferer Waffenbrüderfchaft, die fih in diefen Tagen fo herrlich bewährt hat,
Ihulden wir dem jugendftarten Volle, das in den lebten Jahren in guten
und böfen Tagen kraftvoll emporftieg, unjere menjchliche Teilnahme. So hören
wir denn gern auf jeden, der uns von der geiftigen Kultur der Bulgaren und
von ihren vollstümlien Grundlagen berichtet, und wir begrüßen es mit
doppelter Freude, wenn ein fo ausgezeichneter Kenner flavifcher Sprade und
flavifhen Vollstums, wie Auguft Leslien, uns in feiner Sammlung „Ballan»
märden” *) echte bulgarifde Vollserzählungen in treuer und fchlichter Sprache
wiedergibt. Ste entjtammen zum guten Zeil einem hervorragenden Sammel-
wert des bulgarifchen Minifteriums der VBollsaufllärung **), das bei uns fo
unbelannt geblieben ift, wie bie bulgarifche Spradie; und jo werden fie bier
der beutichen Lejewelt zum erften Male unterbreitet.
FTreilih, wer nun alle von Lesfien mitgeteilten Märchen aus Bulgarien,
21 an der Zahl, für Erfindungen des bulgariichen Volles halten und aus den
Stoffen ımd einzelnen Zügen glei auf defjen Charakter fchließen wollte, würbe
fi arg verrechnen. So gut wie unfere deutfchen, wie die nordifchen, rufftichen,
orientaliichen und andere Märchen, die das fchöne Sanımelmwer! des Diederichsfchen
Verlages nun den meiteren Streifen zugänglid madt, jo gehören aud) bie
bulgarifden zum allergrößten Zeil dem allgemeinen Erzählungsihate an, zu
dem die verjdhiedenften Völler des Morgen und Abendlandes beigefteuert
haben. In fteter Bewegung wandern die Märchen durch Krieg und Handel,
dur Sflaven- und Yrauenraub, dur Schiffahrt und Landreifen von Drt zu
*) Sena, ©. Diederihs 1915. (Aus den „Märchen der Weltliteratur‘). Mit Buch⸗
ihmud von Ehmte.
**) Sbornik za narodni umotvorenija, nauka i knizina.
Dollsmärcen der Bulgaren 29
Ort; fie werben umgebichtet, vertieft, verflacht, mit ähnlichen vermifcht und fehlieklich
gar in Feen geriffen und endlich vergeffen, bi8 basfelbe Märchen vielleicht
zum zweiten Male in einem oder dem andern Volle auftaudt. Ganz unver-
ändert wird ein Märchen von keinem Voll, Teiner börflichen oder ftäbtifchen
Semeinfhaft, ja von feinem einzelnen aufgenommen und weitergegeben; und
infofern die Abänderungen des Überlommenen — meift unbewußt — unter der
Mümwirtung der völfiihen und Stammesart erfolgen, kann man denn dod
wieder von englifhen und deutichen, ja von fhwäbifhen und pommerſchen
Märchen fpreden. Die Grundzüge und die meiften Stoffelemente bleiben bei-
fammen und wandern von Land zu Land, höcjftens in der Auswahl verrät
fi) hier und dba der Charakter des einzelnen Stammes; aber der menfchliche
Gehalt, mit dem die Handlung erfüllt wird, und ber im lekten Grunde bod
die äußere und innere Form der Erzählung beftimmt, läßt bie Sonderart
des Volles eben fchon ftärfer hervortreten.
So finden wir au) bei den Bulgaren alte Belannte aus unferer Märchen-
welt wieder; da ift das Euge Mädchen, das zum Zaren fommen foll: „Reitend
und nicht reitend, mit Gefchen! und ohne Gefchent, von den Leuten empfangen
und nicht empfangen“ ; fie fommt rüdlings auf einer Ziege fitend, läßt ein
paar gefangene Hafen los, Hinter denen die Leute, die fie empfangen follen,
fofort herlaufen, und reicht dem Herrn ein paar Tauben hin, um fie alsbald
fliegen zu laflen. So bat fie alle Aufgaben gelöft und wird Zarin. Da
finden wir meiter danfbare Tote und dankbare Tiere, die dem Helden bei
ſchwierigen Proben helfen, die treuen Brüder, die einander aus Tobesnot
belfen, und die ungetreuen Genoffen, die den ftarfen Helden doch nicht dauernd
unglüdlid maden fönnen. Da finden wir einzelne Züge aus dem Afchen-
brödel- und Schneewitichenmärdhen und vor allem die Menfchen mit den wunder.
baren Eigenfhaften. Bas bunte Gemifch der Märdjentypen und der einzelnen
Züge, die bald da, bald dort eingeflodgten werden, ift nicht zu vermunbern,
wenn wir bedenken, daß die Bulgaren von einem flavifhen Volle abftammen,
das eine finnifh-ugrifche Herrenfafte in fih aufgefogen bat; daß fie feit uralter
Zeit im Austaufh mit den Magyaren, in neuerer Zeit mit den Türken und
der von ihnen vermittelten öftliden Kultur geftanden haben; daß fie in
Mazedonien mit Serben, Mbanern und Aromunen zufammenftoßen; daß vor
allen Dingen von Süden ber griechifehe Einflüffe einwirlen und daß fi auf
ihrem Boden Yslam und Ghriftentum begegnen. So finden wir eine merl-
würdige Geihhichte von drei Brüdern in der Höhle eines Schuglan, das beikt
eine8 Uingebeuers, das in Yelsflippen wohnt, nadts umgeht und auf
Menſchen Jagd macht. Der Name tft nicht flavifh, die Geftalt felber aber
uns von Kindheit an vertraut: denn wenn der Dämon zwei von ben Brüdern
bes nadts nacheinander auffpießt, am Feuer brät und verzehrt, wenn der
dritte ihm den Spieß entreißt und ihn damit biendet, um fih am andern
Morgen von einem feilten Widder aus der Morbhöhle fchleppen zu Iafjen, fo
30 Dollsmärden der Bulgaren
miffen wir alle, daß wir es mit einem nahen Verwandten des griehiichen
Bolyphem zu tun haben, zumal aud das bulgarische Gefpenft einäugig ilt.
Und an chriftliche Legenden, wie die vom „Bruder Raufh“, erinnert bie
Gefhichte von einem Teufel, der al Dialonus feinen Bifhof zum Heiraten
beihmwagen will. Ein Bäuerlein belaufcht des nachts die Teufel, die fih ihre
Schandtaten erzählen und warnt am andern Tage den Bilhof vor feinem
getreueften Diafonus, der doch nicht während der Mefje in der Kirche bleiben
kann. Alle diefe literarifhen Beziehungen, auf die bier nur ganz furz hin-
gewiefen werben fann, werben dem Lejer des Leskienfhen Bandes dur) ganz
furze Anmerkungen vor Augen geführt, in denen einer der tüchtigiten Märchen-
fenner, Auguft von Lömwis of Menar, die bedeutendften einfchlägigen Werle von
Köhler, Bolte, Bolivfa, Aarne und anderen beranzieht. Damit find dem Forſcher
die Wege gewiefen und der weiteren Lejewelt wenigftens gezeigt, ob es fi
um eine allgemein verbreitete oder um eine auf Bulgarien ganz oder doch nahezu
befchränfkte Gejchichte handelt.
Das bulgarifch-völfifde aber lehren uns die fachlichen Anmerkungen ver-
ftehen, die Lestien felbit hinzugefügt hat; fie wollen uns vor allem mit den
dämonifden Wefen vertraut machen, die helfend und dräuend in den Märchen
ericheinen. Gerade die Märchen von Lamien, von hundsköpfigen Drachen mit
Krallen an den Füßen und von andern Ungetümen, weifen oft Züge auf, Die
fi in der Erzählungsliteratur der Nacdhbarvälfer nicht belegen laffen. Nur fehr
entfernte Sihnlichfeit mit unferm „treuen Johannes” bat etwa jener Neger, der
einen jungen Zarenfohn vor fhweren Gefahren befhüst (Nr. 2); der Neger ift
eigentlich ein Qoter, dem der Prinz ein ehrliches Begräbnis verjhafft hat, der
dann in der Fremde für ihn eine Lamia erfchlägt, feinem Schüßling zur Che
mit einer Zarentochter verhilft und dann in dag Schlafgemady eindringt, um
den Bräutigam vor dem dunfeln Schidfal feiner Vorgänger zu bewahren. Er
fieht, wie fich des Nachts dem Munde der fchlafenden Braut eine Schlange ent-
mwindet, fhlägt dem Ungetüm ben Kopf ab und veranlagt nachher den Prinzen,
feine Frau mit dem Tode zu bedrohen. In ihrer Angft gibt fie den Reft der
Schlange von fi, das junge Paar ift gerettet und zieht davon mit dem Golbe,
das der Neger einft von ber Zamia erbeutet hatte. Wie die Lamia, fo erinnert
an griehifhe Sagengebilde der Vampir, der die Mädchen in feine unterirdiiche
Höhle jhleppt, aus der gar mandhe Ausgänge an die Oberfläche führen; zwei
Schweitern bat diefer bulgarifhe Blaubart Ihon ums Leben gebradt, da gelingt
€8 der dritten, ihm zu entlommen und nach weiteren Schwierigkeiten doch ihr
Glüd an der Seite eines Prinzen zu finden. Ganz befonders bezeichnend aber
für die Phantafie des bulgarifhen Volles find die Samodiven oder Samovilen,
die au) den Serben als Bilen belannt find. Den griehifhen Nymphen gleich
bewohnen fie Wälder und Seen, erweifen fi nach elbiicher Art bald hilfreich,
bald nedifh, bald furdtbar al$ Träger von Seuchen, wie denn die flavijchen
Böller fo gern von gefpenftiihen Seudendämonen in menjchlidher Geftalt
Dolfsmärden der Bulgaren 31
erzählen. Ein Samovilen-Motiv, das auffallend an Hagens Erlebnis mit den
Meerfrauen in unferm Nibelungenliede erinnert, ift in eine bulgarifche Gefchichte
eingeflochten, die wieder nahe Beziehungen zu andern Märchen der Weltliteratur
aufweift. Ein Hirt fieht drei fchöne Mädchen baden und mwünfdt eine von
ihnen zur Gemahlin. Da er ihrer nicht anders babhaft werden fann, jo nimmt
er ihnen ihre Hemden weg und gibt fie erft unter der Bedingung zurüd, daß
eine von ihnen die Seine werde. Sein Bitten und feine Warnungen vor dem
Spott der Keute Tönnen ihn von feinem Verlangen abbringen und fo bleibt
Ichlieglih die jüngfte als Frau bei ihm. Die Schweitern aber, die es gut mit
dem Hirten meinen, warnen ihn davor, der Braut jemals ihr Hemd wieder-
zugeben. Nah einem fahre aber, bei einer Hochzeitöfeier, weiß fie es ihm
doch abzufhhmeiheln. „Als nun die Samovile zum Tanz antrat und den
Samovilenreigen tanzte, blieben alle Hochzeitsgäfte, groß und Klein, vor Ver⸗
mwunderung ftarr ftehen. Die Samovile aber, alS der Tanz zu Ende war, ging
zu ihrem Mann, faßte ihn bei der Hand und fagte: lebe wohl, mein Hausherr!“
Damit fliegt fie durch den Raudfang und Hinterläßt dem Satten nur den einen
Xroft, daß er fie in einem fernen Dorfe wiederfinden Tönne. Nach unendlichen
Schwierigkeiten erfährt er beim Zaren der Vögel, mo das Dorf Tiegt: bie
Eliter, die auf den Ruf des Zaren zu fpät erfcheint, bat es entdedt. Die
Samovilen haben den Vogel eingejpannt, Strohblumen zu drefhen und eine
bat ihm dabei auf den Fuß getreten, darum kommt fie fo fpät!*) Auf Befehl
des Königs befördert ihn denn auch ein Adler in die Nähe feiner Frau, bie
gerade ausgegangen if. Die Schweftern find bereit ihm zu belfen, binden die
Schlafende auf einen fliegenden Sattel, Iaffen ihn mit auffteigen und auf und
Davon fliegen. ALS fie über drei Gebirge geflogen find, wacht die Samovile
auf und ruft nach ihrem gefpenftifchen Pferde, das fie aber nun nicht mehr
einholen und befreien Tann. Zu Haufe angelommen, verbrennt der Hirte fofort
das gefährlihe Hemd, und „fo blieben fie zufammen und belamen Töchter,
eine fchöner als die andere, und von diefen Töchtern fommen die fchönften
Frauen auf die Welt bis auf den heutigen Tag.“
Derartige ätiologifhe Schlüffe find häufig im YBulgarifchen, meift haben
fie fogar greifbarere Seftalt.e So fließt das oben erwähnte Märchen von
dem teuflifden Dialonus damit, daß der Böfewicht aufplat und Tauter Mäufe
aus ihm beraustommen, die fih nun al Schadenftifter über die ganze Welt
verbreiten. Ein anderes Märchen bewegt fih um die Geftalt des h. Georg
(des hriftlichen Perfeus) und läßt ihn eine weite Reife auf einem wunderbaren
Bogel maden, den er fchlieglich mit dem Fleifche feiner Fußfohlen füttern muß.
„Drum find von jener Zeit an die Fußfohlen der Dienichen zwifchen den Zehen
und der Terfe wie eine ausgehöhblte Tröge.“ Zum Schluß beftraft er nod
feine ungetreuen Brüder, indem er fie nötigt, ihre Hände in einen Baumfpalt
) Wohl ein Bug aus der morgenländifhen Sage vom König Salomo.
92 Dollsmärdhen der Bulgaren
zu fteden; „bis zu der Zeit, jagt man, waren die Hände der Menfchen wie
Fäufte, von da an aber wurden fie zu Handflächen, wie fie jet find.” Der-
artige Schlüffe fallen eigentlih aus dem echten Märchen heraus, fie gehören
zu den „Naturjagen”, die Dähnhardt und feine Genoffen mit einem erjtaun-
lihen Aufwand von Gelehrjamkeit gefammelt und erläutert haben.*) Im
eigentlihen Märchen find fie ein Zeichen der Zerfegung und dasfelbe gilt von
den inancherlei Widerfprüden, Unmwahrfcheinlichfeiten und Sprüngen, die wir
in den bulgarifhen Erzählungen finden. Auch hierin fpiegeln fi) die tm Anfang
erwähnten, etbnographifhen Verhältniffe des Bulgarenvolfes, das eben nicht
aus einer Wurzel entjproffen ift, in dem manderlei Bollstum fidh berührt
und freuzt, ohme fi) immer zu neuer Einheit zufammenzufügen. Darin aber
liegt ein befonderer Reiz diefer Märden und nicht bloß für den Forfcher.
Und wir danken e$ dem Überfeger, daß er bdiefe Unftimmigfeiten nicht ver-
rifcht, fondern die Märchen uns ganz jo übergeben hat, wie fie im Bollsmunde
der Bulgaren umlaufen. Gerade fo, wie fie find, erzählen fie gar viel von
der inneren Entwidelungsgefchicehte des Bulgarenvolle8 und von feiner alten
Sitte, von den Zaren, die wie große Örundbefiter unter den hrigen leben
und doch wieder gefürchtete Herren über Leben und Tod find und dergleichen
mehr. Und gerade in ihrer [lichten Urfprünglichleit offenbaren fie eine Yülle
von Poeſie, die ihre Überfegung in einer Aug berecineten Auswahl aud
fünftlertich rechtfertigt.
*) DO. Dähnhardiß Naturfagen. Leipzig, 8. ©. Teubner.
Allen Manufkripten it Borto Kinzuzuflgen, da andernfalls bei Ablehnung eine Nüdfenbung
nicht verbürgt werben Tan.
Nachdruck ſamtlicher Auffutze aur mit ausprädiicher Erlaubnis des Berlagd geftattet.
Vergutwortlih: der Herausgeber Georg Eleinom in Berlin. Lichterfelde Weft. — Wanufkriptiendungen und
Briete werben erbeten unter ber Abrefie:
Hin ben Herausgeber der Grensboten in Berlin - Lichterfelde Wet, Sterufitraße 56.
Germnipreer des Herausgebers: Amt Lichterfelde 498, des Verlags und ber Schriftleitung: Amt Yäyom 6510.
Verlag: Verlag ber Srenzboten ®. m. b. H. in Berlin SW 11, Xempelhofer fer 85a.
Drud: „Der Reihsbote” ©. m. 5. H. in Berlin SW 11, Deflauer Straße 86/37.
Die neuen Männer in Sranfreich
Don Profeffor Dr. Mar S. Wolff
or einem Vierteljahr babe ich an diejer Stelle den nahen Sturz
N des Minifteriums Viviani-Millerand-Delcafje vorausgefagt. ES
Sy gehörte feine bejondere Propbetengabe dazu, und das Ereignis
ZA wäre noch rafcher eingetreten, wenn der Berfuh einer durch-
: u Grechenden Dffenfive nicht durch teilweife Erfolge die Hoffnungen
der Franzofen neu geftärft hätte. ALS diefe Ihwanden, bedurfte e8 nicht einmal
mehr des erfolgreichen deutihen Vorftoßes auf dem Balfan, um deu drei
Männern den Reft zu geben. Delcafie mußte fich einen guten Abgang zu
verjhhaffen, er jchied al8 Warner vor einem Unternehmen, das feine Unflugheit
beraufbejhworen hatte, für daS feine Klugheit aber die Verantwortung ab»
lehnte. Biviani dagegen und Millerand Elammerten fi an die Blanfen ihres
geborjtenen Schiffes; im immer wiederholten Abjtimmungen Tießen fie fi) das
Vertrauen der Kammer beftätigen, von dem Geber wie Empfänger wußten, dap
es jeit Monaten nicht mehr vorhanden war.
Es gehörte Mut dazu, ihre Erbichaft amzutreten und es dauerte lange,
ehe Briand feine Minifterlifte vollzählig beifammen hatte. Sie enthält zahl-
reiche Talente, aber abgejehen von ihrem Schöpfer Feine felbitändige Perjönlich-
feit, außer dem Kriegsminifter Gallieni und dem Marineminifter Lacaze, einen
‚tücdtigen, aber unpolitiiden Fahmann, der der Flotte nach dem völlig unfähigen
Augagneur dringend not tut. Die andern Mitglieder, mögen fie mit oder ohne
Bortefeuille in dem Minifterium figen, find Zugeftändniffe an die verjchiedenen
Sammergruppen, Agenten Briands, die in den Kommiffionen und in den
MWandelgängen des Palais Bourbon dafür forgen follen, daß die Regie der
öffentliden Tagungen Flappt, daß fi) bei den Abftimmungen ftet3 eine ftatt-
Iihe Majorität, wenn möglid) das Parkıment in Cinmöütigfeit zufammenfindet.
&3 kann nit als ein Zeichen von DBertrauen m die eigene Kraft gelten, daß
Gwengboten I 1916 8
34 Die neuen Männer in $ranfreicdh
Briand die Zahl diefer untergeordneten Minifter und Zwifchenträger um acht
vermehrt hat. Syn einer Zeit, wo der gefamte Vierverband nad einer einheit-
lihen Leitung und einer ftraffen Zufammenfaffung aller Kräfte jchreit, mo man
in England aus dem vielföpfigen Kabinett einen Tleinen Bollzugsausfchuß aus-
fondert, fchlägt Frankreich den umgelehrten Weg ein und erhöhte die allfeitig
begehrten Minifterftelen auf zwanzig. Die Nadilälen wurden dur) die Er-
nennung Bainleves zum UnterrichtSminiiter befriedigt, die unentwegten Kirchen»
feinde erhielten ihren Tribut durd) die Berufung Combes, des alten Kultur-
fämpfers, und felbjt den Stlerilalen wurde ein magerer Snochen zugemworfen,
indem man ihren alten Spezialiften für auswärtige Angelegendeiten, Denys
Kodin, allerdings ohne Portefeuille, in die gemifchte Gefellihaft einlud. Das
Mintftertum ift aus allen Barteien zufammengefegt, aber von einem Roalitions-
niniftertum weit entfernt. Die Nadilalen berrfhen, und wenn fie fih mit
anderen zufammengetan haben, jo follen ihnen diefe als Schwimmblafe dienen,
um das nicht fehr feetüchtige Fahrzeug über Waffer zu halten.
Die neue Regierung ift mit den üblichen bochtönenden Leitartifeln auf-
genommen worden, aber au mit aufrichtigen Hoffnungen und ernften Er-
wartungen. Sie Inüpfen fih an Gallieni, der fih im September 1914, als
er Paris in Verteidigungszuftand fehte, den Ruf eines hervorragenden Drgani-
fator8 erworben bat, und der von vielen für den eigentlichen, jhmählich ver-
Tannten Sieger an der Marne gehalten wird. Briand jelbft mit feiner „Si-
renenftimme“ ift nicht nur der befte Nedner, fondern auch) einer der Flügften
Köpfe Franfreihs, und wenn aud) feine Fähigkeiten, bejonders feine Energie,
vielfach angezweifelt werden, fo galt e8 doch als ein günftiges Zeichen, daß er
feine Stunde für gelommen hielt. Man erwartete von ihm die langerfehnte
„zat”, und wenn er in feiner Eröffnungsrede erklärte, der Augenblid gehöre
der Tat, fo fteigerte er’ dadurch gefhidt die allgemeine Hoffnung. ine Tat
hat er au vollbradit, fogar eine fehr fehwierige, auf die man am menigften
gefaßt war: er hat Poincar& in feine verfaffungsmäßigen Schranfen zurüd-
gewiefen. Mupte der PBräfident dulden, daß ihm das verhaßte rabifale Mti-
nifterium Viviani aufgezwungen wurde, fo Duldete deflen [hmächliche Advolaten-
feele da8 perfönliche Regiment des Lothringers. Briand machte dem ein Ende,
der Kampf war gewiß nicht leiht. Dagegen febte der neue Dann bie aus-
wärtige Bolitif feiner Vorgänger fort, wohl aus Mangel an eigener Erfahrung
auf diefem Gebiete. Das Ballanabenteuer wurde nicht aufgegeben zum Syubel
der offiziöfen Preffe, deren Reigen jebt Guftav Herve, ber Yugenfreund bes
Minifterpräftdenten aus längft vergangenen -anardiftifhen Tagen, führt. Da
die Laft für Frankreich allein zu jchwer war, wurde den Zeitungen ber Dlaul-
torb gelodert, um einen Drud auf die fäumigen Bunbesgenofien auszuüben.
Beichwerben über Rußland und Stalien wurden laut, die die verfprocdhene Hilfe
nicht geleiftet hätten, VBefhwerden über England, das feine Verpflichtungen fo
fäumig und widerwillig erfüle.. Man beichuldigte die britifche Flotte der Un-
Die neuen Männer in $ranfreid 35
adtjamleit, weil fie den deutfchen Unterfeebooten nicht die Durchfahrt von
Gibraltar gefperrt habe; auf die Niederlage von Sttefipton, als eine Folge
englifder egoiftiiher Sonderbeftrebungen, wies die offizißfe franzöfifhe Preffe
mit Taum verhehlter Schadenfreude hin. Bulgariens Überiritt zu den Mittel-
mächten, jowie die zögernde Unentjchloffenheit Rumäniens wurden auf das
Schuldkonto der Rufen gebudt, und die ungeheueren Dpfer an Menfchen, bie
Sranfreich gebradht babe, mit der überlegten Zurüdhaltung ber weftlichen Ber-
bündeten vergliden. Aber auch nad) Innen fuchte fi Briand zu beden und
die Verantwortung für das mazebonifche Abenteuer abzumälzen. Soffre wurde
zum Befehlshaber aller franzöfifchen Heere „erhöht”, jodak er auch Über den
Derbleib oder den Abzug der Drientarmee wenigſtens ſcheinbar zu entiheiden
hat. Man brauchte diefem pflichtbemußten Soldaten ohne politifhen Ehrgeiz
und ohne politifden Yernblid diefe feine Ernennung wohl nur als eine mili-
tärifche Notwendigkeit darzuftellen, um ihn geneigt zu machen, mit feiner Volls-
tümlichfeit den unbeliebten Ballanfeldzug vor dem Lande zu deden. Die Arbeit
wird für Briands Sirenenkünfte nicht fchmer gewefen und wird von Gallient
fiher nad Kräften gefördert worden fein, der dadurch eine Gelegenheit fand,
den ihm unfympathifchen Generaliffimus falt zu ftellen, den man offen nicht
zu befeitigen wagte. Nach der ungeheueren NRellame, die man für feine be-
fcheidene Tüchtigkeit gemacht bat, gilt er dem Heere und dem Volk als ber
unbeftegte und unbefiegbare Heerführer, der nur zu mollen braucht, um im
gegebenen Moment den Feind aus dem Lande zu jagen. Sein Abgang hätte
zu einem moralifhen Zufammenbrud geführt. So ehrte man ihn durch eine
befondere Auszeichnung, die ihm an tatfächlicher Macht nur den Vorfig in dem
buntfchedigen Kriegsrat von Engländern, Ruſſen, Italienern, Belgiern und
Serben läßt.
An Foffres Stelle trat als Führer der Norboftarmee der General de Gaftelnau,
der Bertrauensmann Gallienis. ES fiel dem SKrieggminifter fehwer, feine Er-
nennung durdygufehen, denn wenn die militärifcehen Fähigkeiten feines Schügling3
auch allſeitig anerkannt werden, fo ift er ein ftreng klerikaler Royaliſt. Zwei
Wochen ftreubten fich die herrfchenden Nadilalen, und es fheint, daß Gallieni
erit mit feinem Nüdtritt drohen mußte, ehe fie in verbiffener Wut nacdhgaben,
weil fie einen anderen SKriegsminifter nicht aufbringen konnten. Ihrem Kan⸗
dDidaten, dem Freimaurer Sarrail, der bon vor Monaten Millerand erjegen
follte, fehlte damals fchon der nötige Nimbus, und fein meilterhafter Nüdzug
vom Wardar war troß aller Anpreifungen nicht geeignet, ihm diefen zu er.
werben. Gallieni ift der ftarfe Mann im Kabinett, der eg in der Hand bat,
bie militärische Diktatur an fih zu reifen. Ein General als SKriegsminifter
war unter der dritten NRepublit niemals beliebt, der parlamentarifhe Gedante
verlangt einen aus der Kammer hervorgegangenen Zioiliften, feinen Kriegsmann,
der auf das Heer geftüht das ganze Minifterium beherriht und es jogar wagt,
firchlich gefinnte Unterführer zu ernennen. 8 tft nicht zu verwundern, daß
g*
86 Die neuen Männer in Sranfreidh
die radilale Preffe gegen ihn mobil madt. Die ftrenge Durdführung des
Gefeges gegen bie Drüdeberger, die Einberufung der Achtzehnjährigen und der
legten alten Jahrgänge gaben Gelegenheit, ihm mangelndes Verftändnis für die
wirtfhaftlichen Notwendigfeiten vorzumwerfen, Angriffe, die felbit in den Leib-
organen Briands mit unverhaltener Befriedigung wiederholt werben.
Mit neuen Männern, neuen Mintftern und einem neuen Führer des Yeld-
beeres, it Frankreich in den zweiten Kriegsmwinter eingetreten, verftimmt gegen
die eigene Regierung, die das Land - nicht aus der orientalifchen Sadgafle
berausgeführt bat, verbittert gegen die Bundesgenofien, die die verfprocdhene
Hilfe zu fpät und ungenügend geleiftet haben. Die Erkenntnis bricht fi Bahn,
daß die Ziele der Verbündeten weitab von den eigenen liegen, daß England,
Staltien und Rupland im alle eines Erfolges weit reichere Ausfidhten auf
Gewinn befiten, ja daß felbjt ein Sieg auf der ganzen Linie die ungebeueren
Opfer, die an Gut und Blut gebracht find, durch den geringen zu erhoffenden
Landerwerb nicht ausgleihen kann. Frankreich febt feine lebten Neferven ein,
es weiß, daß fein Spiel verloren ift, wenn die nädhjite Dffenfive nicht zu einem
vollen Erfolg führt, ja man fragt ih, ob die Kräfte ausreichen, felbjt einen
vollen taktifhen Erfolg aud auszunugen. Wird es troßdem das Nußerfte
wagen? Die Anzeihen fpredden dafür, daß die neuen Männer die Entiheidung
herausfordern werden, und fogar in nicht zu ferner Zeit. Der Bierverband
zeigt deutlich die Spuren von Riffen, die alle feine Beratungen nicht heilen
fönnen, fondern höchftens noch da8 fiegreiche Eifen.
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h)
Die Stellung der neutralen Schweiz zu Deutjchland
im Weltfriege
Don Profeffor Dr. Johannes Wendland
m Sabhr vor dem Ausbruch des Weltkrieges ſprach Karl Lamprecht
in feiner „Deutfchen Gefchichte der jüngften Vergangenheit und
Gegenwart” Bd. ITS. 405 die Hoffnung aus, „daß die Schweiz
ain den politiihen Stürmen der Zufunft auf deutfcher Seite zu
SE finden fein wird“. Lamprecht hat damit nicht gemeint, daß die
Schweiz in Konflitten dem Deutfhen Reiche Waffenhilfe Ieiften folle, wie denn
aud) niemand in dem Weltiriege die von der Schweiz verlangt hat. Aber
allerdings auf eine freundliche Anteilnahme des Gemüt hatten wir gehofft.
&3 hätte uns wohlgetan, wenn wir auf Grund der Kulturgemeinfchaft mit dem
dur Spradiverwandtichaft, wirtichaftliche und freundichaftliche Bande verfnüpften
Boll eine unzweideutige Parteinahme für Deutichland erlebt hätten. Unfer
Kampf für die deutfche Kultur follte alle, die der deutichen Geiftesart, ihrer
gründlichen Forfhung, ihrer Gemütstiefe, ihrem fachlihen Ernft, unferer Literatur
und Dichtung etwas verdanken, zu entichievener PBarteinahme veranlaffen. Wir
hätten uns über eine öffentliche Meinung gefreut, die Deutfchland al8 den
Angegriffenen .erlannte, die die Einkreifungspolitif Englands feit 1902 in ihrer
den Frieden gefährdenden Bedeutung durdfchaute, den franzöfifhen Revandje-
gedanken al8 Störer des Friedens anjah und die rufftiihe Ausdehnungspolitit
auf dem Ballan als das lebte zum Srieg führende Moment binftellte. Gbenfo
hätte uns eine unzweideutige Erflärung wohlgetan, daß die Berwendung farbiger
Truppen im enropäifchen Kriege zur Übertretung der humanen Formen ber
Kriegführung führen müflee Die Hineintragung des entopätfhen Strieges im
das Gebiet wilder Bölferfchaften in Afrita hätte ebenfo jcharfe Protejte erfordert
wie die Beteiligung der belgifchen Zivilbevölferung am Kriege, der von Eng-
land unternommene Berfuch, ein ganzes Voll auszubungern, die willtürliche
Auslegung des Begriffs der bedingten Konterbande dur England, die Lahın-
legung bes neutralen Handels mit den Zentralmädhten, die barbarifdhe Art der
Kriegführung NRuklands, die Vermüftung Dftpreußens, Galiziens, Polens.
&8 tft uns eine Enttäufchfung geweien, daß fild nicht einmal in der
deutfchen Schweiz eine einheitliche öffentliche Meinung über diefe Dinge gebildet
88 Die Stellung der neutralen Schweiz zu Deutfchldnd
—
hat. Auch bei ſtrenger Einhaltung der politiſchen Neutralität wäre eine andere
Stellungnahme möglich geweſen. Indeſſen wer die Schweiz nicht bloß auf
gelegentlichen Ferienreiſen beſucht hat und nicht bloß die Schweizer Berge und
die Schweizer Demokratie preiſt, ſondern die Schweiz auf Grund langjährigen
Aufenthalts in ihr kennt, konnte nicht verwundert ſein, daß in ihr ein viel⸗
gemifchter Chor von Stimmen aufgetreten if. So fei e8 mir vergönnt, in
ruhiger Darftellung der Tatfahen die Stimmungen, die zum Weltfriege bier
laut geworben find, zu fehtldern. Yan Eyffen hat in den Grenzboten 1915 Heft 11
©. 821 ff über die „marmorlalte Neutralität” der Schweiz geflagt und in
warmem Appell an die Schweizer ihre kritifchen Einwendungen zu widerlegen
geſucht. Er hat das Dhr der Schweizer nicht erreiht. Mir ift e8 mehr um
eine objektive Schilderung der Stimmung, um ein Verftändnis der eigenartigen
Lage und Schwierigkeiten der Schweiz zu tun. Und wenn ic maudje berbe
Kritit Deutihlands bedauere, fo tft do aud Grund genug da, fi über
andere Stimmen zu freuen. Txoß aller Rulturgemeinfchaft erzeugt die politifche
Sondererijtenz der Schweiz mit Notwenbigleit einen befonderen politifchen Willen,
ber feinen eigenen unabhängigen Weg geht und gehen muß. Damit müflen
wir Deutfhe uns abfinden. Die Kulturgemeinfhaft mit Deutihland foll nad
dem Willen der beiten Schweizer nicht aufgehoben werben.
Bereits ein Yahr vor dem Weltlriege glaubte der Redakteur der „Basler
Nachrichten”, Dr. Albert Deri, in den Süddeutfhen Monatsheften, Auguft 1913
zu dem angeführten Wort Lampredts fi äußern zu follen. „Zu Lampredt3
fchweizerifhen Zulunftsträumen“ verficherte er, daß der Neutralitätsmwille ber
Schweizer eine „einheitliche und ftarke politifche Überzeugung“ ift, wie ihn kaum
ein Boll der Erde in eben foldder Einheitlichfeit und Entfchiedenheit habe. Es
tft mit Händen zu greifen, daß die Schweiz durch ein politifches Bündnis ober
eine Barteinahme nichts gewinnen kann. Denn irgend eine GebietSermeiterung
liegt gänzlich außerhalb ihrer politifchen Ziele. m ihren größten Zeiten, im
14. und 15. Jahrhundert, Tonnte fie Weltpolitit im großen Stile treiben.
Seit dem 16. Jahrhundert etwa tft ihre dies ganz unmöglid. Nachdem fie
wider ihren Willen feit 1798 in bie Napoleoniihen Kriege verflochten wurde,
ift die 1815 von ihr felbft erflärte ewige Neutralität der jedem Schweizer ein-
leuchtende erfte Grundfag ihrer ausmärtigen Politil. Jede Übertretung der
Neutralität Iteße fie Gefahr laufen, ihre Unabhängigkeit für alle Zeit zu ver-
lieren. edes Bündnis mit irgend einer auswärtigen Macht ift für die Schweiz
ausgeiloffen. Die Schweiz nimmt es mit den Pflichten ihrer Neutralität viel
ernfter ald Belgien. rgendmwelde Abmachungen, die auch nur für die Even-
tualität kriegeriſcher Vermidlungen gelten follen, find für fie unmöglich. Das
elementarfte Gebot der Klugheit gebietet ihr diefe Haltung. Daß der fehweizerifche
Bundesrat die ftaatSrechtlich gebotene Neutralität in vollem Umfange gewahrt
bat, tft daher begreiflih. Cr bat jede öffentliche Propaganda für die eine oder
bie andere Partei verboten, die Zenfur der Preffe verhindert jebe gehäffige
Die Stellung der neutralen Schweiz 3u Deuifchland 39
— ——
Polemik oder Beſchimpfung eines der kriegführenden Staaten. Auch dies liegt
natürlich im eigenen Intereſſe des Landes, denn eine offene Propaganda würde
die Bevöllkerung ſelbſt zerklüften oder das Land in kriegeriſche Verwicklungen
hineinziehen.
Von dieſer offiziellen Neutralität iſt die perſönliche Stellungnahme ſcharf
zu unterſcheiden. Auch hier liegt es ähnlich wie im Jahre 1870. Damals
ergriffen durchaus nicht alle Deutſch⸗Schweizer reſtlos für Deutſchland Partei.
Es waren in erſter Linie die Gebildeten, beſonders die Gelehrten, deren Sym⸗
pathien auf Deutſchlands Seite ſtanden. Viele Kaufleute hatten Handelsbeziehungen
nach Frankreich, und das hatte einen bedeutenden Einfluß auf die Stimmung.
So kam es, daß die Parteinahme für und wider mauchen Stammtiſch zerſtörte,
ja zerllüftend bis in die Kreiſe der Familie wirkte. Damals ſtellten ſich in
Zürich Conrad Ferdinand Meyer und Gottfried Keller auf Deutſchlands Seite.
Meyer dichtete in jener Zeit „Huttens letzte Tage“ und bekannte ſein deutſches
Empfinden, als er ſchrieb: „Von einem innerlich gereiften Stammesgefühl jetzt
mächtig ergriffen, tat ich bei dieſem weltgeſchichtlichen Anlaß das franzöſiſche
Weſen ab und innerlich genötigt, dieſer Sinnesänderung Ausdruck zu geben,
dichtete ich Huttens Iehte Tage“. Aber E. F. Meyer und ©. Keller [dmammen
damals gegen den Strom in Zürid. Schon diefe Erinnerungen hätten ung
dazu führen follen, nicht gar zu viel von der Stimmung in der Schweiz zu
erhoffen.
Wir müffen und Mar maden, daß für jeden Staat die Sorge um das
eigene Wohl und Wehe voranftehen muß. So wenig einer rein egotftifchen
Politit damit dus Wort geredet werden fol, fteht doch für jeden Staatöbürger
bie Einheit in feinem eigenen Lande voran. Hier liegen nun eigenartige
Schwierigkeiten für die Schweiz vor. Die Einheit ded Landes ruht nicht auf
der Sprachgemeinſchaft, ſondern auf der Gefchichte, die die 22 Kantone zu einem
Ganzen verihmolzen bat. 70 Prozent Deutichredende ftehen 22 Prozent
franzöfifh Sprechenden, 7 Prozent italienischen Schweizern und 1 Prozent Räto-
Romanen im Kanton Graubünden gegenüber. Ein eigentliher Spradhenlampf
wird nicht geführt. Vielmehr gilt es als Pflicht, daß der Deutfchicehweizer fich
eine möglichft große Vollendung im Franzöfifchiprechen erwirbt. Der franzöfllde _
Schweizer empfindet diefelbe Pflicht, wenn er auch im Durchſchnitt nicht die⸗
felbe Fähigleit fich aneignet, die dentide Sprache zu beherrihen. Wo Deutjch-
und Welfch - Schweizer fih unterhalten, wird daher das Franzöſiſche
vorberrfhen. Der Schweizer pflegt e8 meist nicht zu verftehen, daß Deutfchland
nicht Ddiefelbe Gleihgültigleit in der Spracdhenfrage walten läht wie er. Er
wundert fi, daß man im Elſaß, in Mülhaufen und in Lothringen, in Meb
nicht jeden reden läßt wie er will; er zudt die Achfeln über die Bemühungen
bes preußifchen Staates in Pofen, der deutfhen Spradhe zu ihrem Rechte zu
verhelfen. Daß Deutfhland auf einer einheitlichen Kultur und Sprache beruht,
und da& die Verfuche, eine fremde Sprahe im Deutfchen Reich zu ftärken,
40 Die Stellung der neutralen Schweiz zu Deutfchland
bewußt ober unbewußt mit reichsfeindlichen Tendenzen zufammenhängen, ijt
ihm ſchwer klar zu machen. In der Schweiz gibt es feinen Schweizer, der
ernftli etwa in den welichen Kantonen eine ftaatliche Anglieverung an Frank⸗
reich oder im Teffin an Stalten oder in Schaffhaufen an Deutichland befür-
wortete. Er verfennt die eigenartig fehwierige Lage Deutichlands oder Löft fie
jehr einfach) mit der Forderung eines Plebiszits für die Bevöllerung in Eljaß-
Lothringen, in den polnifhen Gebieten und in Nord-Schleswig. Daß durd
jede Vollsabftimmung eine Vergewaltigung beträchtlicher Miinoritäten bervor-
gerufen wird und die rechtlichen Schmwierigleiten unlösbar werben, >
gewöhnlich überfehen.
Eine eigentlide Gefahr, daß etwa die deutfhe Sprade und Balkan in
der Schweiz allmählid von der franzöfifhen aufgefogen werde, beiteht nicht.
Zwar dringt an der Spracdharenze im Kanton Bern das Franzöflihe um ein
weniges vor. Dies hängt mit ber Ausbreitung der Uhreninduftrie zufammen,
die mwelfch-fchweizerifche Arbeiter in beutfch-fehweizerifche Gegenden führt. Dafür
weicht allmählich in Graubünden die zwifchen dem talienifchen und Lateinifchen
ftehende romanische Spradde zugunften des Deutihen, da fie einen zu Meinen
Spradjiplitter bildet und die romanifed Spredenden daher auf eine zweite
Sprade angewiefen find, wenn fie im fozialen Leben vorwärts fommen wollen.
Schon 1918 verfidderte Albert Dert in den Sübdeutfden Monatsheften,
Auguft ©. 587: „Wir deutiche Schweizer wollen unfern welfhen Landslenten
dur Parteinahme für Deutihland nicht weh tun, fo wenig wie fie ung dur)
Parteinahme für Srankreih. Denn, was man, au draußen darüber denfen
mag: der Schweizer fremder Zunge tft dem Schweizer lieber al der Ausländer
gleiher Zunge. Das beruht nicht auf Tühlem Denlen, fondern auf fiherm
feeliiden Empfinden.“
Diefe Stimmung des Schweizer Bolls haben wir uns vielleicht nicht
genügend Mar gemadt. Und doc tft fie das einzig Mögliche für einen Staat,
der ernftlich zufammenbalten will. Der Staatsgedante muß das zufammenhaltende
Moment fein. Wenn der Kulturgedante in Konflilt mit dem Staatsgedanken
tritt, muß er fo gewandelt werden, daß diejer Konflikt überwunden wird. So
ift au aus dem Schweizer Staatsgedanten heraus der Kulturgedanke formuliert
worden. Die Schweiz hat die Aufgabe, da8 germantichhe und das romanifce
MWejen zu verföhnen, die beiden fich gegenfeitig befämpfenden Kulturen, die
Do auf Ergänzung angewiefen find, auszugleichen. *) Im der Tat fann man
fagen, daß auf diefe Weife aus der Not eine Tugend gemadit tft. Der Staats-
gedante muß mit dem SKulturgedanten innerlih ausgeglichen werden. Die
Kulturaufgabe der Schweiz Iäßt fich fhwerlich anders formulieren. Deutiche
Gründlichkeit und Gedanlenfchwere fol mit franzöflfcher Eleganz und Form«
*) Eduard Blocder: Die Schweiz ald Berföhnerin und Bermittlerin gwifchen Frankreich
und Deutſchland, Zürich 1915.
Die Stellung der neutralen Schweiz zu Deutſchland 41
vollendung verbunden werden. Doch mag man nicht Überfehen, daß die auf
Calvins Reformation fi) jtügenden Kantone Genf, Waadt, Wallis, Neuenburg
einen recht anderen Charakter zeigen ald das durch Austreibung der Hugenotten
ärmer gewordene Franlreich. E83 wird fi) fragen, ob die Kulturgemeinfchaft ziwifchen
germaniſchem und romaniichem Wefen in der Schweiz eine Weltbedeutung gewinnen
fann. Yeder Staat, der innerhalb der Völfergemeinfchaft Eriftenzberechtigung haben
mil, muß fih irgend eine Weltbedeutung zufchreiben. Aus diefem Gefühl
beraus hat die Schweiz den Gedanken der Verföhnung der Kulturen, bes fried-
lichen Ausgleich8 der ftreitenden Parteien, jchließlich das deal des Weltfriedens
auf ihre Fahnen gejährieben, ja eigentlich jchreiben müflen, um ihre Bedeutung
als notwendiges Glied der Völfergemeinfchaft zu bemeifen.
Wenn nah dem Welifriege die einzelnen Staaten und Kulturfreife fich
mehr gegeneinander abfäließen, an ihren Grenzen bleibende Schübengräben
aufwerfen und auch geiftig lieber Schügengräben aufwerfen al8 Brüden bauen,
fo wird die Schweiz diefe Beftrebungen nicht mitmachen. Ste wird ihre Hotels
jedem öffnen, internationale Kongrefje werden vielleicht eher in ihr alS anderswo
möglich jein. Aber man wird ihren Einfluß nicht überfhäben dürfen. Ste
vermag die Kulturen nicht zu verjühnen. Nur wenn birelte Yäden binüber
und berüber gefponnen werden, wird etwa auf Schweizer Boden ein bequemer
Treffpunkt fein, wie denn der Weltfriede möglicherweife in Bern gefchloffen
werden Tönnte. |
Gibt es überhaupt eine einheitliche fchweizerifche Kultur? Kann man bie
Schweizer eine '„Nation” nennen? Dieje Fragen find in den lebten Jahren
bejonder8 viel in der Schweiz erwogen worden, am häufigiten in der Schweizer
Zeitfehrift „Wiffen und Leben”, Zürich, Verlag von Rafcher. Dan wird ant-
worten müfjen, daß „Anfäbe zu einer gemein-jchweizeriihen Kultur” vorhanden
find.*) Aber eine gefchloffene Einheitskultur tft in einem drei- oder vierfprachigen
Lande nicht möglid. Die Geihichte Hat die 22 Kantone zufammengeführt.
Sie halten troß der Verfchiedenheit der Spraden und ber Stonfeffionen zu-
fammen. Aber da8 Zufammenhaltende ift der politifhe Wille. Exit aus ihm
ergibt fi die Kulturaufgabe, die vorhandenen fpradlidden und nationalen
Berihiedenheiten zur gegenfeitigen Bereiherung zu gebrauchen, fie nicht zu
GSegenfäten auswachfen zu laflen. Aber gerade die beften Deutſchſchweizer
betonen heute fo energifch wie je, daß ihre eigne Kultur ohne Berbindung mit
den Nadbarländern verborren müßte. Sie weifen mit Stolz darauf hin, daß
fie gute, echte Germanen feien, ja daß ihre demofratifhen Einrilätungen durch-
aus auf echtgermanifhen Boden gewadjen feien. E$ find auch vorwiegend
Deutichfchweizer, melde uns verfihern, eine wie große Bereicherung ihres
MWeiens fie durch PBerarbeitung bdeutfcher und franzöfifcher Kultureinflüfje er-
fahren haben. So erzählt 3. 3. der Basler Literaturhiftoriter Profeffor Albert
*) Roman 3008, Der europäifche Krieg und unfer fhweiger Krieg ©. 40.
42 Die Stellung der neutralen Schweiz zu Deutichland
Geßler, unter der Überfchrift „Zwifchen zwei Kulturen“ (in dem Sammelband
„Wir Schweizer, unfere Neutralität und der Krieg“ Geite 78 bis 88), wie
viel er der deutfhen und der franzöfifchen Literatur verdanke. Diefe Deutfch-
fchweizer bemeifen bamit die ftärfere Fähigleit des deutichen Geiftes, fremden
Kulturen gerecht zu werben. GCtwas äußerlih faht Konrad Falle (Ser
fchwetzerifhe Kulturwille, Zürich 1914) die fehweizerifhe Kultur auf, wenn er
als ihr erjtes Erfordernis den Unterricht in den drei Landesipradden für alle
Schweizer Gymnaften verlangt. ALS mejentliches Hilfsmittel für die Schaffung
einer Schweizer Kultureinheit fieht er „ein für alle Gymnafien gleihlautendes
Lefebuh“ an, „das aus den drei Literaturen in den drei Spraden Driginal-
proben enthält.“ (Seite 23). Er will fogar den Unterricht in den Hafitichen
Sprahen diefer Forderung zu Liebe einichhränten. Falles Borichläge
haben au tn der Schweiz Ablehnung erfahren.”) Als der nationale
Wille der Schweiz Tann vielmehr gelten: 1. politiih zufammenzubalten.
2. bie bdemokratifhen inrichtungen des Landes zum Gedeihen des Bater-
landes zu pflegen. 3. die Zulturellen Gegenfäbe nicht gegen einander
auszufpielen, fondern zur Bereicherung des eigenen Wejens zu benupen.
4. wenn möglich, darüber hinaus zur Verföhnung der Völker, vielleicht gar
zum Weltfrieden etwas beitragen zu fönnen.
Eine ftarfe Krifis befam die nationale Einheit im Anfang des Weltkrieges.
Deri hatte die Deutfh-Schweizer richtig beurteilt. Bei ihnen ftand das Staats-
gefühl voran. Aber über die MWelfh-Schmweizer hatte er fich getäufcht. Yaft
ausnahmslos haben fie für Franfreih Partei ergriffen, ohne zu fragen, ob
dies den Deutfh-Schweizern gefallen werde. Die franzöfiihen Lügen über
deutfhe Greuel find dort in weitem Umfange geglaubt worden. Profeflor
Rappard in Genf erflärt felbit, es gelte den meilten Welich-Schweizern als
- eine ausgemadte Sache, „daß die Zentralmächte und in erfter Linie Dentich-
land für biefen Krieg und für die ihn bezeichnende befondere Härte und grau-
fame Kriegführung verantwortlich find.” („Zur nationalen Berftändigung und
Einigkeit“, Züri), 1915 Geite 29). Woher diefe erftaunliche Leichtgläubigkeit
und Urteilglofigleit? Sie ging foweit, daß die eidgenöffifhe Poftverwaltung die
Berfendung von Drudjacdhen über deutfche Greuel von Laufanne aus unterjagen
mußte. Der erfte Grund ift die fühländifche Leidenfchaftlichleit und Heftigkeit
im Ürteilen und Verurteilen. Das beikere Blut verhindert ein ruhiges Nach.
prüfen, eine objektive Kritil. Der Deutfh-Schweizer ift viel nüchterner; der
deutfche Geift der Kritil und Selbftkritif eignet ihm viel mehr. ALS zweiter
Grund fommt hinzu: die welihe Schweiz ift weit mehr in ihrer Literatur
von Franfreih abhängig als die deutfhe Schweiz von DVeutihland. Denn
tro alles ftarfen Kultureinfluffes werben doch die Anregungen von Deutfd-
land in der beutfchen Schmeiz felbftändiger verarbeitet. Der beutjche Indivt-
“2. 8. von Roman 8008 a. ©. ©. 56.
Die Stellung der neutralen Schweiz zu Deutfdhland 43
bnalismus bat in der deutfchen Schweiz ein eigenartiges, felbftändiges Kultur-
zentrum gefehaffen. Wenn aud Gottfried Keller nicht davon wiffen wollte,
daß e8 eine fchweizerifche Nationalliteratur gebe, fo fann man dod) mit bem-
jelben Recht wie von einer jchwäbtichen Dichtung und einer Münchener Kunft
von Schweizer Literatur und Kunft reden. Der welche Schweizer Iieft viel
weniger die Literatur, die aus der beutfchen Schweiz zu ihm kommt, als der
deutiche Schweizer die Erzeugniffe der welchen Schweiz. Der Zufammenhalt
der Schweiz beruht do mehr auf den beutichiprechenden Kantonen. Ein
dritter Grund wird von NRappard (a. a. D. Seite 38) fo formuliert: Dem
Tranzofen wie dem franzöfifhen Schweizer eignet ein Hang zur logifhen Klar-
heit. „Sein lateinifches Bebürfnis nad) Klarheit und feine geiftige Ungebuld
verführen ihn leicht im Erfaffen komplizierter menfchlicher Verhältniffe zu frag-
lichen, oft ganz fehablonenhaft verzerrenden Vereinfadhungen.” Das in Franl-
rei fabrizierte Schredbild deutfcher Barbarei bat vielen eingeleuditet. So
berriäht bei vielen Welfch-Schweizern blinder Deutfhenhaß. Die Gefahr, daß
bie geiftige Gemeinfchaft der Schweiz völlig in die Brüche ginge, war eine
Zeit lang geradezu bebroblih. Das Buch „Wir Schweizer, unfere Neutralität
und der Krieg. Eine nationale Kundgebung“, Züri 1915, hat wefentlich
zur @inigung beigetragen. 36 Verfaffer haben fi der Hauptjadhe nad) über-
einftimmend zur Yrage der Neutralität ausgeiprocdhen, 5 davon in franzöflicher
Spradhe. Die gemeinfame Überzeugung befteht darin: Neutralität verpflichtet
die Schweizer nicht dazu, überhaupt feine Meinung zu haben, fondern fie mit
Zaltgefühl und Gerechtigkeitsfinn zu äußern, nicht den blinden Haß der Par-
teten mitzumachen, fondern das Gute bei allen Nationen anzuerlennen und die
Berftändigung unter den ftreitenden Parteien zu fördern. Auch der Vortrag
von Karl Spitteler „Unfer Schweizer Standpunlt”, Züri 1915, war zu dem
Zwed gehalten, die drohende Kluft zwilhen Deutich - Schweizgern und
Welid-Schweizern zu überbrüden. Der Bortrag war nit an die Abdrefle
ber Deutichen gerichtet, jondern an die der Schweizer. m der Schweiz hat
der Vortrag tatfählih zur Einigung beigetragen, und murde von manden
geradezu al das Löfende Wort betrachtet. Er enthält die Mahnung, der
Schweizer müfje zunächft den Schweizer verftehen. Erft in zweiter Linie lomme
die Verftändigung mit den andern Nationen. Das beite an dem Vortrag ift
der Schluß (Seite 22 bis 23). „Die patriotifhen Phantaflen von einer vor-
bildlihen (oder fehtedsrichterlihen) Miffion der Schweiz, bitte möglichft leifel
Ehe wir andern Böllern zum Vorbild dienen Tönnten, müßten wir erft unfere
eigenen Aufgaben mujftergültig Löfen. Mir fcheint aber, das jüngfte Einigungs-
eramen haben wir nicht gerade fehr glänzend beftanden”.”) Dann vergleicht
*) Ebenfo verfihert Brofefior Eberhard Bilder aud Bafel (Wir Schweiger, unjere
Neutralität und der Krieg Seite 211): „Wir geben uns nicht der töridhten Einbildung Hin,
daß wir Schweiger vermöge unferer einzigartigen Zage befähigt feien, ein objeftive® Urteil
44 Die Stellung der neutralen Schweiz zu Deutfchland
Spitteler den europäifhen Krieg mit einer Tragödie und einem Leichenzuge.
„Wenn ein Leichenzug vorübergeht, was tun Sie da? Sie nehmen den Hut
ab. ALS Zufhauer im Xheater vor einem ZTrauerfpiel, mas fühlen Sie da?
Erjhätterung und Andadt. Und wie verhalten fie fih dabei? Still, in er-
griffenen, demütigen, ernftem Schweigen.”
So fei e8 aud jeht. „Wohlen, füllen wir angefichtS Diefer Unfumme von
internationalem Leid unfere Herzen mit fehweigender Ergriffenheit und unfere
Seelen mit Andacht, und vor allem nehmen wir den Hut ab! Dann ftehen
wir auf dem richtigen neutralen, dem Schweizer Standpunft“.
Ya, wenn nur der ganze Vortrag ein wenig von diejer Andacht und ſchweigenden
Ergriffenheit gehabt hätte! Statt deſſen iſt er in einem burſchikoſen, teils witzigen,
teils höhniſch⸗ſpottenden Ton gehalten. Man kann es keinem Deutſchen verargen,
wenn er ſich mit tiefer Betrübnis fragt: Iſt denn hier die Kulturgemeinſchaft,
die Spitteler bisher mit dem Deutſchtum verbunden hat, ſo völlig verſchwunden?
Ich will hier nicht noch einmal auf die beleidigenden Äußerungen Spittelers
eingehen, da fie läͤngſt zurückgewieſen ſind. Spittelers Vortrag zeugt nicht von
einem politiſchen Verſtändnis für internationale Verwicklungen. Er äußert ſich
möglichſt unpolitiſch, derb. „In der Tat läßt ſich die ganze Weisheit der
Weltgeſchichte in einen einzigen Satz zuſammenfaſſen: Jeder Staat raubt, ſo
viel er kann. Punktum. Mit Verdauungspauſen und Ohnmachtsanfällen,
melde man ‚Frieden‘ nennt... . Und zwar je genialer ein Staatsmann,
deito ruchlofer. Bitte diefen Sa nicht umlehren!” Kann man verftändnislofer
von der Kulturaufgabe des Staates und von den tragifchen Konflikten zwiſchen
den einzelnen Staaten reden? CS fcheint, daß Spitteler die Schweiz für den
einzigen Staat hält, der fi von der unmoralifhen Politik frei Hält. „Wir
treiben ja feine hohe, ausmärtige Politif” mit Bündniffen. Ach würde diefe
Säte de3 ganz unpolitifch denfenden Spitteler nicht anführen, wenn fie nicht
zeigten, wie fchwer es in der Schweiz vielen tft, ein Verftänbnis für die Auf-
gaben eines Großitaates wie Deutfchland zu gewinnen, der allein fchon durd)
feine Eriftenz im Zentrum Europas und feine ungefhhüßten Grenzen zur mili-
täriihen Machtentfaltung gezwungen ift, um fich zu verteidigen. Wir haben
e8 erlebt, daß ohne jeden deutſchen Übergriff unſere ſteigende Induſtrie,
unfer zunehmender Handel, unfere Schiffahrt nach fremden Welttellen die Ger
lüfte Englands erwedten, den unbequemen Konkurrenten loszuwerden. Die
Sorge eines Staates, wie feine wachjende Einwohnerzahl Brot finde, die Ful-
turelle Friedenstätigfeit, wird von Spitteler als nicht vorhanden betrachtet.
über den Krieg abzugeben und die Schuld der einzelnen Wöller gerecht abzumwägen.” Die
jelbe Mahnung fpridt die verftändige Schrift von Moman B008 auß (Der europäifche Krieg
und unfer jhiveiger Krieg, Zürich 1915 Seite 24): In der Tat ift e& eine große Berfuchung
für ein neutrale® Land, daß es feine paffive Molle zu einer Art Weltrichteramt benukt.
8008 führt Anzeichen eines folhen hochmütigen Nichtenz an.
Die Stellung der neutralen Schweiz zu Deutfchland 45
NIS ob nicht für die Schweiz aus Spittelers Sägen folgen würde: Wenn du
nur lönnteft, müßteft du ebenfo viel wie die andern rauben! Weil du e8 aber
nit fannft, mußt du aus lauter Egoismus die internationale Friedensfahne
berausfteden.
Zatfähhlic hat Spitteler e8 mit verfchuldet, wenn der Schein erweckt ift,
ala dürften die Welfh-Schweizer ihr heißes Blut, das ihnen immer als ge-
nügende Entjhuldigung zugute gehalten wird, zugunften der Franzofen zum
Sieden bringen, der Deutfy-Schmweizer müßte dagegen, um nur ja die Staat3-
einbeit nicht zu ftören, alle Raffen-, Rultur- und Sprachgemeinfhaft mit Deutfc)-
land verleugnen. Nach Spitteler Liegt in der Sprachgemeinſchaft nichts anderes
al ein Stüd „Philologie“. Und die lönne doch nicht entfcheidend fein.
Derartige Entgleifungen Spitteler8 haben nun glüdlicherweife nicht bloß in
Deutichland, fondern auch in der Schweiz zu einer energifhen Zurechtweifung
geführt. Einer der bedeutendften Profefjoren der Univerfität Bafel, ihr gegen-
wärtiger Rektor, Paul Wernle, bat in feinen „Gedanken eines Deutich-
Schweizers“, Züri, 1915, das beite Verftändnis für deutſches Weſen und
deutfche Geiftesart bekundet. Er ift mannbaft gegen Spitteler aufgetreten.
„Es ſteht nädjitens fo, daß vom angebli einzig FTorreften fchmeizerifchen
Patriotismus aus uns Deutfch-Schweizern der Gegenfah gegen Deutichland zur
Pfliht gemacht werden fol. mdeflen wird e8 uns immer freijtehen, unfere
Sypmpatbien dem Land zuzumenden, zu dem uns da3 Gefühl tiefer geijtiger
Berwandtichaft zieht, ohne daß wir deshalb um unfern PBatriotismus beforgt
zu fein brauchen“. „Das eine wollen wir uns ausgebeten haben: man ver-
fhone uns mit Weifungen und Richtlinien, nach welcher Seite unfer Herz fi
wenden fol. Dan gebe uns feine Leltionen über echten fchmeizerifchen
Batriotismus und beberzige lieber die Tatfache, daB unfre größten Schweizer-
dichter der neueren Zeit (&. F. Meyer und ©. Keller) in einer Schidfalsftunde
Deutfhlands völlig deutfh empfunden haben”. Wernle ift ein aufrechter,
gerader Mann, der den Mut hat, auch gegen den Strom zu fehwimmen und
offen, ja rüdjichtslos für das eintritt, wa8 er für Net erfennt. Seine Schrift
hat ihm zahlreiche Zuftimmungsäußerungen aus der Schweiz eingetragen, das
beweift alfo, daß es falfeh ift, wenn man glaubt, Deutfhland habe feine Sym-
patbieen in der Schweiz. Ein Nebakteur der deutfch-freundlihiten Zeitung der
Schweiz, des „Basler Anzeiger”, berichtete im vergangenen Herbit auf Grund
feiner Neifeerlebniffe in Deuti'jland, die Stimmung gegenüber der Schweiz fe
dort fo abgekühlt, daß man die Schweiz beinahe für deutfchfeindlih halte.
Derartige Wirkungen eines fteten Abrüdens von Deutfhland megen bes jchmei-
zerifchen einheitlichen Kulturwillens find begreiflih. Xrogdem find fie falic.
Mir wollen nicht verlangen, daß unfere nationale Empfindung in der gleichen
Zonart oder gar in berfelben Stärke uns aus der Schweiz entgegenklinge. Wir
haben im Anfang des Krieges in großer Gutmütigfeit geglaubt, die Töne
nattonaler Begeifterung, der Enträftung über unfere Geguer, unjere Sieges⸗
46 Die Stellung der neutralen Schweiz zu Deutfdhland
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zuverficht müßten, den Neutralen übermittelt, dort dieſelben Empfindungen
wecken. Wir find fein Voll von Diplomaten. In geſchickter Bearbeitung der
Nteutralen waren unfre Gegner ung überlegen. Erft die deutfchen Taten haben
eine farere Sprache geredet als die gefdhicten Ränfe unfrer Feinde. Auf die
vielen, von den Prefjebüros in die Schweiz gefandten deutffhen Propaganda-
{hriften antwortet Spitteler (Seite 15): „Haben denn die Herren die Fühl-
hörner verloren, daß fie nicht mehr fpüren, wie man zu andern Völkern fpricht
und nicht fpricht“. Wir haben geglaubt, die offene gerade Ausipradde unferer
Meinung in derfelben Art, wie fie in der Heimat am Plape ift, wirle am
beiten auch draußen. Die beutfche Geradheit bat es nicht verftanden, Die
Mirkung ihrer Worte auf Andersdenfende zu berechnen. Daß der Deutiche im
Auslande fih leichter mißliebig mat als andere, Tiegt ebenfall® darin be-
gründet, daß er fih draußen ebenjo gibt wie daheim, ohne viel Berechnung,
mit derfelben Gerabbeit, zuweilen mit ein wenig NüdfichtSlofigfeit, die als offene
Äußerung feines Wefens verftanden werben fol, meift aber viel ärger gedeutet
wird, als fie gemeint if. Die englifche Zurücdhaltung und die franzöfifche
Höflichkeit, die immer freundliche Worte bat, auch wo das Herz ganz anders
dentt, gefält im Auslande beffer.
Mernle hat ein tiefes Verftändnis für die Schiefalsjtunde Deutjchlande,
das gegen eine Übermaht von Feinden feine Kultur verteidigen muß. Er
entrolt als Hiftorifer ein feines Bild davon, in welcher Weife die deutfchen
Einflüffe feit Luther in der deutfchen Schweiz verarbeitet wurden. Er hält
feinen Freunden in der weljchen Schweiz vor, wie ungerecht e& ift, die beutfche
GSeiftestultur zu loben und auf den böfen „Militariemus” zu fchelten. Cr hält
ihnen vor, wie die elementarfte politifhe Einficht jedem fagen muß, daß ein
Boll in der Mitte Europas mit ftarfer Fauft feine nationale Eriftenz fchüben
muß. Ale Anflagen gegen den deutfhen Militarismus befagen nach Werne
nur: „shr Deutihe feid uns recht und lieb, wenn ihr eure Wifjenfchaft pflegt
und eure Kunft und ftille, fleißige harmlofe Nachbarn von uns bleibt und babei
zufhaut, wie die anderen Völfer die Welt unter fi) austeilen, und ohnmädhtig
jeden Schimpf euch gefallen laßt, den die Nachbarn von reht8 und von inte
und übers Meer euch antun”. E38 berrfcht tatjächlich viel unpolitiſche Naivität
in einem Lande, das feine auswärtige Politil treiben fann und darf. Beffer
als Wernle fönnen au) wir nicht die Verbindung einer geiftiigen Kultur mit
einer zur Abwehr bereiten NRüftung verteidigen. Wernle glaubt, daß es ben
Welſchſchweizern „in Beurteilung diefer Fragen einftweilen an jeder Billigfeit
fehlt, daß noch feiner von ihnen auch nur verfucht bat, Deutichlands Politit
zu veritehen”. (Seite 20).
Sreilih ein Punkt bleibt auch für Wernle übrig, an dem feine Fritil
beginnt. €8 ift der Punkt, an dem die fehweizerifhe Polemik von Anfang an
eingejegt bat: die Verlegung der belgifchen Neutralität. Nur ift Wernles Kriif
verftändiger und billiger. Wir Deutiche Tönnen es begreifen, daß die harte
Stiedensziele der Elektrotechnif 47
Notwendigkeit, durch Belgien durcdhzumarfchieren, in der Schweiz zuerft Die
Empfindung auslöfte: Wenn der Sah „Not lennt fein Gebot” feine Anwendung
-auf die Schweiz verlangen würde, hätte die Schweiz dasjelbe Schidjal erfahren
wie Belgien. So gibt Wernle dem Empfinden feines Vaterlandes Ausdrud:
„Bir denken in der deutfchen Schweiz nicht daran, die Verlegung der belgiichen
Neutralität dur) Deutihland zu rechtfertigen, wir haben dazu gar Feinen
Grund“. Sämtliche VBerfuche, die wir gemacht haben, 5 fer Vorgehen zu recht-
fertigen, find in der Schweiz wohlbelannt. Sie haben nicht vermodt, in einem
Zande Eindrud zu maden, defjen Außere Politil, ja nationale Eriftenz auf das
Neutralitätsprinzip gegründet fit. Ya, eine Zeitlang waren die Augen mander
Schweizer jo ausjhließlih auf Belgien gerichtet, daß es feheinen Tonnte, als
drebe fidh der ganze Weltkrieg un die belgifche Neutralität. Bei Wernle finden
wir wenigftens einen Verfudh, bie Verlegung der Neutralität „einigermaßen
nad) dem Grundfag der Billigfeit zu verftehen” (Seite 23). Er findet e8 zwar
fehr ideal, wenn man fagt: „Lieber ehrenvoll untergehen, al3 Bruch eines ge-
fchriebenen Vertrages”. Aber ob das mehr al8 Worte find, ob irgend ein
Staat anders gehandelt hätte, ob Frankreich) oder England e8 anders gemadt
bätten, bezweifelt er mit Net. Inzwiſchen iſt nun Griechenlands Neutralität
ohne Not von England und Frankreich verlest. Diefe Tatfachen haben au
n der Schweiz ihren Eindrud nicht verfehlt. (Schluß folgt.)
a
205
EN I ui D\ y 5
um
el
Sriedensziele der Eleftrotechnif
Don Öberingenieur £ajos Steiner, Siemensftadt
SS ie Erörterung diefer Frage wird wohl mandem als verfrüßt, ben
| Ereigniflen weit vorauseilend, erfcheinen. Sie werben fi) an ber
Bi Bezeihnung Friedensziele ftoßen und merden fie inmitten bes
AP Weltkrieges als wenig zeitgemäß empfinden. Wenn aud) die Er-
Ze wähnung des Friedens im allgemeinen von unferen redegemandten
Feinden als Schwäche gedeutet werden könnte, weldder Auslegung zum Glüd
die Zatfachen widerfpreden, fo darf man im befonderen auf dem Gebiete ber
Snduftrie getroft von Friedenszielen fprechen, ja man muß fogar darüber reden.
a der Nummer 470.%.1915 der „Srenzboten“ habe ich Die Aufgaben geftreift,
bie der eleltrifhen Induftrie durch den Krieg erwachlen find, und auf die mannig-
fahen Schwierigleiten bingewiefen, die fie wegen der leidigen Robftoffrage zu
48 Stiedensziele der Eleftrotechnif
überwinden hatte. Am Schluffe meines Auffates deutete ich die Richtung an,
in welder Forfider und BPraftiler zu fchaffen haben werden, um aus den An«
ftrengungen der Not einen ‚bleibenden Gewinn für die Glektrotechnif zu erzielen.
. @8 wird demnad) das erfte Friedensziel der eleftrotechnifchen Wiffenfchaft fein,
zu prüfen, inwieweit man die Erzeugnifje der elektrifhen Induftrie bei mög-
liäfter Sparfamfeit mit den im Lande nur in geringen Mengen gewonnenen
Nobftoffen wie Kupfer, Nidel und Gummi, und doch in jener Vollendung ber-
ftelen Tann, die ber beutfchen Gleftrotechnif den Weltruf verjhafftt. Zwei
Gründe fpredden für die Verfolgung diefer Ziele. rftens ftreben wir eine
möglichfte Unabhängigkeit von dem Auslande an, indem wir ung mit manchen,
im Lande felbft gewonnenen Robftoffen, die wir zunäcft noch als Grjaßftoffe
bezeichnen, bebelfen, folglih auch das Geld im Lande behalten, und durd) die
Eriparnifie an Fradten und Zöllen billiger produzieren lönnen, zweitens unter.
jtüägen wir den heimifchen Bergbau und die heimifche Hütten- und dhemiiche
Snduftrie, da in Zulunft ihre Erzeugnifje in höherem Maße als bisher von der
Glektrotechnif benötigt und verbraucht werden. Durch die billigere Produftion
ſchaffen wir der eleftrifchen Induftrie neue Abnehmer auch in Kreifen, in benen
die eleftrotechnifchen Erzeugniffe biß jet zu teuer waren. Dur die Ein-
führung und die Popularifierung der &lekirizität verbreiten wir die Kultur in
weiteren VBollsfhichten und [&haffen vielen Taufenden von neuen Händen Arbeit
und tragen zur Erhöhung des Vollswohlftandes bei.
Der Friede, der früher oder fpäter gejchloffen wird, darf die eleftrifche
Snduftrie nicht unvorbereitet treffen. Die Vorarbeiten müfjen nad) drei Rid’
tungen gefördert werden. Die durch den Srieg unmittelbar verurfadhten Ber
jhädigungen und Zerftörungen an elektrifchem Material müfjen befeitigt werden.
Die mittelbaren Schäden, die durdh die infolge Nohftoffe und Arbeitermangel
nicht rechtzeitig ausgeführten Aufträge der Vollswirtfchaft ermachfen find, müffen
jo chnel wie möglich behoben werden. E83 muß getracdhtet werden, diejenigen
Snduftriezmeige, welche zur Befriedigung des Friedensbedarfes dienen, wieder
zur Blüte und zur höchften Entfaltung zu bringen.
ndem ich die Befeitigung der durch den Krieg verurfachten unmittelbaren
Schäden als erfte Notwendigkeit bezeichnete, dachte ich natürlich In erfter Linie
an die im Gebiete des deutfchen Heiches und demjenigen unferer Verbündeten,
in Oalizien, in der Bulowina und in Ungarn zerftörten Elektrizitätswerlfe und
jonftiger eleltrifhen Anlagen, deren Wiedererrihtung und nbetriebfegung die
Vorbedingung der Herftellung des Wirtichaftslebens, wie es Mh vor dem Striege
abwidelte, if. Zum Glüd bat der Feind in unferen Gebieten nur voräber-
gehend gehauft, und der Strieg wurde bald auf fremden Boden getragen, Do
er bat in der verhältnismäßig kurzen Zeit fein Zerftörungsmwert gründlich be=
fort. Mande bis dahin blühende induftrielle Anlage liegt heute noch in
Trümmern, obwohl die Regierungen und Kommunen das Werl der Wieder-
aufsidgtung unmittelbar nad Abzug des Feindes, fozufagen no im KKanonen-
Stiedensziele der Eleftrotechnif 49
Donner und im Granatenfeuer mit größtem Eifer betrieben haben. An der
Wiener Zeitfchrift „Elektrotechnik und Mafchinenbau” wurde in einer intereffanten
Artilelferie die wiederholte Beihießung des Eleftrizitätswerkes in Czernowitz und
die Wiederherftellung des Betriebes unter fortwährenden Gefahren gejchildert.
Teer Wagemut und die aufopfernde Tätigkeit der Betriebsleitung, die Umficht
und das erfinderifhe Gefchid von Ingenieur und Arbeiter, womit das Werk
in Szene gefeßt wurde, verdienen unjere Bewunderung und Anerkennung. Sn
der Tat waren e8 nur wenige Tage, an weldden das Werk feierte, die Stadt
im Dunfeln lag und die Straßenbahnwagen nicht verlehrten.
Nicht alle Zentralen und Fabrilanlagen waren in der gleich glücklichen
Lage. Die feindlihen Granaten oder rauhe Soldatenhände beihädigten in
blinder Zerftörungswut empfindlichere Zeile der Majchinen und Apparate oder
ihleppten, höherem Befehl folgend, alle Motoren, Apparate und Freileitungen,
mit einem Wort alles, mas aus Kupfer bergeftellt war oder Kupfer enthielt,
fort, erftend um es für eigene Zmwede zu verwenden, zweitens um dem @roberer
bie Gelegenheit, feinen Kupfervorrat zu verftärken, zu nehmen. Der Zerftörung
von lediglich der Vollswirtfchaft dienenden Werfen lag mitunter auch die Ab-
ficht des Feindes zugrunde, recht zahlreiche Erjaglieferungen für fich zu fichern.
Die mit allem Raffinement ohne nennenswerten milttärifhen Zwed zerftörten
zahlreihen Bergmwerlsanlagen des nordfranzöftihen Kohlenbedens fprechen eine
beredbte Sprade. Deutfhe Tatfraft und Unternehmungsgeift forgten auch in
diefen Gebieten nad) Möglichkeit dafür, daB die Spuren der Zerftörungen be-
feitigt wurden; die Fördermafhhinen und die Bergmwerlszentralen wurden wieder
in Betrieb gefegt, und der Yörberbetrieb in urfprünglicher Höhe aufgenommen.
immerhin bleibt noch genügend Arbeit für den Tommenden Frieden übrig.
Wenn auch die Grenzen des zukünftigen Deutfchen Reiches noch nicht feftliegen,
das Eine fteht jet fchon feit, daß unfere jehigen Feinde den Lieferungen der
deutſchen elektrotechniſchen Induſtrie ih auch in Zukunft nicht werben auf bie
Dauer verfähließen Tönnen. Ym Jahre 1913 betrug die Ausfuhr an eleftro-
technifhen Erzeugnifjen nach dem europäifhen Ausland, insbefondere in bie
Gebiete der feindlichen Großmächte rund 240 Millionen Mart. Bei der geringen
Anzahl eleltrotechnifcher Fabrilen im Auslande, bei der nach dem Sriege zu
erwartenden noch größeren Knappbeit an ngenteuren und gefchulten Arbeits-
Iräften ift es gänzlich ausgefchloffen, innerhalb abfehbarer Zeit einen Erfay für
fo hohe in normalen Zeiten benötigte Werte zu fchaffen, gejchweige denn die
dur) den Krieg verurfachten Beijhädigungen zu befeitigen. Wenn auch zu er-
warten tft, daß die leiftungsfähige amerifaniiche Induftrie alles aufbieten wird,
um bie Lieferungen an die jetigen Feinde an fi) zu reißen — gewiffe Anzeichen
liegen ja fchon jegt dafür vor —, fo wird man vorausfichtlich im Auslande doch nicht
dem Wunfche entfagen können, die deutfche elektrotechnifche mduftrie wieder mit
Aufträgen zu betrauen. Dafür bürgen die unerreichte Bolfommenbeit der deut»
hen elektrotechnifchen Erzeugniffe und die Rührigkeit des deutichen Kaufmannes.
Grenzboten 1 1916 4
50 Stiedensziele der Elektrotechnik
Bor Ausbrud) des Krieges waren die eleltrotechnifchen Werke mit Auf-
trägen reichlich verfehen. Qaufende von Händen waren emfig bei ber Arbeit,
um den großen Bedarf des In- und Auslandes an elektriihen Mafchinen und
Apparaten zu deden, bis der Schladtenruf ertönte und der Krieg die meiften
wehrfähigen Männer an die Front rief. Den wenigen Zurüdgebliebenen fiel
die wichtige Aufgabe zu, den Krieg auf dem Boden ber Werkitätten burd)-
zulämpfen, und den Kameraden in der Front die Waffen zur Bekämpfung der
Feinde zu liefern. Die fogenannten Friedenslieferungen verloren an Anfeben,
und man arbeitete an ihnen nur, foweit e8 die Verhältniffe geftatteten. Dort,
wo früher Wellen gedreht und Nuten gehobelt wurden, löften ftahlharte Werk-
zeuge meterlange Spähne von dem zähen Material der Gefchoffe oder fchufen
Maſchinen und Vorrichtungen für Heer und Marine. Manche Erzeugniffe der
elektrotechniſchen Induſtrie, die furz vor der Fertigftellung oder der Ablieferung
ftanden, mußten ben Sriegslieferungen das Feld räumen und wanderten
in enilegene Eden der Werkftätten oder in Lagerräume, wo fie daS Ende des
Krieges abwarten, um ihrer Beitimmung übergeben zu werden. Unſchätzbar
hoch find die Werte, die in diefer Yorm brad) liegen, doch noch höher find die
mittelbaren Schäden, die der Vollswirtfchaft dur) den Ausfall der den eleltro-
technifhen Werken übertragenen Lieferungen entftanden find. Dur die von
der feindlichen Seeftreitfraft ausgeübte Blodade der deutfchen Küften und Durch
die unrechtmäßige Einmifhung englifher Kontrollbeamten in die Rechte der
Teutralen, war die Berfchiffung der fertigen Waren nad überfeeifhen Ländern
unmöglich gemadt. Da der Wert der Ausfuhr der deutichen elektrotechnifchen
Erzeugniffe nach Überfee vor dem Kriege beinahe 100 Millionen Mark betrug,
fann man fi) einen Begriff davon bilden, in weldem Maße die überfeeifche
Volkswirtſchaft durch die englifhe Willfürherrichaft zur See gefchädigt wurde.
Wird von unferen fiegreichen Truppen erft die %reiheit ber Meere erlämpft
werden, werden wir wohl unfere Sorge auch der überfeeifhen Kundichaft an-
gedeihen Tafjen.
Dur die Transportiähwierigleiten, die Ausfuhrverbote, die Knappheit und
Berhlagnahme von Rohftoffen einerfeit3, und durch die [hilanöfen Einmifchungen
der die Rechte der Neutralen angeblich beihügenden Engländer in die die Aus-
fuhr der Rohftoffe nad) Deutihland betreffenden Angelegenheiten ift auch der
Handel mit den wenigen neutral gebliebenen Staaten des europätichen Feit-
Iandes erjäwert und dadurh aud ihre VBollswirtichaft arg gefchädigt worden.
Unfere Aufgabe wird es fein, in lürzefter Zeit auch diefe Schäden zu befeitigen
und den Bedürfniffen unferer Nachbarn in weiten Make Rechnung zu tragen.
Die eletrotechnifche Induftrie wird fich jedoch vor allem bemühen, die ber
beimifchen Bollswirtfhaft Durch den Krieg gejchlagenen Wunden zu heilen.
Mancher mduftriezweig, manches dem Gemeinwohle dienende Unternehmen
wurde dur) den Strieg gelähmt oder doch wenigftend in der Entwidlung und
freien Entfaltung der Kräfte gehemmt. Durch die Erflärung der Baumwolle
Stiedensziele der Elektrotechnif 51
al8 Bannware wurde die Zufuhr diefes für die Zertilinduftrie wichtigen Roh⸗
ftoffe8 unterbunden und diefer Induftriezweig empfindlich gefchädigt. Soweit
Borräte an Baummolle im Inlande vorhanden waren oder herangefchafft werben
fonnten, wurden fie größtenteild zu Militärtuchen verarbeitet. Zu ihrer Er-
zeugung waren die vorhandenen ArbeitSmafdinen und Betriebsfräfte aus-
reihend. Die Yute- und Seiden-Sndujftrie hat in Ermangelung der Robjtoffe,
legtere auch durch die Abnahme des Lurusbedürfniffes weiter Schichten der Be-
völferung, einen empfindlichen Berluft erlitten. Durch den Rüdgang der Bau-
tätigfeit hat die Produktion der feramifchen Induftrie ftarf abgenommen. BDurd)
das Unterbinden der Zufuhr von Rohgummi wurde die Gummtinduftrie ing
Marl getroffen. Unfere Werften feiern, fomweit fie nicht mit dem Bau von
Kriegsihiffen, Unterfeebooten, Torpedos, Seeminen und fonftigem Kriegsmaterial
beichäftigt find. Da für alle diefe Imduftriezweige die Elektrizität vielfach das
Betriebsmittel bildet, find die Aufgaben reichhaltig, die auch der eleltrotechnifchen
Induſtrie nach dem Kriege bei der Bejeitigung der genannten wirti&haftlichen
Schäden erwadjfen werden. Au die großzügigen Pläne der Glektrifizierung
der Bollbahnen, der Ausbau von ftädtifhen und interfommunalen elefrifchen
Kleinbahnen, Untergrundbahnen, deren Ausführung durch den Krieg ins Stoden
geraten ift, werden wieder aufgegriffen und der Berwirklihung entgegengeführt
werben. Mit der Wiederbelebung und Entfaltung der Vollswirtichaft wird der
bereit$ vor dem Kriege befchloffene Ausbau von Überlandtraftwerfen, deren
Stromlieferung in manchen Gegenden erheblich abgenommen hat, Hand in Hand
gehen.
Am vielfeitigften und mannigfaltigiten find aber die Aufgaben, die ber
Elektrotehnit bei der Schaffung neuer vollSwirtfchaftliher Werte erwachjen
werden. Die von ihr wie von einem Nervenzentrum ausgehende Kulturarbeit
wird die bis jegt nur zum Zeil oder garnicht ausgenützten Bodenfchähe heben
und zum Wohle der Menjchheit verwerten. Primitive und unvolllommene
UrbeitSmethoden werden verfhmwinden und durch die volllommenften, auf der
Berwendung der Elektrizität als Betriebsmittel fußende Methoden erfeht werben.
An großzügigen Plänen war jdhon vor dem Sriegsausbruh fein Mangel,
andere wiederum find während des Strieges entitanden und durch ihn wirkſam
befördert worden.
Unter diefen find in erfter Linie die Projekte zu nennen, die die weiteft-
gehende Ausnugung der Waflerfräfte und Braunlohlenlager zur Erzeugung
eleftrifcher Energie bezweden. Staat und Gemeindeverbände wetteifern mit-
einander in der Errichtung großer Überlandfraftwerfe, die weite Gebiete mit
billigem eleftrifden Strom verjorgen und dadurd) die Kleininduftrie und Die
Landwirtihaft unterftügen und heben werden. Ye größer die Straftwerle, um
fo geringer find die auf die Einheit der erzeugten Energie bezogenen Betriebs-
toften und, da die Kraftwerke Dort errichtet werden follen, wo hydraulifche oder
Talorifhe Energie unmittelbar vorhanden, alfo infolge Wegfalles der Transport-
4*
52 Stiedensziele der Elektrotechnif
foften billig zu haben find, ift die Nentabilität biefer Werke unter Borausfegung
der vollen Ausnugung eine fehr günftige. Die Staatsregierungen haben fid
zunäcdjft die Necdhte für die Waflerfräfte gefichert und Kohlenlager erworben,
fomweit dies noch möglid war. Der Ausbau der Kraftwerke felbft tft nur no
eine Frage ber Zeit. Die Landwirtfchaft wird aus ber in den Überland-
zentralen bezogenen eleltrifchen Energie befonders großen Nuten ziehen, Bor-
teile, die fih in den erften Jahren nach dem Sriege befonders bemerkbar machen
werden. Ber Mangel an landmirtichaftliden Arbeitern und Pferden, in3-
befondere an lebteren, wird nad) dem Kriege empfindlich fühlbar fein, und es
wird eine große Crleiterung für die Landwirte fein, wenn fie ftatt der vier-
beinigen Tiere die eleftrifhen Pferdefräfte zum Pflügen, Ernten und Drefchen
werben verwenden können. Schon vor dem Kriege bat filh die Elektrizität im
Dienfte der Landwirifchaft beftens bewährt, es gibt wohl faum einen Arbeits-
prozeß, der nicht durch den Elektromotor verrichtet werden Tann, wo er nicht
die menfchlide oder tierifche Kraft voll und ganz erfehen Lönntee Da wir
gerade von der Landmwirtihaft reden, Tönnten noch die Straftwerle erwähnt
werden, die zur Erzeugung von Luftitidftoff und mittelbar zur Herftellung des
Kunftdüngers dienen und einen vollwertigen Erfah für den Ehile-Salpeter
bilden. Es iſt zu erwarten, daß auch diefe Werke nad) dem Kriege erweitert
werben, um von der Zufuhr aus überfeeifhen Ländern unabhängig zu fein.
Die im GYahre 1908 in Siebenbürgen unmeit der Landeshauptitadt
Kolozsväar entdedten Erdgasquellen Ienkten in neuefter Zeit, al die Gründung
der Ungarifhen Erdgasgefelliaft unter Führung der Deutfden Bant bekannt
wurde, au die Aufmerkffamfeit der Clektrizitäts-mduftrie auf fi. Bon
amerilanifden Sadjverjtändigen tft die Gefamtmenge des vorhandenen Gafes
auf 72 Milliarden Kubilmeter geihäpt worden. Diefe Zahl dürfte eher zu
niedrig als zu hoch gegriffen fein. Das chemifch-reine Erdgas bat einen Heiz-
wert von 8000 bi8 8500 Wärmeeinheiten. Welch riefige Energtemenge fft in
dieſem flüchtigen Naturfhat enthalten! Zunähft fol das Gas als foldhes für
Beleuchtungszwede Verwendung finden. In zweiter Linie fol e8 Hausbrand-
zweden dienen, und in gemwifjen beftehenden induftriellen Anlagen zur Dampf-
erzeugung verbraudht werden, um das Holz und die Kohle zu erfegen. Eine
vollfommene Ausnugung der Gasvorräte wird aber erjt durch die Erzeugung
eleftrifher Energie ermöglicht werden. Die wenig entwidelte induftrielle Be-
tätigung in Siebenbürgen und in den öftliden Zeilen Ungarns bedarf ber
Aufmunterung und der Kräftigung. In welcher Form Lönnte biefer Zwed
wirffamer erreicht werden al$ durch die Zurverfügungftelung billiger elektrifcher
Energie? Der Übertragung des eleltrifhen Stromes find praftifch feine Grenzen
gezogen. Mit Leichtigleit Lönnte Über die große ungarifcdhe Ebene ein eng-
mafchiges Neb von elektrif hen Leitungen gefpannt und die Gleltrizität in
weitgehendem Maße in den Dienft der Landmwirtfchaft geftellt werden. Ungarn
Tönnte dann im wahren Sinne des Wortes die Kornfammer Mitteleuropas werben.
Sriedensziele der Elektrotechnik 53
Auch die Galiziſche Erdölinduftrie bedarf dringend der Auffrifhung und
der Berbeflerung der Gewinnungsmethoden. Die gefamten Betriebsverhältnifie
müflen durd) die Binführung der elektriichen Betriebsfraft eine gründliche Neu-
orientierung nach der wirtfchaftlihen Seite bin erfahren. ch habe bereits
wiederholt, zulebt in der Nummer 12, Jahrgang XI der Zeitfehrift „Petroleum“
Gelegenheit genommen, auf die weitgehenden Vorteile ber elektrifhen Betrieb$-
fraft gegenüber anderen Betriebsarten in der Erbölinduftrie hinzumeifen. Die
Glektrizität fol uns zu einer intenfiveren Crbölwirtfchaft verhelfen. Das
bentfhe Kapital hat in der Iekten Zeit bereit$ bedeutende Anlagen in gali-
sifchen Petroleum-Objelten vorgenommen. Möge es fein Augenmer! auf bie
unter ähnlichen VBorausfegungen arbeitenden rumäntihen und amerilanifchen
Erdölmwerle Ienten, und dur die Errichtung von Gleltrizitätswerlen und bie
Glektrifizierung der Betriebe für günftigere Betriebsverhältniffe Sorge tragen.
Wenden wir unfere Blide weiter nad) dem Often, fo erreichen wir in
wenigen Tagen unter Benügung des Balfan-Erpreß und der Bagdad-Bahn
das „gejegnete Land“: Mefopotamien. Dort, wo die beiden Flüffe, der
Zigris und der Euphrat, ihre Yluten gegen den Perfiiden Golf wälzen, Iiegt
das Zulunftsland deurfcher Unternehmungsluft. Wieviel wertvolle Schäbe liegen
da verborgen in und unter der Grdoberflähel Den Türken, unferen treuen
Berbündeten, wird es ficherlich willlommen fein, wenn die deutfhen Pioniere
ber Arbeit unter Jnanfpruchnahme des deutichen Kapitales unter Wahrung
der türfifhen mtereffen die intenfive Bewirtichaftung diefer Gebiete und den
Abbau der unermeßlihen Bodenfchäte, zu denen noch diejenigen in Slein-
Alien und im Kaulafus binzulommen, in die Wege leiten werden. Ein An-
lauf hierzu ift von deutfchem Stapital bereit3 wiederholt gemadjt worden, zulegt
im SYabre 1914, kurz vor dem SKtiegSausbrud, als fi der politifche und
wirtf&haftlicde Wettftreit Deutichlands und Englands in jenen Gegenden ftarl
zugefpitt hatte und eine endgültige Regelung erforderte. Dieje jollte in der
Weife erfolgen, daß fich gleichzeitig deutiche und engliflhe Banken an den Erd⸗
ölfonzeffionen beteiligen. Der Krieg bat einen gewaltigen Strid durch Dieje
Rechnung gezogen und dank unferer Waffenerfolge und derjenigen unferer
Verbündeten die Angelegenheit zu unferen Gunften entichieden.
Die Trage der Erfäließung der mejopotamifchen Erbölfelder ift intereffant
und widtig genug, daß wir und an biejfer Stelle etwas eingehender damit
beihäftigen. Der belannte Betroleumforfeer Profefjor v. Höfer in Leoben bat
in der Zeitfrift „Petroleum“ im Jahre 1906 Über die geologiichen erhält.
niffe von Mefopotamien, foweit fie das Erdölvorlommen betreffen, gefchrieben.
Die widhtigften Ergebnifje jener Darftellung find, daß es fi in Mejopotamien
und aud in Perfien um ein Erdölvorlommen von ganz ungewöhnlicher Xänge der
Dllinien handelt und baß in der über 1000 Kilometer langen Zone reiche
Ollagerftätten vorhanden find. Die wiederholten Berſuche in Mefopotamien
eine Erbölinduftrie auf neuzeitliher Grundlage zu errichten, fcheiterten haupt⸗
64 Friedensziele der Elektrotechnik
ſächlich an der Transportfrage. Dieſe Schwierigkeit iſt nun durch den Aus⸗
bau der Bagdadbahn, deren Schienenſtrang durch das Olgebiet führt, beſeitigt
worden. Taäuſchen nicht die an die meſopotamiſchen Erdölgruben geknüpften
Hoffnungen, ſo werden ſie in Zukunft berufen ſein, einen großen Teil unſeres
in letzter Zeit durch Überhandnahme der Explofionsmotoren ſtark geſteigerten
Bedarfs und einen Teil des Weltbedarfs zu decken. Es iſt wohl anzunehmen,
daß zur Ausbeutung der Erdölfelder die Unternehmer diejenigen Methoden
wählen werden, welche bei der größten Betriebsſicherheit die höchſte Wirtſchaft⸗
lichkeit bieten, das ſind die elektriſchen Gewinnungsmethoden. Der erſte Schritt
zur Vollbringung der Kulturarbeit iſt durch die bereits erwaͤhnte Anlegung des
Schienenweges, welcher die Verbindung mit Europa herſtellen ſoll, getan worden.
Der zweite Schritt muß zur Errichtung von eleltriſchen Straftwerlen führen.
Die Betriebsftoffe zur Gleltrizitätserzeugung find in Form von Erdgas und
Erdöl an Drt und Stelle zu haben, an Speife- und Küblwaffer tft auch fein
Mangel, die teinifhen Vorbebingungen des Ausbaues elektrifcher Zentralen
find alfo erfüllt. Und tft exrft der elektrifhe Strom vorhanden, fo wird bie
Kulturarbeit einfegen und fi mit Blitesfchnelle über das Land verbreiten.
Die Landiwirtidaft, die Erdölgeminnung und die verfchiedenften Zweige ber
Induſtrie werben aufblühen und der fagenhafte Reichtum Babyloniens wird
zu neuem Leben erwachen. Unſere Induſtrie, an der Spike die Baummoll-
induftrie, wird aus jenen Gegenden mit Nobftoffen reichlich verfehen werden,
andererfeit8S werden neue, weitere Abfabgebiete für unfere eleftrotechnifchen und
andere induftrieleu &rzeugniffe gefchaffen.
Dur) die bisherigen Ausführungen ift das weite Feld der Friebensztele
der Glektrotechnil bei weiten nicht erihöpft. Ste dürften jedoch genügen, um
in weitefte Schichten der wirtf&haftlichen Machtfaltoren das Bemußtfein hinetn-
zutragen, daß wir einen großen Teil unferer zur Bollsmohlfahrt führenden
Zulunftsideale dur die Gleltrizität und ihre Anwendungen verwirklichen
werden. Dur fie werden wir uns, wie der Reichslanzler in feiner Neichs-
tagsrede am 9. Dezember ausgeführt bat, wirtihaftlich zu fichern verftehen
und fein feindliches Machtmittel wird uns in Zukunft unfer Recht, zu leben
und zu atmen, ftreitig machen fönnen.
Und nun als legtes, jedod bochwichtiges Zukunftsziel ber Clektrotechnil
fei die Erzeugung und die Verlegung eigener überfeeifher Kabelverbindungen
genannt, melde in erfter Linie dem friedlichen Handel dienen, in zweiter Linie
den Zmwed erfüllen follen, der Übermittelung lügenhafter Nachrichten und ber
Berleumdung ber beutihen Sache jenfeitS bes Dzeans endgültig bie Spibe
abzubredhen.
Das Mannfcdafts-Kriegsardyiv 55
Das Mannfchafts-Kriegsarchiv
Don Friedrich Mottel
MNo ſehr ich geneigt bin, den gegen uns kämpfenden Staaten
A die hohe Bereitſchaft, und die auch bei ihnen bis zur Kunſt ge⸗
ſteigerte Gründlichkeit der Kriegsführung zuzuerkennen, — es
N ER Hleibt doch billiger Grund zum Zweifel, ob in ihren Ländern ber
EEE Dulammenhang zwiichen den Geifteswiflenfchaften und dem Milt-
tarismus ähnlich von altersher und ungzertrennbar befteft mie bei
uns, wo für fein Borhandenfein nod) die flüchtigfte Veranftaltung zenat, die
diefer Srieg fich felbft erfand. Db dort gleichermaßen natürlid) und folgerichtig
eine fo erftaunlich freiheitlihe Ginrichtung wie die des deutihen Mannichafte-
Kriegs-Archtvs hätte hervorwadhlen lönnen? — ALS die Scharen genefender.
Krieger im erften SKriegsnovember von den L2azaretten ber bie @rfap-
bataillone zu füllen begannen, find Ddiefe Archive fajt gleichzeitig,‘ und
was in foldem Zufammenhang nit belanglos ift, unabhängig von einander
in den verfhiedenften Landesteilen entitanden, dort als Einrichtung eines
ganzen Armeelorps, bier al3 Archiv eines überlieferungsftolzen Aegiments, und
anderswo gar al3 Büro einer Kompagnie technifcher Truppen.
Die jenen Gedanken verwirflichten, folgerten in ungefähr folgender Weife:
„Auf gar nicht abjehbare Zeit fteht der überwiegende Teil von den Männern
unferes Landes als Mannihaft im Heeresdienft. Das Fronterlebnis hat ihnen
mit einemmal die fonjt gewohnten Eindrüde verdrängt. An dem neuen Beruf,
mit feinen verhältnismäßig zahlreichen, aber unvermwidelten Zätigfeiten find fie
bald Speztaliften geworden, und vermochten bundertmal auszuprobieren, ob
das in den langen Friedensjahrzehnten Gelehrte, Erfundene und für Diejen
Krieg Bereitgeftellte mit Recht weiter Geltung haben fol, oder zu ändern jet.
Diefe Erfahrungen find andere als die des Dffiziers — optifh fidher be-
Ichräntter, in ihren Gegenftänden an Zahl und Breite geringer: fie fchrumpfen
im Gefecht häufig fogar in ein paar Meicr Yint8 und rehtS vom Mann und
in einen Meinen Streifen drüben beim Feind zufammen. Damit ift aber über
die Stärfe diefes ausfchnittartigen Erlebens gar nichts entichieden, und nur
auf fie lommt e8 an. Geht man alfo daran, die Lehren diefes Krieges feit-
zuftellen, und die Fronterfahrungen zu fammeln, dann genügt es Teinesmwegs,
das DOffizterserlebnitS als alleinigen Ausgangspunft zu wählen. Wir müffen
vielmehr der Zatfahe in weiten Maß Rechnung tragen, daß die Soldaten-
tätigleit, feitdem im Heer eine tiefgreifende Arbeitsteilung ftattfand, zu einem
anfehnlicden Teil außerhalb der unmittelbaren Offizierserfahrung fteht, alS reines
Mannihaftserlebnis. Will man von biefem die Cinzelheit, da8 in jedem ty-
piſchen Fall tatfächlich Gemwefene als Grundlage für das fpäter Seinfollende,
feftftellen, jo muß man den Mann, fo freiheitlih wie nur möglich, und unter
56 Das Mannfcafts» Kriegsardhiv
ben günftigfien Bedingungen zur Äußerung bringen. Man wird darum plan-
mäßige Ermittelungen nit bis zu Kriegsende hinausfdieben, fondern fie fo-
lange die Maffe der Krieger erreichbar ift vornehmen: in ruhiger Umgebung,
wenn der Mann bereits Abftand zu dem Erlebten gewann, und fi von den
Äußerungen der Kompagniegenofjen überwacht weiß. Nicht etwa in der Nähe
der Front oder in Lazaretten wird man den günftigften Ort dafür erbliden,
fondern in jenen Rompagnien der Stammbataillone, dur) die der Strom der
auf der Nüdlehr zur Front oder in der Entlafjung befindlichen Krieger un-
überfehbar hindurchflutet.“
ALS Berwirklihung folder Gedantengänge entftand vor ahresfrift eine
Gattung Kriegsardive, die nur weniges mit den zentralen, bei einzelnen
Kriegsminifterten befindlichen Einrihtungen gleihen Namens gemein bat, wohl
aber ihre natürlihe Ergänzung bildet. Schon der technifhe Apparat ift ein
neuartiger. Bei dem Regiment, das ich hier vornehmli) im Auge habe, bat
fih jeder aus dem Feld oder dem Lazarett Anlangende auf dem Ardiv zu
melden. Dort erfolgt eine zwanglofe aber eingehende Unterhaltung, die dem
Mann die Zunge löfen fol, und dem Ardivar bald fagt, was er von jenem
erwarten fann: ob er zur Abfchrift Zagebud, Kriegsgedichte, ausführlichere
Feldpoftbriefe zur Verfügung zu ftellen hat, oder über welches befondere Ereignis
er Bericht zu erflatten vermag. Grundfäglic wird angejirebt, daB fogar der
völlig Schreibungewanbte fich mit der Niederjchrift feiner Erlebniffe verfucht. Eine
Weigerung erfolgt faft nie. Den einfaden Mann Iodt meift die Ausficht, auf
foldhe perfönlihe Art zur Regimentsgefhichte beizutragen, und einen faubern
Schreibmafdinendurdfchlag feiner Mitteilungen zu erlangen. Wie leicht zu
erjeben ift, liegt der Haupiwert diefer Sammeltätigfeit auf Iofalgefchichtlichem
Gebiet. Im beutigen Krieg Löft fih ja nicht nur die Gefechtshandlung des
Bataillons in die befondern Handlungen der Kompagnien und Züge auf,
fondern aud) die Tätigkeit eines Zuges ift meift feine einheitliche mehr, und
zerfällt in eine Menge felbftändiger Einzelhandlungen. Da ift e8 von nicht
zu unterfchägender Wichtigkeit, wenn die zufammenfafjenden Berichte der Ba-
taillone und Kompagnien eine Ergänzung erhalten in den Schilderungen ber
einzelnen Teilnehmer. Zugleich bilden diefe aber unerfehliche Beiträge zur
Kenntnis des Seelenlebens des deutiden Soldaten. Hier fhillert das Front-
erlebniß in vielen bunten und bderben Yarben, und gerade die feltenen ur-
fprünglihen Äußerungen, die Kehrreimgedichte der Kompagnien, und die bald
fentimentalen, bald zu erjtaunlicher Bildfraft fich aufraffenden Lieber, an denen
das Bolt felbit im Schügengraben j&huf, werden fo der Vergeffenheit entzogen.
Was in diefen Aufzeichnungen Triegstehnif” von Belang ift, wirb nach
Stihworten vermerkt und liegt, in einer Kartothel geordnet, jederzeit zur Der-
wendung vor. Hauptzweck wird diejes Kriegstechnifhe in der eigentlichen
Erbebungsarbeit des Ardhivs. Sie erfolgt mittels eines Yragebogens, befjen
Wortlaut das Ergebnis überaus mühenoller und vorfichtiger Vorbereitungen
Das Mannfdafts» Kriegsardiv 57
tft. Das Problem war: einmal aus ber Überfüle des Erfragenswerten die
widtigen Zatbeftände von allgemeiner Gültigleit herauszuziehen, und ferner,
die ragen im einzelnen fo einfichtig und unmißverftändlich zu fafen, daß fie
felbft beim geiftig Armften mitten in die Erinnerungsfomplere bineintreffen,
und ihn zur fachlichen Übermittelung feiner Erfahrungen zwingen. Der Frage
bogen eines mfanterieregiments — in Blodform — umfdhließt mit 40 Einzel-
fragen folgende Gebiete: das offene Gefecht im Bewegungstrieg, das Gefecht
im Stellungstrieg, die Yeuertätigfeit, die Ausrüftung, die Berpflegung, Die
friedensmäßige Ausbildung, den Sanitätsdienft, das Seelifhe und den Feind.
Ein folder Yrageblod wird jedem Mann, der genügend lange Fronterfahrung
befitt, zur Beantwortung während des Urlaubs mitgegeben und bei der Nüd-
gabe vom Ardivar gemeinfam mit dem Beantworter durchgejehen, um nicht
genaue Angaben feft zu beftimmen, Angedeutetes zu erweitern, und Bergeffenes,
das ih im Gefprädh einftellt, nachzutragen. Biefes ungeheure, gefichtete und
ebenfall8 nach) den Hauptwerten in einer Kartothel zur Bearbeitung bereit-
geftellte Material tft für die Fortentwidlung unferer militärifhen Rüftung nad)
brei Seiten bin befonder8 wertvoll. Einmal ermöglicht e8 ung, die Fragen
nad dem tatfächlicd Gewefenen in eindeutiger Weile zu beantworten. Wir
werden wiflen: fo und nicht anders hat ber deutfhe Soldat fein Gewehr be-
dient; feine Berpflegung fpielte fi) in diefem Rahmen ab; diefer Teil feiner
Belleivung erwies fih als fchledht, jener war gut; ufm. Damit erft wird
eine feite und unter Umftänden fogar ftatiftifch geficherte Unterlage gewonnen,
von der eine fpätere Peeresreform ihren Ausgang nehmen lann. Aber
auch viele direfte Äußerungen über bdiefes Seinfollende enthalten die Ant-
worten. E83 ift nicht von geringem Belang, von 2euten, die monatelang
täglich Erfahrungen fammelten, zu hören, was fie an ihrer Ausbildung, an
ihrer Bewaffnung, an der Gepädverieilung anders, und wie fie es haben
wollen. Zum Dritten erfchließen biefe Antworten für die Piychologie des Krieges
und des bdeutfhen Soldaten eine Fülle von Quellen. Ich denfe dabei nicht
nur daran, daß einige Fragen ausdrüdlih da8 Seelifde in den Mittelpunkt
rüden. Bielmehr wird die gefamte Maffe folder Äußerungen, ganz gleich),
ob fie nun feelifhe oder technifche Dinge betreffen, über den innern Zuftand
der großen Kriegermaflen viel Aufihluß geben.
Was aber Über diefes Zwedmähige Hinaus an diefer neuen Einrichtung
erfreulih ift und ftarf wie eine gute Verheißung Klingt, ift der Geift ber
inneren Freiheit, ber fchöne Wille, Marzufehen und Marzuftellen, der bdiefes
alles j&huf und trägt.
Maßgebliches und Unmaßgeblicdhes
Geſchichte
Die Grabftätten der römifch-beutichen
Raifer. An einer gefteigerten Gegenwart er»
wacht die Erinnerung an gefteigerte Bergangen-
beiten. Daß Hiltorifhe belebt fi; es rückt
näber. Schon verblaßte Namen erneuern fidh,
Dentmäler fünden deutlidher ihren Sinn, Orte
und Gegenden werden zu Wallfahrtsftätten.
Wie an Tirhlihen Fefttagen aus aller Welt
die Pilger dem Heiligen Grabe, den Neliquien-
firchen der Heiligen zuftrömen, fo gedentt man
in Beiten nationaler Erhebung der beroifchen
Taten der Vorfahren. Die Sranzofen, wie
demokratiſch fie fonft aud) gefinnt fein mögen,
Balten ihre alten Königsjchlöffer und den Dom
bon St. Deni® bod. Die Grabmäler der
Bäpfte werden bon den Stalienern nicht jo
fehr ala Denkmäler religiöfer, ald vielmehr
nationaler Großtaten beilig gehalten. Den
Auflen ift da8 Teftament Peterd des Großen
dad Banner, unter dem fie um ihre Welt-
beberrfhung Tämpfen. Überall aber find es
vor allem die Grabftätten der Könige, die
zu Symbolen der Rergangenbeit werden.
Benn nun in einem vor furzem erfchienenen
Bud von Eugen Buglia: „Die Geburts»,
Sterbe- und Grabftätten der Römijd-
deutfhen Kaifer und Könige” (Mit 92
Abbildungen. Wien, Anton Schroll & Co.
Breis 15 Mt.) der Verfudy unternommen wird,
die Geburt, Sterbe- und Grabftätten der
römifchedeutfhen Kaifer in dhronologifcher
Neihenfolge, mit allen überlieferten Legenden
und Nadridten und einem überaus zahl.
reichen Abbildungsmaterialzufammenzuftellen,
fo wird foldem Verſuche, [don vor dem Kriege
geplant, erft durch den Krieg die volle Wirk.
famteit gegeben. Denn nun wird diefeß Buch
im woabrbaften Sinn ein Werl der Bietät.
Und eine foldhe Mberfiht der dynaftifch-
bedeutung®vollen Stätten mag für die deutfchen
Könige bedeutender fein als für franzöfifhe
und englifhe: denn fie bleibt nicht innerhalb
der Grenzen be3 jegigen Staated. Viele
mebr zeigt fie, wie Deutihland in Zeiten
bejonderer Macht weit außdgefpannt war, wie
e3 zeitweilig ald Kernbefig nod Dfterreich,
die Niederlande, Belgien, die Schweiz, Teile
Staliend, da franzöfifhe Lothringen, die
Franche-Comte, Lyon, Spanien und Ungarn
umfaßte.
So gibt diefe® Bud, das eigentlih nicht®
andereß al® eine chronologifhe Aneinander-
reihung der BHiftoriihen Orte unternimmt,
viel mehr, als in feinem engeren Zwed liegt:
e8 gibt eine Geihichte de Deutfhen Reiches
feldft. Man Tönnte beinahe fagen, daß bie
Zage der Geburtd- und Grabftätten die Ten-
denz der Bolitit angäbe. Am Beginn der
Banderung fteht die Grabjtätte Karla des
Großen, Aachen, das gleichſam zwiſchen Deutſch⸗
land und Frankreich liegt und ſeinen Dom
nach italieniſch⸗ravennatiſchem Muſter gebaut
hat. Alſo ein Signum der internationalen
Herrſchaft, die dieſer Kaiſer ausgeübt hat,
der aus dem Fräankiſchen ſtammte, die deutſchen
Stämme unterwarf und in Rom zum Im⸗
perator gekrönt wurde. Dieſe Weltpolitik,
mehr oder minder von ſeinen Nachfahren
traditionell ausgeübt, wandelt fich unter den
Ottonen zu einer ausgeſprochen italieniſchen:
und ſo wird Otto der Zweite in der Peters⸗
kirche zu Rom begraben, und Otto der Dritte
ſtirbt auf der Burg Paterno bei Civita
Castellana am Fuße des Soracte. Später
Maßgebliches und Unmaßgebliches 59
zeigt der Beginn der Habsburger den be»
ſchraͤnkten Lebensſkreis eines ſüddeutſchen Gra⸗
fengeſchlechtes: Rudolf von Habsburg iſt in
der Schweiz geboren und zu Speier begraben;
ebenfo Adolf von Naſſau und Albrecht. Maxi⸗
milian, der auch noch ein im Deutſchen be⸗
grenzter Herrſcher war, beginnt und endet
fein Leben in Wiener-Reuftadt. Aber ſobald
die Macht des Gefchlechtes fih erweitert und
fobald der römifhedeutihe Staat zu jenem
Beltreih wird, in weldem die Sonne nit
mehr untergebt, |chieben fich auch diehiftorifchen
Stätten über die Örenzen Deutichlands hinaus:
fhon ift Karl der Fünfte zu Gent geboren,
‚au St Jufte in Spanien begraben; und
Philipp der Zweite beginnt für fi und feine
Rahlommen den Edflurial zu bauen. Bie
die Orte, fo ift dad Hauptgewicdht ihrer Politik
über Europa zerftreut. Nah den [panifchen
Beherrichern tritt eine neuerliche Beichräntung
ein; der Schwerpuntt verlegt fih in die
deutfchen Lande zurüd, und endlich ganz in
die gegenteilige Richtung, oftwärt3: nach Wien.
In der Kapuzinergruft am Neuen Markt zu
Wien liegen die leten römifch-deutichen
Raifer beftattet, in derfelben Stadt, die bis
zur großen Aufrichtung Preußens die Metropole
‚Der deutihen Länder blieb.
An Iandfchaftlider Abwechslung ift die
Banderung, die der Autor de Buches mit
und unternimmt, aljo rei genug. Wir er»
tennen, daß faft alle deutfhen Gaue national
geheiligte Stätten befigen: bon den bayerifchen
Sodalpen bis zum Elm, vom Ausfluß des
Aheins aus dem Bodenfee bi zur Mündung,
von der Eifel bi8 zum Wiener Wald führt
die Wanderung. Dazu Tommen nod die
mannigfaltigften Szenerien jenfeit® der
Deutfhen Grenzen: franzöfiihes Hügelland,
die ungariiche Bußta, Kaftilien, Mom. Zwei⸗
undawangig der römifch-deutihen Herricher
find innerhalb der Grenzen de3 heutigen
deutfhen Meiches geftorben, fiebzehn auf
öfterreihifhem Boden, at in Stalien, zwei
in den Riederlanden, je einer in der Schweiz,
Belgien, Spanien, Ungam, — und einer
fogar — Barbaroffa — außerhalb Europag:
in Kleinaflen.
Bon den deutihen Städten treten zwei
Bervor: e& find Speier und Bien. Das alte
—
Privilegium gibt dieſen Städten ihre Tradition,
ihre feierliche Geſchloſſenheit, gibt der einen
— Wien — noch ihr ſchmerzliches Anklammern
an Angeſtammtes. Freilich, die Kaiſergräber
in Speier haben ihren ehemaligen Zuſtand
ſchon lange verloren. 1089 wurden ſie durch
die Franzoſen zerſtört. Damals verſchwanden
alle oberhalb des Niveaus des Königschors
vorhandenen Grabmonumente vollſtändig, von
den Gräbern ſelbſt entging nur die untere
Reihe der Verwũſtung. Die Särge Heinrichs
des Fünften und Rudolfs, Albrechts und
Adolfs wurden zerbrochen und zerſtreut.
Nach dem Abzug der Franzoſen brachte man
die Gräber wieder notdürftig in Ordnung;
aber in den wechſelvollen Schickſalen, welche
die Stadt Speier im Laufe der Jahrhunderte
noch mitmachte, kam es zu einer endgiltigen
Renovierung erſt in der neueſten Zeit. Es
war im Jahre 1900, daß man die Gräber
offiziell eröffnete. Man fand den Schädel und
die unteren Extremitäten Saifer Nudolfg, ein»
zelne Gebeine Adolf und Albrechts, und das Ge⸗
biß von Heinrich dem Fünften. Die Gebeine
Konrads des Zweiten und Konrads des
Dritten waren ganz zerfallen, dagegen die
Heinrichs des Vierten und Philipps gut er⸗
halten. Dieſe aufgefundenen Reſte wurden
einer öffentlichen Beſichtigung zugelaſſen, die
Leichen lagen im Königschor in offenen Särgen,
und durch Stunden zogen an ihnen Menſchen
vorbei, Menſchen aller Klaſſen und Diſtrikte.
Alle Glocken Speiers läuteten. Dann wurden
die königlichen Überreſte mit großen Feierlich⸗
keiten neu beſtattet.
Die zweitegroße Kaifergruft, die Kapuziner-
gruft gu Wien, ift nicht nur die größte Familien⸗
gruft der Habsburger, fondern die größte deutiche
überhaupt. Gegründet wurde fie im fiebzehten
Kahrhundert, von Matthiad und feiner Ges
mablin, die hier für fi eine ftille Ruheſtätte
Ihaffen wollte. Aber aus diefem befcheidenen
Anfang eniwidelte ſich eine Grabeskirche, die
gwar — al® SKapuginerfirde — eng und
fdmudlo3 ift, aber nicht weniger ald neun
deutihe Kaifer und einen römifchen König
beherbergt. Der Sremde, der ohne Willen an
diejer Kirche vorbeigeht, würde ihre Bedeutung
nit ahnen. Ein niedriger Giebel, eine Faſſade
obne Zierrat und ohne Turm find dem Blake
60 Naßgeblihes und Unmaßgeblides
zugekehrt. Ohne erheblich aufzufallen, fügt
fi) die Kirche in die Meihe höherer, geichmad-
Iofer, pruntvoller Großftadthäufer. Zu Anfang
des fiebzehnten Sahrhunderts mag fie fi
noch beffer in ihre Umgebung gefügt Baben:
damal? ftanden nur unanfehnlide Häufer
bier und außer an den übliden Marlttagen
mag faum ein Verfehr die Stille geftört Haben.
Aber nicht nur die Großftadt Wien bat
an dem Tleinen Kirchlein der Kapuziner vorbei«
gebaut. Aud) Speier ift eine deutſche Induſtrie⸗
ftadt modernen Xyp8 geworden. Der Alltag
der neuen Velt läßt die alte vergefien, die
unter der Erde ruht. Wer gedentt in Münden
und Braunfhweig der toten Kaifer? Selbft
in Tleinen Städten — wie Bamberg und
Negensburg — wer denlt an die Toten, die
ihnen einft Bedeutung gegeben? Gelbft der
Alltag von Ingelheim und Lorfch Tehrt fi
bon Gräbern ab. Deutichland erarbeitet fich
eine neue Xelt. Aber in Zeiten nationaler
Anipannung, wenn Hämmer, Triebwerfe und
Sdlote verftummen, in den Zeiten eines
gemeinfam gefteigerten Aufhorhen® — da
bört man die Stimmen ber toien Kaifer.
Otto Soff
Religionswiflenfchaft
Hermann Oldenberg: „Die Lehre der
Upanifhaben und die Anfänge des Buddhis⸗
mus”. Verlag Bandenhoed u. NRupredt,
Böttingen. Geh. 9, geb. 10 M.
Upanifhaden — Buddhismus: damit find
die beiden beherrihenden Gipfel des geiftigen
Indien genannt. Mit dem legten ber beiden
Ramen ift der des Verfaffers eng verfnüpft.
Hat er do in feinem „Buddha“ die erfie
Darftellung des alten Buddhismus auf der
Grundlage der Baliquellen gegeben. Uber
fowohl in diefem Wert wie aud) anbderäiwo
bat er gezeigt, daß feine tiefgrabende Arbeit
auf diefem Gebiete der Indologie, weit dadon
entfernt fein Berftändni3 für da andere zu
Ihwäden, ed vielmehr verfchärft Habe. Go
war denn PBrofeffior Oldenberg wie Tein
anderer dazu berufen, ein Führer au fein
auf diefer ganzen zufammenhängenden Höhen
fette der religiöfen Philofophie AIndiend, und
in dem vorliegenden Wert bat er diefe fehr
Ihiwierige Aufgabe mit gewohnter fchrift-
ftellerifher Meifterfhaft glänzend gelöft.
Daß jeder, der fi irgendivie — fei e3
mehr fahmännifh oder mehr dilettantiid —
mit Indologie befaßt, in diefem Buche eine
Fülle von Anregung und Belehrung findet,
ift felbfiverftändlih,; in der Tat aber follte
feiner, dem die großen Urprobleme, Die
Außen- und Anneniwelt, Leben und Tod dem
Menfhengeift aufdrängt, am Herzen liegen,
die8 Buch ungelefen lafien. Denn — wie
der Berfaller in den erften Zeilen jagt —
„die Frage nad einer jenfeitigen Ordnung
der Dinge Hinter oder über dem Diesfeits,
da3 damit fo eng verbundene Problem des
Todes und defien, wa8 nad dem Tode folgt,
bat die Denker Indiens fon in fehr alter
Zeit auf da8 ernftlichfte beihäfligt”, und das
vorliegende Buch bietet eine geradezu ideale
Darftelung diefer in ihrer Art unvergleicdh"
lichen Gedanken, weldje dort anheben, „wo
daB Ehaod altertümliher Vorftellungen vom
BVeltdafein und Gefchehen fi Iichtet, um der
mädtigen Idee ded3 Brahman, des All-Einen,
die SHerrfhaft einzuräumen, und wo neben
die Hoffnungen auf freudenreiches Fortleben
nad dem Tode in der Gemeinihaft göttlicher
BVeltherren die alles überfliegende Sehnſucht
tritt nah Eingehen in den ftillen rieden der
Ewigkeit“.
Dieſe Entwicklung ſpiegelt ſich, freilich
durch ſchwierig zu faſſende, ineinander
fließende Reflexe, in den Upaniſhaden ab,
den dogmatiſch⸗ſpekulativen Schlußteilen der
Veden. Die gehörnten Probleme vom Ber⸗
hältnis des einen unteilbaren Weltgrundes
zur Vielheit der Erſcheinungewelt und von
der Realität oder Nichtrealität der letzteren
treten hier in den Vordergrund. Profeſſor
Deuſſen, der auf dieſem Gebiete bekanntlich
als Hauptautorität daſteht, ſieht in dem ab⸗
ſoluten moniſtiſchen Idealismus, mit ſeinem
ſchroffen Ableugnen der Realität aller Vielheit
— der berühmten Mayalehre — den urſprüng⸗
lichen Standpunkt der älteſten Upanishaden,
der in den Hajnavalkya⸗Geſprächen der
Brihad⸗Aranyaka Upaniſhad ſeinen klaſſiſchen
Ausdrud finde. Nun gehören aber jene
woblgeordneten Dialoge offenbar nicht zu den
älteften Zeilen der Upanifhadliteratur und
Maßgeblihes und Unmaßgebliches 61
zweitens enthalten fie nicht die Mayalebre —
nad Deufien „die Grundlage aller Bhilofophie”
— fo wie diefe fpäter im Gaudapada-Sarila
bervortritt. Für Deuflen iſt das Wort, das
ihm das letzte aller Weißbeit ift, da erfte der
Upanifhaden, und der Reft ilt gunehmendes
Berderben dur) da8 Hereindringen des böfen
Realismus bis zum völligen Berfanden des
urfprünglid fo reinen Gebdantenfluffes in
Samkhyam. Sn der Behandlung Dlden-
berg3, der beiden Elementen (dem idealiftifchen
und dem realiftifchen) ihr Recht Täßt, tritt ftatt
Degeneration Entwidlung; die Probleme be»
leben fi und werden gerade in diefem ihren
natürliden bodenftändigen Leben oft ebenfo
Har wie überrafdend beleuchtet (fo durch die
Bedeutung uralter Bauberborftellungen für
fehr fubtile Seiten brahmanifcher Theologie).
Der Monismud der alten Upanifhaden
wor illuforifh ja eigentlih nur ein be
Baupteter. Der veritedte Dualiamus brad)
hervor und lebte fih aus in dem von Bro»
fejlor Teuffen gänzlich verfannten, von Bro»
fefjor Oldenberg in Flarer Kürze dargeftellten
Samkhya. Jeder Leſer feine® „Buddha“ er-
innert fi feiner dort gegebenen Charate
terifierung: „ein wahres Stabinettftüd geiftiger
iseinbeit und Eleganz“, jedodh mit greifen-
Bafter Färbung. Hier eine noch viel jhärfere
Prägung: mit Anfpielung auf da3 Tlaffilche
Samthya-Bild von der zurüdtretenden Tän-
zerin heißt e8 „Die Tragödie aber hat dabei
mande3 bon einem Ballet angenommen“.
So weiß nur der geborene Scriftfteller den
Punft übers 5 anzubringen.
Ein befonderes Anterefje beanſprucht jene
PHilofophie ala Mdergangsglied zum Buddhig«
mus, in weldem „die Tragödie“ nod) un-
balletmäßig lebt. Profefior Oldenberg ift
natürlih weit davon entfernt, zu jenen „nio*
dernen Berlleinern“ zu gehören, die, mit den
Worten Brofeffor Grünmwedelt, den Buddha
„zum bloßen Nachbeter des Samlhya⸗Syſtems
ftempeln”; wohl aber meint er, daß das
Samldya in einer älteren vorklaffiihen Korm
dad Medium geiwefen ift, dur) welche® ge
wife grundlegende Upanifhad » Probleme in
den Buddhismus gelangten. Seine Dies-
Bezüglichen Unterfudungen zeigen, daß e3 fi
Bier nit um eine alademijche Yrage handelt,
indem fie vielmehr direlt in die tiefiten und
ftrittigften Puntte der Lehre bineinführen.
Hier heint mir nun die Auffaffung unferes
Autors eine merlbar pofitivere Färbung als
in feinem Hauptwerf angenommen zu haben.
Died auszuführen muß ih mir leider wegen
Raummangeld verfagen. Aber aud) darin
glaube ih mi nicht zu irren, wenn id
überhaupt bei ihm einen eiwa® Wärmeren
Ton als früher vernehme. Herrlihe Schluß-
worte findet er, um die Buddhageftalt felbft
zu feiern:
„Hier bat Indien den Höhepunkt feines
religiöfen Geftalten® erreiht, zugleich den
Buntt, wo feine Verfchloffenheit fich öffnet,
fernhin ihre Gaben zu verbreiten... So
Bat fie (die budöhiftifche Kunft) dem gehuldigt,
der den Weg dorthin, zur Heimat, gefunden
zu baben meinte. Den Weg zu jener Ewig-
feithöhe, wo, wie der alte Vers fagt, „den
auf die Welt Hinabblidenden der König Tod
nicht fieht.“
Karl Ad. Gjellerup
Wlemoiren
Theodor Hermann Bantentus: Aus ben
Augendjabren eines alten Kurländers.
Zweite twohlfeile Auflage. N. Voigtländers
Berlag in Leipzig. Geh. 2 M., geb. 3 M.
Der billige Reudrud diefer Erinnerungen
des fürglich verftorbenen ehemaligen „Daheim“
Herausgeber® und de bejonder® in den
achtziger und neunziger Jahren beliebten Er»
zähler® Tann gerade gegenwärtig auf bes
fonderes Sinterefie rechnen. Geben die Er»
innerungen do ein Bild vom heute heiß
- umftrittenen Kurland nod) aus jener Zeit,
da die obere Gejelichaftefhicht de fonit
lettifchen Landes, vom del bid zum Hand⸗
werfer, noch rein deutfh war, fein durfte
und in friedboller Kulturarbeit deutfch wirkte.
Eine bereit? durhaus Hiftoriide Epoche lebt
wieder auf. Die Erinnerungen haben infolge»
beifen dofumentarifhe Bederlung. Aus den
Ausführungen bes alten Kurländerd Wird
auch lebendig genug offenbar, was von feiten
der Meichddeutfhen zur Hebung des FKur-
62 Maßgeblihes und Unmaßgebliches
ländifhen Deutihtumd verfäumt worden ift.
Slüdlichermweife find heute die Gelegenheiten
wiedererftanden, Berfäumtes nadzuholen. Ein
Aufblühen ded Deutihtumd ift bei nötigem
Taft gegen die lettiihe Bepölferung, gegen
die Bejonderheiten der eingefeffenen Deutfchen,
des Adeld und der Gebildeten, zu erwarten.
Panteniuß’ Buch Tann zur Erfüllung diefer
und Neichddeutfchen gewordenen Aufgate nur
beitragen, da e8 wie felten den Zuliurellen
Wert und die geiftige Atmofphäre Kurlands
geftaltet.
Allerdingd nur au8 der erften Hälfte des
neunzehnten Jahrhunderts. In Verbindung
mit der Geſchichte ſeiner 1757 aus Pommern
eingewanderten Familie zeichnet Pantenius
die Schickſale des Landes unter den beiden
letzten Herzoͤgen von Kurland. Die Lebens⸗
und Kulturverhältniſſe werden erſt eingehen⸗
der und anſchaulicher geſchildert mit der Ge⸗
ſtaltung der Großeltern des Verfaſſers, ſeines
väterlichen Großvaters, eines Paſtors in Grün⸗
hof, vier Meilen von Mitau, und ſeines
mũtterlichen Großvaters Adam Conradi, Paſtors
in Sallgallen. Die Verbindung zum ruſſiſchen
Reiche ſtellt ein Großonkel dar, der es im
ruſſiſchen Heere bis zum General brachte.
Pantenius' Vater war wieder Paſtor: ein
überauß tätiger Mann, deſſen nur kurzes
Leben nicht nur den Amispflichten gehörte,
ſondern ſich vor allem der Hebung des letti⸗
ſchen Volles zuwandte; als Gründer und
Leiter einer lettiſchen Zeitung, als Foörderer
und Verfaſſer lettiſcher Literatur, als Gönner
der lettiſchen Volksſchulen hat er ſich die
reichſten Verdienſte um das Land erworben.
Von ihnen erbte Theodor Hermann auch ſein
ſchriftſtelleriſches Talent. Der Sohn wäre
wohl im Lande geblieben und hätte ſeines
Vaters Arbeit im Lettenbvolke fortgeſetzt,
wenn der Vater nicht fo früh geftorben wäre.
Er wudh8 in Callgalen und in Mitau bei
Verwandten auf und ging fpäter — 1862
— nad Deutihland, um wie feine Vorfahren
Theologe zu werden. Dadurh entging ihm
das eigenartige Dorpater Studentenleben,
von dem er nut nad Hörenfagen Reizpolles
berichtet. Er gehörte feiner Geburt nach alfo
der Schit der „Literaten“ an; diefem ftreng
zujammenhaltenden Stande entipradhen die
befigenden Klafien, der Landadel; da Bolt
wieder fhied fih in Handiwerfer und Bauern.
Panteniud, der da® Land wie die Tleinen
Städte genau Tennen lernte, war dadurd
aud in allen Schichten, unter den Deutfchen
wie unter ben Leiten, beimifh. Sein Urteil
in turländifhen Dingen und über Surländer,
unter denen ed damals ſehr viele „ Originale”
gab, ift getragen von einer tiefen SGeimat-
Iiebe, zugleih aber ftet3 fachlich » Tritifch,
realiftifch »twahrbeitögetreu. Dad Vertrauen
zu den Erinnerungen wädjlt, je mehr man
fi darein vertieft. Nachdem Panteniuß als
neungehnjähriger Student nad Berlin ge-
fommen war und Erlangen zum Abjchluß
feine® Studiums aufgefucdt Hatte, ift er nur
noch befuchsweile nad) Kurland gelommen.
Der alten Heimat hohe Kultur Tam aber
der neuen Heimat, ganz Deutichland, frudt-
bar zugute im „Daheim“, in dem mandjes
bom Geifte der Kurländer „Literaten“ Tebendig
blieb. —
Banns Martin Eifter
Kriegsberichte
Bernhard Kellermann. Der Krieg im
Weften. Berlin, 1915. S. Fiſcher Verlag.
Bisher hat noch jeder Krieg denen, die
den Strieg, feine Xaten, Geihehnifie und
Ereignifje, jein Erleben und feine Sorm aus
der Kerne dur Lefen von Berichten und
Schilderungen Tennen lernen, naderleben
mußten, die große Enttäufhung gebradt,
dab die Kunft der Verichterftattung durd)
BVort und Drud bei weiten nicht ausreicht,
um aud nur eine abnungsboll zutreffende
Vorftellung vom Kampf und von der Yront
zu geben. Wenn wir ebrli find, müflen
wir, ohne die Arbeit unſerer Kriegsbericht⸗
erjtatter und den Wert ihrer Arbeit herab»
jegen zu wollen, aud beute offen geftehen,
daß nur in den feltenften Fällen befriedi-
gende, der Größe des Geſchehens entiprechende
Berichte zu uns in die Heimat gelangen.
Zu diefen feltenjten Fällen trugen Bern-
hard Kellermanns Berichte, die er im Ber
Iiner Tageblatt veröffentlite und jegt ge
fammelt in Buchform borlegt, gewiß den
Maßgeblihes und Unmaßgebliches 63
größten Teil bei. Seh Monate war id
draußen an ber Front in Nußland: nun fallt
mir in der Aube der Heimat Kellermann?
Büdjlein in die Hand, und ich fühle mich beim
Zeilen diefer Tnappen, Tlaren, packenden Be⸗
richte, die wie peinlich ausgeführte Federgeich-
nungen Wirfen, wieder angeiveht vom freien
Atem und friiden Haud, der dort draußen
über den Schladhtfeldern Hinzieht, bon jener
undergeßlihen SKampfluft und jenem bin-
reißenden Gewittertwind, der dort den ganzen
Menihen anpadt, aufrüttelt und umfrempelt.
In der Tat, Sellermann weiß eine Bor-
ftellung vom Grauenvollen und Erbebenden,
Schlidten und Großen des Schüßengraben-
trieged zu vermitteln. Oft fhon ward die Kano-
nade bei MPpern, bei Arras fo wie von Seller»
mann gejehen (j. 18, ©. 29), aber gewiß
noch nie jo in Worte gefaßt, jo ar und
fiier geftaltet. Wer nod) nie eine Granate
die Zuft durcdhfchneiden börte, wer noch nie
den wilden Lärm hämmernden Trommel»
feuer8 erlebte, wer no nie im Tiefiten
erihüttert ward durch daB Eintfegen, das dort
draußen ftündli den Menfchen durchfchauert,
und wer no nie die hohen NMeinheiten der
Breuden an der Front genoß, — durd) Seller-
mann fann er alle fahlihen und feelifchen
Möglichkeiten und WVirklichleiten des Krieges
an fi erfahren.
Freilih, auch feinen mit höchfter Inten-
tät der Schau» und Rerventräfte gefchaffenen
Bildern von der Front in Frankreich fehlt
jene innere vibrierende Energie, die im
Kämpfer lebt. Wer nie im euer ftand, die
Büchfe an die Schulter riß, um den an-
dringenden Gegner niederzufnallen, wer nie
die Wut höchften Artilleriefeuers ftundenlang
biß zum Neißen der Nerven mit legter Ans
Ipannung ertrug und alle® Leid fammelte
zum großen Born der Rache im Augenblid
ded Sturmed auf die Feinde, bes Flinten-
gelnatter3 gegen den Angreifer, wer nicht
Mitlänpfer war in bödjfter Rot, fondern
nur bejuchsweife den Frontkrieg fah, der
fann nie in feinen Worten jened innere
Xeben aufzittern Iaffen, daß doc) den einzig»
artigen feelifhen Anteil am Kriege, das
eigentlihe menfchlihe Sriegerleben bildet.
Aber wir wollen nicht nörgeln, wir wollen
dankbar fein, daß wir Striegßberichte von
der Qualität, wie die Kellermanns, erhalten.
Banns Martin Eifter.
Kiteraturgefchichte
Philipp Witlop: Heidelberg und bie
deutſche Dichtung. (Leipzig 1916, bei
B. ©. Teubner.) Der Pla ift beichräntt,
ih muß mid furz faflen. &3 ift au nicht
nötig, über diefed gute und befinnlihe Yudh
eine ausführlihe Beiprehung vom Stapel
zu laflen. — Der Titel erflärt Abfiht und
Weſen des Werkes hinlaͤnglich, ſodaß eine
allgemeine Überfiht zur Empfehlung aus⸗
reihen dürfte.
Witkop fegt bei den Beziehungen der
Qumanilten zu Heidelberg ein. Mit Paul
Schede Meliffuß werden und die erften
deutfchen Berfe gegeben; ihn vollenden Martin
Dpig und Aulius Wilhelm Zincgref. Über
den fogenannten Sturm und Drang und
den weichen, mondfcdeintrunfenen Matthiffon
werden wir zu Goethe geführt. Sn Heidel-
berg war e8, wo den fhon Yweifelnden der
Bagen nah Weimard Fürftenhof entführte,
und der greife Dichter erlebte in den „weiten
lihtumflofienen Näumen“ des „alten, reich»
befrängten Fürftenbaus” jene zarte, ergebung®«
dolle und entjagende Liebe zu Marianne
Willemer. Dann ftürmen die Romantiker
an uns vorüber, ftet3® zu neuen Plänen be»
reit, in deutfher Vergangenheit ſchwelgend.
Brentano, Armim, Görred fämpften Bier gegen
den alten vertrodneten Kobann Heinrid) Boß.
Eichendorff Iaufhte in den Ruinen dem
Sange der Radtigall und träumte von der
„alten fhönen Zeit”, gufammen mit feinem
Sugendfreunde, dem verihiwommenen Dichter
Graf von Zoeben, genannt Sfidorus Orien⸗
taliß. Schentendorf und Sean Paul genoffen
hier glüdlihe, unvergeffene Zage; der un«
ftäte, düftere Lenau fand beim Studium
turzge Raft und Nube und befang das Stutt-
garter „Scilflotthen”. Der fchiverblütige
Sebbel erfuhr bier die erften unmittelbaren
Ratureindrüde, die feine Dichtung freier ge»
ftalteten; Gottfried Keller fand fi durd
Feuerbachs Philoſophie in ſich felbft zurüd
64 Maßgeblihes und Unmaßgebliches
und reifte durch die entfagungsbolle Liebe zu
Kobanna Sapp. Und den Beichluß des
Buches bildet Scheffel, der ja die frijcheften,
befannteften Lieder zum Breife Heidelberg?,
der „Stadt an Ehren reih”, gefungen hat.
Bie ihon gejagt, ift da Werk, wenn e8
au Teine literaturhiftoriihe Xat bedeutet,
recht unterbaltiam und belebrend zu leſen
zumal zahlreihe Gedichte, Briefe und Tage»
buchblätter lebendige Wirkung vermitteln.
Der Verlag bat für eine vornebme Aus-
ftattung Sorge getragen und dad Buch mit
Abbildungen und Schattenriffen geziert, fo»
daß es auch Äußerlih einen Schmud jeder
Bibliothet bedeutet.
Ernft £udwig Schellenberg
Allen Mannfkripten ift Borto Binzuzufügen, ba andernfalls bei Ablehnung eine Rädfenbung
nicht verbärgt werben Tann.
Rahdrud fämtliher Anffäge nur mit ausbrädiicher Erlaubnis bed Berlagd gefattet.
Berantwortlih: der Herausgeber Georg Eleinomw in Berlin- Lichterfelde Weil. — Wanuffriptiendungen und
Briete werben erbeten unter ber Abrefle:
Un den Serandgeber ber Grenzboten in Berlin - Lichterfelde Weit, Steruftraße 56
Yerniprecder bes Herausgebers: Amt Lichterfelde 498, bes Verlags und ber Schriftleitung: Amt Rägon 6510.
Berlag: Berlag ber Srenzboten &. m. b. G. in Berlin SW 11, Tempelhofer Ufer 84.
Drud: „Der Neihsbote” &. m. 5. H. in Berlin SW 11, Deflauer Straße 86/87.
Wir bitten die Sreunde der
Grenzboten
.. .. +. +.
.. .. +. .s
das Abonnement zum I. Quartal 1916
erneuern zu wollen. — Beftellungen
nimmt jede Buchhandlung und jede
Poftanftalt entgegen. Preis 6 M.
PBerlag der
Orenzboten
®m.6.£.
Berlin SW ıı.
Nationalfirchliche Phantafien eines Engländers
Don Dr. Albert Werminghoff, Profeffor der Gefchichte an der Univerfität Halle
4 or uns liegt der Auszug aus einem Auffate, den der englifche
u Schriftiteller R. B. Sheridan in der Oftobernummer der „Nineteenth
K Century“ veröffentlicht hat, — eS verlohnt ihn zu wiederholen
VE und alsdann mit Anmerkungen zu verjehen, die der Bedeutung
der darin ausgebreiteten Gedanken das Urteil fprechen follen.
Der Berfaffer erinnert zunädhft an das bittere Gefühl der Verlafjenbeit,
das ih der Katholifen in den Ländern des Vierverbandes bemädhtigt habe,
dan! nämlich der „wenig heldenhaften Neutralität”, zu welcher der Bapft in
einem Augenblid feine Zufludht genommen, als feine geiftlihen Untertanen nad)
feiner Führung verlangten. Sie hatten eine Verurteilung der unausfpredlichen
Greuel erwartet, gegen die das Haupt der belgifchen Kirche, Kardinal Mercier,
proteitierte. Sie fühlen fich faft bloßgeftellt durch das Schweigen ihres Ober-
hauptes. Geraten dadurch nicht die Bifchöfe der Tatholifchen Kirche in den
friegführenden Ländern in eine zweideutige Lage? Die neuerliden Unterredungen
des Papfte8 mit Yournaliften, die eine nur wenig verfchleierte Parteilichleit für
die Sahe der Barbarei durchbliden Iaffen, mehr noch die Vorjchrift eines
Gebetes um Frieden für englifche und franzöfifhe Katholiten, deffen Wortlaut
mehr im Sinne ihrer Feinde ald in ihrem eigenen ijt, hindern die Be—
mähungen der Bilhöfe um die Förderung der Sache der Zivilifation. Belgien
wird e8 nimmer verwinden, daß der Papft im kritifden Augenblid fein Wort
in der Offentlichfeit für fein Märtyrertum fand. Er hätte dazu gar nicht nötig
gehabt, die ihm zugefchriebene Gabe der Unfehlbarfeit durch ein ex cathedra-
Urteil anzuwenden. SYedenfalls, meint der Verfaffer, würde es für die fatholifche
Glaubensgemeinſchaft weniger verhängnisvoll gewefen fein, wenn fi der Papft
bei einer Gelegenheit diefer Art einmal geirrt hätte, al3 daß er gleichgültig
blieb. Selbft eine neutrale Haltung fehließt noch nicht die Möglichkeit aus,
Grenzboten I 1916 b
66 Uationalfirhlihe Phantaflen eines Engländers
—
gegen grobe Verlegungen internationaler Gefege, gegen jeheußliche, zumeift an
Tatholiihen Frauen und Kindern begangene Berbredhen zu proteftieren. Ein
zwingender Schluß aus diefer Untätigfeit ift der, daß nicht die Furcht, fih zu
irren, nicht die NRüdficht auf eine mit Necht oder Unrecht angenommene Neu-
tralität, fonbern bdireltes ntereffe an der Zulunft der germanifhhen Mächte,
befonders LOfterreihg, der wirflihe Grund für das Friedensgebet und andere
unfreundliche Zeihen war. Nichts, was der Papit von nun an tun fann,
um feine Gleichgültigleit gegen den Auffchrei der leidenden Menjchheit wieder
gutzumadhen, nicht einmal in zwölfter Stunde, der Eifer für feine eigene
nationale Sade, Tann den beflagensmwerten Eindrud verwildhen, den jeine
Haltung bervorgebradit bat. Seine belgifhen und franzöfiſchen Glaubens⸗
genofien werden wahrfcheinlich fhon in der nädjiten Zeit Schritte ergreifen, um
fi von feiner Bormundihaft zu befreien. Wohin werden fie fi wenden?
Nun, der enge Zuſammenſchluß Frankreichs, Englands und Rußlands und bie
zunehmende Wertihägung der Einrichtungen des legteren Landes werden fiherlich
au der ruffiihen Kirhe und ihrem Glaubensbelenntnis höhere Bedeutung
verleiben.
Diefe Kirche ift nicht neutral geblieben. Hätte fi die ruffiiche Kirche
hinter dem Schleier einer opportuntftifchen Neutralität verborgen, fo wäre ein
unmittelbarer deutfcher Triumph die notwendige Folge gemwefen, denn der
ruffiiche Soldat verdankt feine Baterlandsliebe und feinen Kreuzfahrergeift haupt⸗
fächlich diefer Kirche. Die rufftifhe Kirche aber vereinigt, wie neuerdings Stephen
Graham, der Berichterftatter der „Times“ in Petersburg, der Fürzlid nad
England zurüdtehrte, aud) dem britiichen Lefer bemiefen hat, Nationalität mit
Katholizität. Ste übt darum einen bemerfenswerten Einfluß auf die große
Mehrheit der Untertanen des Zaren aus.
Die Emanzipation der flamwifchen Völker von der öfterreidhifdh-ungarifchen
Herrſchaft, unter der fie jebt jhmachten, wird deshalb für die Tatholifche Pro-
paganda in jenen Ländern ein fhwerer Schlag fein. Das haben auch fchon
einflußreiche römifche Kreife gefürchtet und vorausgefehen. Zransfylvanien, bie
Bulomwina, Bosnien, die Herzegowina und Dalmatien werden ficherlich, für den
Fall einer öfterreihifchen Niederlage, ein großes Wiederaufflammen der Be
geifterung für die Religion des St. Chryfoftomos erleben. in größeres
Serbien wird aud) eine große Mehrheit griehiij-orthodorer Serben umfaffen,
und der Fall KonftantinopelsS und der Wiedereinzug des griedhifchen Patriarchen
in die Hagia Sophia wird die Wiederherftellung der griedifch-orthoboren Kirche
vollenden und das 1453 dur) die Einnahme Konftantinopel3 gejtörte Gleich.
gewicht der öftlihen und weltliden Kirche wieberberitellen.
Am Verein mit der Unzufriedenheit, die die unmürdige Auslegung ber
Neutralität feitens des Papftes mit Recht hervorgerufen hat, werden dieje Er-
eigniffe auf die befpotifche Herrihaft der weftlichen Kirche einwirken. ine
VBerwerfung des vatilaniihen Konzild wäre der erite Schritt, um bie römifdh-
Zationallirchlidge Phantafien eines Engländers 67
tatholifhe Kirche von der übertriebenen Zentralifatton freizumachen, die während
des Krieges foldhe beflagenswerte Refultate gezeitigt bat. Rußland würde
eine foldde Bewegung in jeder Weife unterftüben. Die rufftiche Religion könnte
al Borbild für die Wiederberftellung einer autonomifchen belgtfchen und fran-
zönfhen Nationalliche dienen, die von päpftlicder Obftruftion befreit wäre.
Belgiens Streit ift ein Streit mit dem Bapfttum al8 SYnftitution. Mit
jhmweigender Zuftimmung diefes überfhägten Heiligen Stuhls find feine Felder
und Städte verwüftet worden. Wenn e8 nad dem Stiege an den Wieber-
aufbau feiner Heimftätten und Altäre gebt, wird der neutrale Papft vielleicht
finden, daß er zu lange beifeite geftanden, und baß biefes fchmwer buldende
Bolt feinen väterlichen Rat als verfpätet und unannehmbar ablehnen wird.
„Sollte eine nationale Kirche aus den Ruinen Lömwens filh erheben, jo wird es
die Gejhichte fpäter beftätigen, daß das belgifche Volt damit den richtigen und
logifhen Schluß aus feiner bitteren Erfahrung gezogen und den Schritt getan
bat, der e8 einzig und allein vor einer Wiederholung einer folden Erfahrung
bewahren Tann.“
Soweit R. B. Sheridans Darlegungen, die, wenn wir nicht irren, in
Deutſchland und Ofterreich noch wenig oder vielleicht gar nicht befannt geworden
find. 8 Tann dahingeftellt bleiben, in welddem Umfang aus ihnen ein einzelner
oder ein größerer Kreis von Gefinnungsgenofien fpridt — möglicherweife hat
der Berfafjer mit diefem oder jenem nach England geflohenen Belgier Rüd-
fprae genommen —, jedenfalls verraten auch fie, wie tiefe Furchen die Pflug-
Ihar des Weltfrieges zwiichen dem Geftern und dem Morgen gezogen bat, um
alte Brüden zwifdhen den Nationen einzureißen und an neue, andere denken
zu laſſen.
Seit dem Erſcheinen des Aufſatzes iſt der Traum eines größeren Serbien wie
eine Seifenblaſe zerplatzt; ob England und Frankreich noch in der Folge ihre
Truppen für Rußland bluten laſſen wollen, um dem Zaren die Herrſchaft über
Konſtantinopel zu verſchaffen, ſteht in weitem Felde. Jede Erörterung über
die Stellungnahme des gegenwärtigen Papſtes — er wurde am 4. September 1914
gewählt — zu den einzelnen Kriegshandlungen ſei vermieden, wenngleich bemerkt
werden mag, daß Sheridan mit keinem Worte der Kriegserklärung Italiens an
Hſterreich vom 28. Mai 1915 und der dadurch weſentlich beeinflußten Lage
Benedilts des Fünfzehnten gedenkt). Unbedingt ſpricht aus dem Artikel ein
Mann, deſſen Kenntniſſe vom inneren Weſen des Papſttums ſchlechthin ſtümper⸗
haft zu nennen find; ſeine ironiſch klingenden Ausfälle auf die päpftlide Un«
fehlbarkeit verraten, gelinde geſagt, naive Harmloſigkeit, da ſie nicht berück⸗
fichtigen, wie gerade das Dogma von der Infallibilität jedem Nachfolger Petri
*) Vergl. darũber J. Bachem in den Süddeutſchen Monatsheften 19156 (uni) ©. 454 ff.
8. Hilgenreiner, bie römiſche Frage nach dem Weltkrieg. Prag 1916. Unmittelbar nad
Abſchluß des Manuſtkripts wurde die Anſprache des Papſtes im Konſiſtorium am 6. Des
zember 1915 veröffentlicht.
5*
68 Uetionallirdlihe Phantaflen eines Engländers
——
Schranken auferlegt, weil eben jeder feiner Ausfprühe ex cathedra aud) die
Gefamtheit der Tünftigen Päpfte bindet. ES Hieke der in langer Tradition er-
worbenen Erfahrung und Vorausfiht Roms Abbrud) tun, wollte man annehmen,
der Papft hätte „bei biefer Gelegenheit zu irren“ fich entichließen Tonnen. Seine
Entfcheibungen ex cathıedra gelten nicht Zatfacdhen, fondern Glaubensfäten und
Sittenvorfchriften; fie Haben Andersdenkende und Anderöglaubende zu verfludhen.
Men aber würde er zu verfluchen gehabt haben, hätte er dem Wunfche Sheridans
Rechnung getragen? Die Deutichen, fo meint natürli unfer Gegner, — aber
im Heere der Deutfhen lämpften gläubige Katholiten; follte er fie verfluchen,
um der Belgier willen, die dem Sriegsredht Hohn Ipradden, um der Franzofen
willen, die den Dom von Reims zum Stübpunlt ihrer Beobadhtungsftation
madten? Soll er jebt die Jtaliener verfluchen, weil fie den Dom von Börz
unter das Feuer ihrer Batterien nahmen, und mit dem ganzen Nahdrud feiner
Mürde auf die Seite der Ofterreicher treten, der Bundesgenofien alfo ber
Dentfhen? Dan fieht, Sheridan gerät in einen Wirbel fi) gegenfeitig auf-
hebender Tatſachen; feine Forderung tft Tindiich.
Er droht des weiteren mit dem Abfall der belgifhen und franzöfifchen
Katholiten vom Bapfttum und feiner „deipotifhen Herrihaft“, vergibt aber
leider, daß der Papft das Oberhaupt der Katholiken des gejamten Erdfreifes
ift und daß die eigene Prophezeiung völlig in der Luft jüwebt. Wem würde
der Abfall Ihaden? Die römiich-Tatholiihe Kirche bat den „Abfall“ der Pro-
teftanten erlebt und überwunden; fie würde alfo aud) den der Yranzojen und
Belgier zu tragen willen. Qirügen nicht Beobaditungen in Sranfrei, fo ift
gerade in diefem Lande unter dem Eindrud des Krieges der religiöfe Sinn zu
neuem Leben erwacht, wie nicht anders zu erwarten in ber Ausprägung, wie
fie ihm der römifche Katholizismus gewährt. Und diefer religiöfe Sinn fol
als fein erftes Lebenszeichen den Abfall vom Bapfttum offenbaren? Das wird
nur der glauben, der die Trennung von Staat und Kirche in Frankreich als
eine Zerfehneidung auch der ibeellen Bande anfleht, die den franzöfifchen Katho-
Iifen mit Rom verknüpfen. Noch heute gibt es in Frankreich „Ultramontane”,
und diefe follten fi von Rom fcheiden wollen? Das franzöfifche Voll hat im
Laufe der Zabrhunderte wiederholt mit dem Papft im Stampfe gelegen; e8 er-
innert fi) jehr wohl feiner gallifanifchen Freiheiten, die fein Köntgtum ihm
einft erwirkte, mit feiner ganzen Naturanlage aber, mit feinem Drange zur
Bentralifation ift es innerlih dem Katholizismus und folgemetfe dem Bapfttum
derart wejensverwandt, daß e8 dem Kultus der Vernunft nicht noch einmal
rafch zeritörte Altäre errichten wird. in breiten Schichten religiös indifferent,
befigt e3 unter feinen Angehörigen der Gläubigen noch genug, die troß aller
„separation‘“ den organiihen Zufammenhang der kirchlichen Einrichtungen in
threm Lande mit der allgemeinen Kirche nicht zerftört mwiffen wollen. Wider
den Sinn feiner eigenen Vergangenheit belämpft e8 heute als gefnechteter Sklave
Englands die Türkei und den Slam, beraubt es fi) damit wertvoller Stüßen
Xationalfirhlihe Phantaflen eines Engländers 69
feines Einfluffes im Drient, die jemer Ausfprud eines Minifters: „L'anti-
clericalisme n’est pas un article d’exportation“ in Schub und Pflege nahm.
Soll e8 nunmehr, um der furdht- und mitleiderregenden Drohung Sheridans
willen, im eigenen Lande zu allem no den Kampf zwifdhen romtreuen
und romfeindlien Katholifen entfahen? Sol das Schaufpiel der Parteiung
unter dem Klerus Frantreichs fid wiederholen, wie e8 die franzöftfche Revolution
durch den Bruch zwilchen beeidigten und unbeeidigten Prieftern gewährte?
Befebt den Fall, Sheridans Borausfage würde im Hinblid auf Frankreich zur
Tat, ihre Folge wäre die Bildung von romfreien und romtreuen Gemeinden
innerhalb desfelben Volles, alfo alles andere eher denn eine nationale Kirche,
deren @igenart gerade darin befteht, dak fie die Angehörigen Besjelben Volles
ımd desfelben Glaubens zu einer rechtlichen Gemeinſchaft zuſammenfaßt. Geſetzt
ferner den Fall, e8 bildeten fi) jene beiden Gruppen von Gemeinden in Frant-
reih, welde von ihr würde dann das Bee der Trennung von Staat und
Kirche aufrechterhalten wünfhen? Die romfreien müßten, wenn in der Minder⸗
beit, die Hilfe des Staates für fi in Anfprucdh nehmen, um ihr Dafein zu
friften, wenn aber in der Mehrheit, die Trennung der Kirche vom Staat als
einen Hemmfdhuh empfinden, der es vereiteln würde, die romtreuen Gemeinden
ihrem Willen zu unterwerfen. Das Schlagwort von der „liberte* würde au
bier zum Spott, ganz abgefehen davon, daß nad) aller geihichtlicden Erfahrung
eine Nationallirde nur in Anlehnung an den Staat denkbar tft; Verfuhhe einer
Rationallirde ohne den Staat, wie fie etwa die deutiche Gefcichte kennt, find
geicheitert. Sollte Frankreich eine romfreie Nationallicche fih fchaffen wollen,
jo müßte es zunädft da3 Zrennungsgefeg wieder aufheben und die Erinnerung
an die Kämpfe, die feiner Einführung vorangingen, dürfte nicht ermutigen,
ihre Wiederholung zu wünjden, wenn e8 gilt, nad) einem Friedensfchluß mit
Deutihland, die materiellen und völlifhen Wunden des Landes einigermaßen
zu beilen, die der Krieg ihm gefchlagen hat. ES frommt nicht, dem Staate
eine neue Berfaffung zu geben während eines auswärtigen Krieges, und ebenfo-
wenig der Kirche eines Landes, wenn ihre Kräfte insgefamt in den Dienjt der
inneren Ermeuerung des Volles gezogen werden müflen. Der Strieg bat au
in Franfreih den geiftig hochftehenden Kreifen Berlufte zugefügt; follen nach
{dm die romfreien unter ihnen fi jondern von den romtreuen, um allein das
Privileg für fich zu beanfpruchen, als vaterlandsliebend zu gelten? — Etwas
anders liegen die Dinge in Belgien, über die aber deshalb jchwerer zu fprechen "
it, weil das Schidfal Belgiens als Staat no im Schoße der Zulunft ruht.
Man hat das beigifche Syftem bes Verhältniffes zwifchen Staat und Kirche als
das „der freien Kirche im unfreien Staat“ bezeichnet. Angenommen, in Belgien
lehrte alles auf den status quo ante zurüd, in Belgien vollzöge bie Sirdhe
den von Sheridan angefündigten Abfall von Rom: würde das an die Leitung
durch -Geiftliche gemöhnte Voll, dem die Untertanfhaft unter den Papft alt-
ererbte Vorftellung ift, feinen Führern folgen, jebt, wo e8 erlebte, wohin bie
70 Xationalfirhlie Phantaflen eines Engländers
Ratfchläge mander fanatifierter Kleriler trieben? Belgien ift das mit Klöftern
und Drbensleuten am meiften gefegnete Land, die Sefuiten find einflußreich
und in ihrer Bollandiftenfchule wiflenfchaftliden Arbeiten zugelehrt, die nur
wiederum im Anfhluß an Rom ihren guten Sinn behalten. Dan frage fi),
ob nit au in Belgien eine Löfung vom Zentrum der römtjdh-Fatholifchen
Kirche in fich felbft ntoptfch tft, nicht zulegt ein Bruch mit der ganzen Ber-
gangenheit des belgifchen Volles, defjen Erinnerungen im Kampfe für Rom
gegen den Proteftanttsmus gipfeln. — Aud an die englifhen Katholifen fcheint
Sheridan zu denfen, wenngleich er ihre Mitwirfung nur verfhämt andentet,
ähnlich wie feine Landsleute im Kampfe der Waffen die farbigen Engländer
und ihre Bundesgenoffen vorzufchiden Lieben, fofern fie nicht neutrale Völker
in ihren Dienft zu preflen trachten, wie fie eg einft mit den Matrofen ihrer
Flotte taten. No popery war einft die Lofung Englands im Zeitalter der
Reftauration; in anderem Sinne wird fie jebt von Sheridan erneut. Gewiß,
es tft befannt, daß auf der britifchen nfel heute ein ziemlich ftarker Zug zum
Katholizismus beitebt, daß die Verfafiung der englifhen Kirche mit ihren
Biihhöfen, daß ihre Liturgie mit ihren prunlvollen Gottesdienften fich den römiſch⸗
fatbolifden Ordnungen nähern, — wird es möglich fein, diefe Neigungen und
diefe Ähnlichkeiten in ihr Gegenteil zu verkehren, weil Sheridan e8 für nötig
halt? Wie follen fi die Katholifen in den englifchen Kolonien verhalten?
Sollen fie und ihre Glaubensgenofien in England in einer romfreien, vom
Staate geleiteten Nationallirhe fih zufammenfinden? Der tühne Ratgeber
ſchweigt — und jagt damit alles.
Am eigentümlichiten bleibt die Reihe der Säbe, in denen der englifche
Kichenpolitifer, wenn anders diefe Bezeichnung überhaupt auf Sheridan an-
gewandt werden darf, von den Maßnahmen berichtet, die das ihm vorfchwebende
Biel herbeiführen Tönnten. Zunädjit: wer fol das vatilanifhhe Konzil ver-
werfen, um damit dem Papfte Abbruch zu tun? Die einzelnen Gläubigen in
Belgien, Franfreih und England? Nach Tatbolifher Auffaffung ift die Kirche
Khtbarlih in ihren Biihöfen und Geiftliden verkörpert, hat fie alfo die Laien
durch die hierarchia ordinis zu beiligen, zu leiten und zu belehren; fie fennt
fein allgemeines Prieftertum ihrer Gläubigen und fann darum auch fein Plebiszit
unter den Tatholifhen Bewohnern eines Landes über die Frage zulafien, ob fie
fortan romfrei oder romtreu fein wollen. Sollen die Bifchöfe und Geiftlichen
. das Vaticanum verwerfen? Die Gefhichte Tennt episkopaliftiihde Neigungen
unter dem Klerus mehr als eines Landes, ihre Tendenz aber befehdete nicht
ben Glauben, ber das Welen der Kirche ausmadt, fondern die Verteilung
firhlider Madt, demnad Schöpfungen des SKirchenrehts. Angenommen ein-
mal, die fatholiihen Bifhöfe und Geiftlichen insgefamt in Frankreich, Belgien
und England kündigten die Unterwerfung unter das vatifanifche Konzil: würden
fie dann Katholifen bleiben Tönnen? Würden fie nicht ipso facto aus ber
Glaubensgemeinſchaft mit Rom und den übrigen Katholiten ausfcheiden? Nein
Qationallichhliche Phantafien eines Engländers 1
Zweifel, unter ihren Laien würden fih alsbald diejenigen von ihnen abfondern,
die am Baticanum feithalten und ihrer alten Kirche mit allen ihren Dogmen
die Treue bewahren. Die abtrünnigen Bilchöfe und Geiftlichen würden aller
Wahrjheinlichleit nach Felbherren ohne Heere fein und über kurz oder lang
wieder in den Schoß der alleinjeligmadhenden Kirche zurüdzulehren tradhten,
jene wie ihrer Borgänger, die einft ber Verkündigung der{infallibilität wiberftrebten.
Das Papfttum befämpfen, indem man aus feiner Krone den Stein der Unfehl-
barkeit entfernt, beißt Reber fein; Die furdhtbare Wucht jene Dogmas befteht
nicht zum wenigften auch darin, daß es von jedem Katholifen Unterwerfung
fordert oder ihn als unnübes Glied vom Körper der Kirche löf. Sub dogmate
infallibilitatis sit catholicus aut non sit, — bat das nicht die Bewegung
des Altkatholizismus fchmerzlih erfahren? Weiterhin aber, Sheridan unter-
hätt mit einer Art halsbrecheriichen Leichtfinns die ftarfe Kraft der gemein.
jamen Einridtungen in Kultus und Verfaffung, der gemeinfamen Kirchenfprache
und der gemeinfamen Traditionen, der perfönlihen Beziehungen fonder Zahl,
die den Katholifen einerlei welcher Nation und Lebensitelung mit der Gefamt-
beit aller übrigen Katholifen zufammenjhhweißen. Er erhofft für fein Ziel die
Unterftägung durch die ruffifche Kieche, deren Haltung während des Weltkrieges
ihm Worte der Bewunderung entlodt. Wie er fich diefe Unterftüung dentt,
wird wohlweislich verfchwiegen; nur das Endergebnis ift durch die fchillernde
Phrafe von der Wiederberftellung des Gleichgewichts der äftlichen und der meit-
lichen Kirche angedeutet. ft fchon das Wort vom Gleichgewicht unter ben
Staaten des feftländifchen Curopa längft als der Dedmantel erlannt, unter dem
England die Ausnusung feiner Herrfhaft in der Welt bemerlitelligte, gleich
al ob es nicht erlaubt wäre, ein Gleihgewicht unter den Weltmächten auf dem
ganzen Erdenrund zu fordern, fo erjcheint daS Berlangen nad einem Gleich.
gewicht der Kirchen des Ditend und des Weftens deshalb in fich felbit wider-
finnig, weil auch protejtantifhe Kirchen beitehen, weil der Slam und die fog.
beibnifchen Religionen Dafeinsberechtigung haben. Sheridan deltetiert: die
ruffiihe Kirche wird die neuen Nationallivchen fördern, — fdhade, daß feine
Stimme verhallen wird wie die des Predigers in der Wüfte.e Der Gegenfag
zwiſchen der griechiſch⸗katholiſchen Kirche und der römifch-latholiihen nach
Glauben, Kultur, Recht iſt ſo alt, ſo tief eingewurzelt, ſo unüberbrückbar, daß
bisher alle Wiedervereinigungsverſuche geſcheitert ſind und ſcheitern mußten;
man braucht etwa nur Döllingers Vorträge über „die Wiedervereinigung
der chriſtlichen Kirchen“ oder diejenigen Harnacks über „das Weſen des
Chriſtentums“ mit ihrer Würdigung ſeiner verſchiedenen Formen zu leſen, um
aus ihrem Tiefſinn und Weitblick abzuleiten, daß dem Worte von der Unter—
ſtützung katholiſcher Kirchen — und das ſollen doch jene neuen Nationalkirchen
bleiben — durch die griechiſch⸗katholiſche nur das Gewicht eines Staubkorns
zuzumeſſen iſt. Für Sheridan verſchlägt geſchichtliche Erinnerung wenig, ſo ſehr
er ſich mit der Schülerweisheit brüſtet, daß Konſtantinopel im Jahre 1458
72 Xationalfirhliche Phantaflen eines Engländers
von den Türken erobert wurde; er gleicht jenen zahlreichen Stribenten, bie
ihren Heinen Gedantenbligen Beadhtung, Durchführung wünfchen, ohne darüber
Har zu fein, daß im Leben der Völker al8 unvergänglicder Gebilde die Vergangenheit
nachwirkt, wie auch unfere Zeit dermaleinft Vergangenheit fein wird. Gerade von
Bauwerlen wie fie alle Kirchen, eine jede in ihrer Art, Darftellen, von Bauwerlen, an
benen bie Jahrhunderte Ihufen, um fich für ihre religiöfen Bebürfniffe jchirmende
Heimftätten zu errichten, gilt da8 Wort Yalob Grimme, daß über diejenigen,
welde nichts von der Vergangenheit wiffen wollen, fehr bald auch die Zukunft
den Stab brechen wird. Zugegeben felbft, daß im Fluß biftorifhen Geichehens
die Kraft des biftoriichen Befinnens fi) abjehwäcdht, wer Fragen aufmwirft von
der Tragweite, von der Schwere, von dem Ernte wie die, in weldem Augen-
blide, unter weldden Borausfehungen und mit weldden Mitteln Nationallicchen
eritehen Fönnen, gerade ein folder Mann follte fi nicht derartige Blößen
geben, wie Sheridan e8 getan bat.
Edendeshalb, fo wird man einmwenden, lohnte es nicht der Mühe, den
Phantasmagorien jenes Artilels im „Nineteenth Century“ entgegenzutreten;
Utopien, wird es heißen, widerlegten fich felbft durch ihre Undurchführbarteit.
Unfer Gedanfengang war ein anderer. Sheridans Aufſatz bezeugt zu feinem
Zeil nicht zulet die Vielgeftaltigleit der Begleiterfcheinungen des Strieges, der
eine Welt umzuwandeln fih anjhidt. Die gemeinfamen Ynftitutionen, die vor-
dem die Menden einander näherten, find außer Kraft gefebt, feitdem ein Volk
ber weißen Rafje gegen feinen Nebenbuhler die Stämme der Schwarzen und
Gelben aufbot, fetten es die Glode der Lüge und ber Verleumdung ertönen
ließ, um einer angemaßten Sittlihleit und oft genug zur Schau getragenen
Bornehmheit den Abfchied zu geben. Die Unterfchteve der Staatenformen
trennen nicht mehr die Völfer wie einft, feltvem das ariftofratifehe England fic
mit dem zarifhen Rußland und dem poincariftifchen Frankreich verbunden hat,
ganz abgefehen von feinen Trabanten in Portugal, Stalien und Serbien. Das
ftolge England, das einst den König binrichtete, weil er zum Katholizismus
neigte, ift der Genofje des Latholifhen Frankreichs und des griechiich-Tatholifchen
Rußlands. Wie ann e8 uns Deutfchen vorwerfen, daß wir uns mit Dfterreich,
Bulgarien und der Türkei verbanden? Wir planen feine Imgeftaltung ber
firliden Drganifation der Welt, fondern Erhaltung der beitehenden, weil mir
nicht aud) fie in den Strudel der Waffenfämpfe gezogen wünjdhen. Als Schild
und Schirm ftellen wir uns vor die evangeliide und die römifich-Tatholifche
Kirche, weil beide in unferem Volke verankert find, und überlaflen es dem
Walten und Weben gefamtoölfifcher Erlebniffe, die Glaubensunterfhiede beftehen
zu laffen und gleidmohl gemeinjfames fittliches Streben zu adeln.*) Wir glauben
nit an die werbende Kraft jenes Nufes nach je einer franzöftfchen, einer
*) Bgl. die Nede des Bifchofs bon Speyer, Midhael von Yauldaber, am 19. März 1915
(Germania vom 20. März 1915, ee Rr.67; 9. %. Helmolt, Das Buch dam Kriege,
Berlin 0. %., ©. 869 ff.).
Uationallirchliche Phantaften eines Engländers 73
belgifehen und einer englifchen Nationallirche Tatholifhen Belenntniffes, weil fie
Hindernifien begegnen werden, die ftärler find als Sheridan au) nur von ferne
ahnt. Sener Ruf ift ebenfo viel wert wie jenes Lob, das englifche Miffionare
ihree Miffion unter den Heiden zu fpenden lieben: fie war der Schleier —
lange und leider war er allzudiht —, der englifches Herrichergelüft verbedite,
um Bölfer zu Tnedhten und englifhe „Tsreibeit" zu erzeugen. Shberidans
Forderungen fehen die von ihm gewäünfchten Nationallichen in einen unlös-
baren Widerjpruh zum Satholizismus, deflen Preisgabe der Sohn Albions
vorfichtig nicht ihren Angehörigen zur Pfliht macht, zur Entmidlung des Katho-
liismus, dejjen Dogmen in dem von der Unfehlbarfeit des ‘Papftes derartig
gipfeln, daß mit und in ihm entweder alle übrigen anerkannt oder verworfen
werden. Einen Mittelweg, einen Halblatholizismus fanın es nicht geben. Sene
Rationallircden würden fi nur halten Lönnen im Anfchluß an die entiprecdenden
nationalen Staaten, von denen ber franzöfifche fi) von der Kirche getrennt hat,
während der belgifhe fich ihr unterwarf. So bliebe nur der englifhe Staat
al8 Schirmherr feiner Tatholifden Nationallicdhe, als Patron derer von Franl-
reich und Belgien. Wer wird es bei folder Perfpeltive wagen, den Bapft zu
tadeln, daß er zurüdhielt, um nicht den engliihen Einfluß au auf die Firch-
lihen Dinge in den von England politifd und wirtfchaftlich abhängigen Staaten
beraufzubefhwören? Auf Ummegen plant Sheridan die Machtiphäre Englands
u vermehren und zu verewigen, die Klugheit Benebilts XV. aber wollte der
Unverjehrtheit und Selbitändigfeit jener Kirche dienen, die für fich die Ver-
keikung in Anfprud) nimmt, daß die Pforten der Hölle fie nicht übermältigen
jolen. Die Gerechtigleit verlangt au vom Broteftanten, daß er den Dienft
anerfenne, den Rom der Sache nicht zulegt unferes deutfchen Vaterlandes
geleiftet bat.*)
*) Bgl. zu diefem Gedanken au M. Made, Die Kirche nach dem Sriege (Tühingen
1916), ©. 49 ff.
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RT
(7
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Slawifhe Ortsnamen im Brandenburgifchen
Don Dr. Buftav Rauter
u icht nur die Grenzen der Staaten, fondern aud) diejenigen der
Fa Sprachen haben im Laufe der Gefchichte große Veränderungen
AN durchgemacht. So wurde das heutige Gebiet der Mark Branden-
burg in den Zeiten vor Beginn der Völlerwanderung von dem
beutfchen Stamm der Semnonen bewohnt. Dann aber verließen
biefe ihre Wohnfige, gingen nad) Süddeutfchland und nahmen bier den Namen
Ulemannen an. Sn das nunmehr nur noch fchmach bevölferte Land drangen
dann von Dften ber flawifche Stämme ein, die Liutizen, Heveller und Sorben.
Deren Sprache, das MWendifche oder Sorbifhe, wurde dann au) von den Reften
der deutjchen Urbevölferung angenommen und beberrfähte das Land, bis im
fpäteren Mittelalter wieder Deutfde vom Weften ber erobernd eindrangen.
Erſt Albreht dem Bären gelang es dann im 12. Jahrhundert, Brandenburg
endgültig wieder für das Deutfchtum zu fihern. Koloniſten, namentlich auch
aus den Niederlanden, wurden berbeigerufen, und die Bevölferung nahm raich
faft überall die deutfche Spradhe wieder an. Das fiel ihr freilich umfo leichter,
als fie ja einesteils fchon von Haufe aus halbdeuticher Abkunft war, andrer-
feit8 aber au) die bier anfälfigen Slawen Teineswegg — im Gegenfaß zu den
fpäteren Berhältniffen in Polen und ARupland — etwa mit aflalifhen Bölfer-
Ihaften gemifht waren. Die ſlawiſche Sprade als folche Iebt heute in Branden-
burg nur in jener Landfhaft noch fort, die als Spreewald befannt ift. Aber
weit darüber hinaus Hat fih im Brandenburgifden — mie au) in fehr vielen
anderen Zeilen des deutfchen Sprachgebietes — als dauerndes Andenten an
die einft berrjchende Sprache eine große Zahl flawifcher DOrt3-, Flur-, Gemwäfler-
und Perjonennamen erhalten. Hierauf wollen wir nun beute unfer Augenmerf
richten und zwar in erfter Linie auf die Ortsnamen. Dabei wollen wir ung
im wejentliden auf das Gebiet Brandenburgs befchränten, ohne aber aud
gelegentliche Hinweife auf ähnliche Verhältniffe anderer Gegenden auszufchließen.
Nun ift freilih die Kunft der DOrtsSnamendeutung nicht fo einfah. Als
ein auffälliges Beifpiel, wie leiht man bier daneben greifen Tann, fei 3. 3. ber
Name des Drte8 Marquart bei Potsdam angeführt. Da diefer in der wen-
diihden Mark, dicht an der früheren Grenze gegen jlawiiches Gebiet gelegen ift,
fo liegt nicht8 näher, als anzunehmen, daß fi urfprängli dort eine Warte
befunden habe, von wo aus man etwa verdädtige Bewegungen von jenjeits
der Grenze habe überwachen wollen. Aber es ift Yeider nichtS mit biefer
Slawifhe Ortsnamen im Brandenburgifchen 75
Markwarte; der Dirt bieß bis ins 18. Jahrhundert Schorin und wurde dann
erft nad) dem Bornamen des damaligen Rittergutsbefiger® Marquart genannt.
Um mit Namensdeutungen filjer zu gehen, müßte man alfo eigentlich in jebem
einzelnen Falle wifien, weldem Umftande der betreffende Drt wirklich feinen
Ramen verdantt. Außerdem müßte man aber auch wiffen, wie ber betreffende
Name urfprünglich gelautet bat. So fcheint 3.8. auch die Deutung des
Namens Fiſchhauſen (in Dftpreußen) fehr einfach; die Ableitung von Filchen
oder Yilhern wird aber dadburdh unmögli, dab wir zufällig willen, daß der
Drt von einem Bifchof gegründet ift und erft Bifhofshaufen geheißen hat.
Wir wollen nun in vorliegendem Auffage nicht fo verfahren, daß wir
einfach dasjenige zufammenftellen, was fi) in anderen Büchern oder Auffähen
an Namensdeutungen fehon fertig vorfindet. Denn abgefehen von allem an-
deren lafjen diele älteren Angaben vielfach nicht einmal erfennen, worauf fie
fußen, und wenn fie Worte als flamwifch anführen, fo weiß man oft gar nicht
einmal, ob es fi etwa um. das Altwendifche, oder um eine der beiden heutigen
wendifhen Mundarten, das Niederforbiiche oder das Oberſorbiſche handelt, oder
um da8 no bis ins 17. Jahrhundert geiprochene Polabifhe oder Nieder-
elbifhe im bannöveriihen Wendland, oder um das Tichechifche, oder um was
font. Yerner wird auch nicht einmal immer angegeben, ob bie betreffenden
Formen wirklich feiter Überlieferung entnommen, oder ob fie nur, wie man es
nennt, „eriloffen” find, alfjo mehr oder weniger auf Mutmaßung beruben.
Denn es ift dDurdaus zu beachten, daß wir gerade für da8 bier in Frage
fommende Gebiet faft niemals in der Lage find, über die Entftehung und die
erfte Form der alten Ortsnamen etwas Beitimmtes zu wifjen, zumal auch font
von der altjorbifchen Sprache fo gut wie nichts erhalten if. Immerhin aber
Iönnen wir einerfeit3 die noch heute gefprodhenen wendiien Mundarten, an-
dererjeit8 auch andere flawifhe Sprachen zum Vergleiche beranziehen. Bei der
großen Ähnlichkeit der verfchtedenen flawifchen Sprachen, und angefihtS des
Umftandes, daß es fi für unfere Zmwede nur um die Wortitämme handelt,
Iönnen wir uns 3.3. gut auf das Rufftiche ftüben. Dabei bietet diefe Sprache
noch den großen Vorteil, daß ihre Kenntnis einerfeitS verhältnismäßig weit
verbreitet ift, und daß andererfeit3 die ruffiiche Nechtfhreibung auf einem recht
frühen Zeitpuntt ftehen geblieben if. Das Schriftbild eines ruffiihen Wortes
gipt uns dann eine alte, für uns brauchbare Yorm aud) da, wo daS Lautbild
ganz anders ausfieht. So heißt Honig im Ruffifchen gejchrieben med (deutfch:
Meth), geiprocdhen aber mjod. Das Tſchechiſche ſchreibt und fpricht bier noch
die ältere Yorm: med. Wir werden uns im Nachfolgenden — wo nidht3 an-
dere3 ausdrüdlich bemerkt ift — durchgängig an das Nuffiiche Halten und hierbei
die Umjchreibung in unfere Schrift möglichft jo vornehmen, wie e8 der im
Deutichen üblichen Bedeutung der Buchitaben entipricht, dabei aber insbefondere
das wie jo gefprochene e durch & und das wie a geiprodhene o durd) o wieder-
geben, ba für uns, wie aus dem angeführten Beifpiel erhellt, das Schriftbild
76 Slawifhe Ortsnamen im Brandenburgifchen
die Hauptfadhe it. Ermweichte Konjonanten werden wir, wo e8 die Ausipradhe
erfordert, außer vor e und &, durch bintergefehtes j andeuten. Den weichen
frRaut werden wir mit |, den harten mit & wiedergeben, den z.Laut, um
Mibverftändniffe zu vermeiden, durch d. Die über ihre Ausfiprache ftet$
Bmeifel Iaffenden Buchftaben y und vd werden wir vermeiden. Damit wir den
deutfhen Lefer nit dur ungewohnte und unverftändlide Bucdhftaben ver-
wirren, werden wir aber außer den ruffifden auch die im folgenden erwähnten
tiheifhen und forbifchen Namen der deutfchen Ausfpracdhe gemäß umichreiben,
alfo fämtlide Halten und Striche durchaus verbannen.
Mas nun zunäcdft den alten Namen Brandenburg anbetrifft, fo wird diefer
gewöhnlich von einem flawiihen Worte Brennabor oder Brennaburg abgeleitet.
Es iſt fraglidh, ob dies zutrifft, da eben Brandenburg ein auch fonft in Deutjc-
land nicht ungewöhnlicher Ortsname ift und eine Anfleblung auf einer durd
Ausbrennen des Waldes erzeugten Lichtung bedeutet. Slawifh würde branj
Kampf und bor Fichtenwald bedeuten; alfo ein Wald, um defien Befit gefämpft
wird. Im Tichechiichen heißt, nebenbei bemerkt, brambori Kartoffeln, angeblich,
weil man fie zuerft über Brandenburg bat fennen lernen. Einen damit überein-
ftimmenden Sinn haben Reitwein (bei Küftrin) und Natibor (in Oberfchleften);
bier bedeutet ratj oder rjet Kampf, bor wieder Fichtenwald und wina Urfadde
(oder woina Srieg).
Die heutige Hauptftadt Brandenburgs, Berlin, bat dagegen ganz unbe-
ftritten einen flawifhen Namen; jedod tft man über feine Herleitung noch
nicht ganz einig. Nad der Ortlichfeit Iag bier zunächft auf der Spreeinfel ein
flamwifches Fiicherdorf auf einem aus Wafler und Sumpf fi erbebenden
Hügel, da8 den Namen Köln führte. Diefer Hügel Tann freilic nicht ſehr
hoch gewefen fein; denn es tft heute nichts mehr davon zu fehen; immerhin
muß aber do innerhalb des fonft jumpfigen Spreebetteg menigitens foviel
Sand zu Tage getreten fein, um die Entftehung einer Infel und die Erridtung
eines Filcherdorfes auf ihr zu ermöglichen. Köln (ältefte deutiche Form Kolne)
bezeichnet einen folden Hügel; das Wort ericheint in den verjchiedenften
Formen: Solm (an einem Berge) bei Potsdam; Gollnow (auf einem niedrigen
Hügel) in Pommern; Köln in Weftpreußen; SKolin, Kulm und Chlum in
Böhmen. Eholm in Polen (ruffifh Kholm, Iateinifh culmen). Mit Köln am
Nhein (damalige Form Köllen) bat dies Köln nur eine zufällige Namens-
gleicäheit gemein. 3 ift namentlie} der ganzen Lrtlichfeit nach ausgefchloffen,
daß etwa Nheinländer aus Köln den Drt gegründet und nad ihrer Heimat
benannt hätten. Gegenüber jenem Yijcherdorf wurde dann eine ftädtifche,
deutfche Anfieblung errichtet, die man nad) irgend einem flawifchen Örtlichfeits-
namen Berlin nannte, und zwar in der älteften überlieferten Form to dem
Berlin. Ortsnamen mit dem Ürtilel bezeichnen nun im Deutfchen eine An-
ftedlung, die ihren Namen erft vor Furzem einem Flurnamen entlehüt bat;
jpäter, wenn die Flur hinter dem Ort verjehwindet, fällt dann der Artifel weg.
Slawifde Ortsnamen im Brandenburgifchen 77
So 3. B. Ehrenfeld bei Köln am Rhein; erft fagte man das Ehrenfeld, eine
Hedeweife, die die Bewohner mit zunehmender Größe des Orts als beleidigend
empfanden, indem fie durdhaus nur in Ehrenfeld (ohne das) wohnen wollten.
Ähnlich Grüne in Weftfalen, fonft die Grüne oder auf der Grüne genannt.
Was bedeutete num der Berlin? Dtan bat hier von einem Pranger geiprochen,
der ih an der Stelle des heutigen Berliner Rathaufes befunden und dem
Drt feinen Namen gegeben habe. Hiernady fol der Name Berlin vom Worte
wertel berlommen, das Bratipieß oder Bratenwerder beißt und mit wertetj,
dreben, in Zufammenhang fteht. Died Wort, aljo etwa in der Form wertelina,
babe dann ein Brehhäushen oder einen Pranger bedeutet; auch fei das
italienifde Wort berlina, Pranger biervon abzuleiten. Aber wo in aller Welt
bat man denn einen Pranger jemals anderswo errichtet als im Mittelpunlte
des Berlehr8? Diefer Pranger aber hätte weit draußen an der Landftraße
gelegen. Man wirb alfo den Namen lieber fo deuten, daß er fi) der Drtlich-
feit anpaßt. Da ift nun zu beadten, daß Köln am Wafler lag, und daß
bemgemäß bie gegenüberliegende Vrtlichleit wohl einen Namen gehabt haben
dürfte, der damit zufammenftimmte. Am Waffer nun aber wachen Weiden,
die bredina oder werba genannt werden. Bon brebina (Stamm bred) fommen
Namen wie Brebdin und Bredow, von der Form werba: Werben, Werbig,
Werbellinjee, Febrbellin und Land Bellin. Dabei wäre dann Yehrbellin nicht
etwa die Fähre nad Bellin, fondern Bellin nur die übrig gebliebene zweite
Hälfte eines Wortes werbelina, Weidenland. Ebenfo wird aber auch Berlin
aus werbelina verfürzt fein. Dann wäre die urfprünglihe Bedeutung des
Namens etwa die: im MWetdicht.
Die einwandernden Deutfchen nun, die al Eroberer namentlih auch auf
ihre Gicherheit und auf die Beherrfhung der Land- und Waflerftraßen bedacht
fein mußten, fanden gerade diefe Stelle für eine Anflevelung fehr geeignet.
Denn einmal lief eine alte Straße von Teltom nad dem Barnim bier durch,
und zweitens war gerade hier der jumpfige Zeil des Flußtals befonders eng,
wie auch der Fluß felber infolge feiner Teilung in zwei Arme leicht zu fperren.
Lepteres wurde dann noch dadurch vervollftändigt, daß man nach dem gegen-
überliegenden Dorf Köln einen mit Mühlen befegten Damm, und im anderen
Spreearm ein Wehr anlegte, etwa dort, wo fich jeßt die Gertraudtenbrüde be-
findet, die übrigens, der Drtlichfeit entfprechend, früher Teltower Brüde bieh.
Durch dieſe Gunft der Lage geihah es, dak die Stadt von vorneherein im
Beiit eines Umfchlagrechtes war und. eine Schifferftadbt wurde. Man weibte
deshalb auch die neuerbaute Stadtkirche dem heiligen Nikolaus, dem Schugpatron
der Schiffer. Diefe Kirche nun lag naturgemäß ganz in der Nähe des Marktplabes.
Diefer wurde fpäter, fhon gegen das Naht 1300, der Alte Markt ge-
nannt, nadhdem ein neuer Stadtteil nördlich der heutigen SKönigftraße mit der
Marienicde und dem Neuen Markt binzugelommen war. Die Benennung
Moltenmarkt für ihn tft erft viel fpäter entftanden.
78 Slawifhe Ortsnamen im Brandenburgifchen
At-Röln war alfo dem neueren Berlin gegenüber zum Range einer von
Tilhern bewohnten Vorftadt herabgefunfen. Noch heute erinnern GStraßen-
namen, wie Filchergaffe und Filderbrüde an diefe Vergangenheit. Auch wurde
die auf dem damaligen Dorfplate — früher Teltower —, jet Getraubten-
und Scarrenftrage — erbaute Kirche dem Patron der Filcher, dem heiligen
Petrus, geweiht. Der Drt war mithin das, was man fonft den Sieß, die
Slawenvorftadt nannte, verwandelte fi aber fchon früh aus einer foldden in
eine gleichberechtigte ftäbtifche Anfledlung. Noch heute finden mir einen Sieb
genannten Stadtteil 3. 3. in Potsdam, in ARummelsburg, in Köpenid.
Mit Vorliebe nannten die alten Cinwohner Brandenburgs aber aud
fonft ihre Wohnftätten nad) den dort wadjenden Bäumen. Hier tft zunädjft
die Linde zu nennen, die lipa hieß. Drte wie Liepe, Liebenow, Liebenwalde,
neben deutfchen Benennungen mie Linde, Lindenberg, Linderode zeugen bier-
für. DVielleiht Tommt au Lieberofe von lipa in Verbindung mit dem
deutfden rode (Rodung). Auch Leipzig und das benadbarte Lindenau haben
ihren Namen von der Linde. Cbenfo hat auch die Buche (buf) ihren Namen
für viele Drte bergegeben, wie Budom und Budau, Buch und Buchholz.
Bulowina, der Buchenwald, beißt das befannte öfterreichifcehe Kronland, wie
au ein Ort (Bulowien) bei Berlin. Dub beißt die Eiche; davon der Dubrow
binter Köpenid und der Drt Dubraude, fomtie andererfeit3 Eiche, Eihow und
Eichwalde. Polniſch: Dombogora, Eichberg; Dombrowa, Eichwald; Dom⸗
browla, Eichenhain. Die Birke hat deutſchen Ortsnamen wie Birlenwerder
und Birfholz ihren Urſprung gegeben; im polniſchen Sprachgebiet leiten ſich
ſehr viele Namen von ihr ab, die dem deutſchen Leſer durch ihren Anlaut
Brz unverſtändlich ſind. Dieſer wird geſprochen bear-weiches ſch, der Orts⸗
name Brzezinka dabei noch mit weichem ſ in der Mitte, alſo ber- weiches
ſche-weiches ſ uſp. Davon der Perſonenname Brzeſinski, deutſch etwa:
von Birlenheim. Die Berefina tft der Birlenfluß (berefina: umgefallener
Birkenftamm). Ym Brandenburgifhen mag der Ort Brefh von Birke (ber&fa)
berfommen. 8 mag auffallen, daß fi von ber Birke zwar in Polen fo
viele, hierzulande aber nur fo wenige Ortsnamen ableiten. Das lommt da-
ber, weil die Birke urfprünglich nur öftlich der Weichfel ftärler verbreitet war;
erit feit dem Beginn des neunzehnten Yahrhundert3 ift fie bei uns in größerem
Umfange angepflanzt worden.
Wollſchow kommt von olcha (wendiſch wolſche) Erle; desgleichen Ollſchen
in Schleſfien; Galluhn und Kallinchen von lalina, Feldahorn oder gemeiner
Schneeball; Buſchow oder Büſſow von bus (andere Form bufſina), ſchwarzer
Hollunder. Auch in dem Worte Kiekebuſch wird der zweite Teil Hollunder
bedeuten, während der erſte Teil vielleicht von kiklimora, Waldgeiſt, abzuleiten
iſt. Alſo: Kiekebuſch, ein Geiſt im Hollunder. Dagegen Kiekemal ſchlechthin:
Waldgeiſt. Weiter kommt Grabow von grab, Weißbuche; Jaſchinitz in Weſt⸗
preußen und Haßberg in Böhmen von jaßen, Eſche; Töplitz bei Potsdam leitet
Slawifhe Ortsnamen im Brandenburgifchen 19
fi) von topol, Bappel, ber, (dagegen Teplit in Böhmen von teplo, warm,
nad) den dortigen Quellen); Wofchlow von der Zitterpappel (oBina, ferbifc)
woßa). Schlieffen und Schliebenbufd, auch das befannte Stimowiß,, fommen
von Blima, Pflaume; Gablenz (Kreis Sorau) und Gablonz (Böhmen) von
jablonj, Apfelbaum; Lehnig und Lehnin von len, Flachs, Leinkraut; Rabitz von
rjabina, Eberefhe; Tornomw, wie au) Tirnowa in Bulgarien von ternije, Dorn-
fraud; Modau, Mödern und die Mäfrit von mod, Moos; Kamiffom von
kamiſch, Schilfrohr; Strelitz, Stralſund und Stralau von Btrela Stengel (Röhricht)
Pfeil; daher au) der Name der Strelien, Pfeilfhüten in Rußland. Leichwik und
Letihin leiten fih von Ieß, Wald, ab; Drewig von derewo, Baum; Küffel bei
Potsdam von Luft, Straudd; Trave von trama, Gra8.
Nadelholz bat nur ganz felten feinen Namen hergeben müflen, wie denn
auch vor taufend Jahren Brandenburg no) nicht das Land der Kiefern, fondern
ber Eichen war. ft Do aud) der Grunewald erft feit wenig hundert Jahren
fein Eihwald mehr. So enthalten, wie bereit bemerkt, Brennabor und Ratt-
ber, anbdererfeit8 au) Borel (in Schlefien) und Burfchen den Namen bor: Fichten-
wald in fandiger Gegend; Sofnomwig in Polen und Sapnik auf Rügen fommen
von Boßna, Kiefer.
Gar keine alten Ortsnamen leiten fi von der Alazie ab; biefer heute fo
weit verbreitete und dem brandenburgifhen Boden fo fehr angemefiene Baum
ftammt aus Nordamerila. Erft im Jahre 1720 wurde er in Deutichland ein-
geführt, und zwar gefhah die erite Anpflanzung damals im Schloßgarten zu
Brit bei Berlin.
Bon Iug, Wiefe, Leiten fi Luc (Moor) und deffen viele Zufammenfegungen
ab, ferner 3. B. Ludau, Ludenmwalde oder Ludom in Polen. PBobrilug! (mit
dobrü, gut zufammengejfebt), heißt gute Wiefe.
Gehen wir nunmehr zur Tierwelt über, fo mar bier früher eine der ver-
breitetiten Tiere der Biber (bobr); davon Namen wie Boberow und Boberd-
berg; aud der Flußnamen Bober in Schlefien und Polen. Er ift jet bei
uns ebenjo verfhwunden, wie das Clentier (Ioß, olenj), von dem fi Namen
wie Lofjom und ellen (Weftpreußen) ableiten. Auch der Yalle hat in feinen
verihiebenen Abarten viele Namensbildungen veranlaßt. Bon feinem Namen
Bofol leitet fi) ab Sokolik in Bofen, fowie zahlreihe Orte fonft im polntichen
und ruffifhen Spracdhgebiet. Der weiße Falfe heißt Trebet, davon in Verbin.
dung mit ucho, Dhr (Bergvorfprung): Krebsjaude (KreiS Guben), das alfo
Faltenberg bedeutet. Der rotihmwänzige Falfe heißt Iunj, davon Lunom. Nach
dem Neiher (tihaplia; forbifch tichapla) heikt Zfchapel in Schleften; nach dem
Geier (korihin) Körzin; nad dem Wolf (wolf) Willanu. Wollin fommt von
wol, Dehſe, Stier; Konitz von konj, Roß; Liſſek (in Schlefien) von Iiß, Fuchs;
Lista (Dftpreußen) von Iisfa, Fühschen, einem Namen, den auch (nach ihrer
Zarbe) die Rohrbommel führt. Gabebufh in Medlenburg ift von gad, Ger
würm, abzuleiten; Schmtegel in Pofen von fmeja, Schlange; Linom von lin,
80 Slawifhhe Ortsnamen im Brandenburgifchen
Schleihe. Medewig kommt von m&d, Honig; auch der ruffifche Name des Bären,
medwjedj, fommt hiervon und Heißt: Honiglenner.
Befonders fennzeichnend für Brandenburg tft das viele Wafler. Bon ofero
(iſchechiſch: jeſero) See kommt Jeſerig; von refa, Fluß, Nedom, wie aud) Reg-
nis in Franlen. Tetfhen in Böhmen von tetfchenije, Strömung; Saaz und
Saatwintel (bet Spandau) von fatol, Flußkümmung. Die nämlide Bedeutung
mag auch der Krögel in Berlin haben, eine Örtlichleit, wo die Spree fi, von
Dften kommend, nad Norden wendet. Der Name fäme dann von Krjul, Haken.
Brod heißt Furt, davon Deutih- und Tichechiflh-Brod in Böhmen, Brodowin
(Kreis Angermünde). Ein anderer Name für Furt ift breit (von breftj, Tang-
fam gehen, filchen, waten); davon Brieft und Briejht, wie aud) Breft-Litowst
(Littauifch Breft) und Breft MWolhynst (Wolhyniſch Breſt). Dolgenbrod kommt
von bolgü, lang und brod, Furt; Dolgenfee — deutſch und wendiſch gemiſcht
— heißt Langer See; ähnlid Sebdinfee von Bebdina, das Grau: grauer See.
Kösfchenbroda (Sachen) fommt von kotid, Totichla, Hügel und brod, Furt.
Breege von bereg ober breg, Ufer; Yuftin von uftje, Mündung, einem Wort,
das aud in der ruffifden — neuerdings leider au im Deutichen Reiche
manchmal gebrauddten — Überfegung von Dünamände ins Ruffifhe zu finden
iſt: Uſt⸗Dwinsk. oo:
Mit Wafler zufammenhängende Namen find no: Klübom von Kjutid,
Duelle; Bahn von banja, Bad. Safenis von jas, Wehr. Stavenhagen von
ßtavenj, Schleufe; Plottendorf und Plöbig von plot, Fähre; Möftchen (Züllichau)
von moßt, Brüde; Mellen (Teltow), wie Melnit (Böhmen und Numelien) von
melniga, Mühle; Damnit von damba, Damm; Gatomw von gat, Knüppeldamn;
Kladom (wie Kladowo in Serbien) von Had, Steg; Sandow von Bandoff,
Fiſcherhaken. Oßtroff, Anfel, hat viele Namen abgegeben, wie Dftrow, Dftran,
Dftra, Dftrowo (in Bofen, wie in Mazedonien) und dergleichen. Nebenbei jei
bemerft, daß die nfel in deutichen Ortsnamen Werder, Wörth, Weert und
dergleichen beißt. Die Pfaueninfel bei Potsdam bat ihren Namen erft jeit
dem neunzehnten Jahrhundert; früher hieß fie Kanindhenwerder; bei der lim-
benennung des benachbarten Sandwerderd in Schwanenmwerder bat man fid)
dem beutfchen Sprachgebrauch beffer angepaßt. Bon palanla, Befeitigung ans
Pfahlwerk, kommt wohl Polenzwerder (bei Eberswalde), wie die mandherlei
fonftigen, mit Polenz zufammengefegten Namen; jedenfall® auch Pelonten bei
Danzig und PBalanla in Serbien.
Sonftige, auf die Bodengeftaltung Hindeutende Namen find wetter 3. B.
Peffin von pebtihina, Sandlorn, Glienide von glina, Lehm (glinniha, Lehm-
grube). Krinig deutet auf die dortigen Lager von Töpferton und auf die heute
dort no) al8 Hausgewerbe betriebene QTöpferei (frinfa, Topf; Perfonennamen
Krinke). Kemnit, Ehemnig, Kammin kommen von lamenj, Stein; Lohme (von
lom, Bruchſtück, auch Windbruch) ift ein Steinbrud. Zinni und Klofter Zinna
find von tina, Schlamm, abzuleiten; Qöpchin von topj, Moorgrund; ZTrafjen-
Slawifche Ortsnamen im Brandenburgifchen 81
beide von trjaffina mit der nämlidhen Bedeutung; Sudomw von ßucho, trocken.
Bolje heißt Feld, davon Pölik; nis, das unten Liegende, gibt Niefchen, wie
in Serbien Nifh. Auch Niesiy in der Laufib ift vom gleihen Stamm; e$
fommt von nisfi, gering, niedrig gelegen und fol, wie man behauptet, hiermit
die Demut der Gründer, proteftantifcher Tjchecden, andeuten. Von niwa, Flur,
fommt Riewis; von femlja, Land, Semlin in Wefthavelland, wie bei Belgrad,
au Nowaja Semlja (Neue Welt) im Eismeer. Schwedt kommt von Eiwjet,
Licht, Welt (mie die ruffifhe Zeitung Kwjet). Lögow und die Lödnih kommen
von log, verwachjenes Land; ähnlich) Dievenow von dimi, wüſt; Rochwitz von
rog, Horn, Ede; Podejud von pod, unter, und udo, Ohr (Bergvoriprung);
Noßdorf von noß, Nafe, Vorfprung; Koben, wie au) der Name Kutfchle, von
totid oder Totichla, Erbhügel. Etwas Aufgehendes, Auffteigendes heikt oft,
davon roftof, Keim, woftol, Sonnenaufgang; auch Namen wie Roftod (Medlen-
burg und Böhmen), Roftom am Don und Wladimoftol. Lebterer Name tft
zufammengefegt mit wlabüla, Herricher, und heißt alfo: Beherricherin des Dftens.
Ähnlich auch Wladimir, Veherrfcher der Welt, aus wladüfa und mir, Welt.
Nebenbei bemerkt, nannte fi auch der Gebieter Montenegros früher Wladüla
(geiftlicher Herr), erft fpäter Zürft.
Werch heißt Gipfel; davon Wierſch, Werchow, Virchow, Ferch. Von gora,
Berg, leiten ſich viele Namen ab, wie Gohra, Göhren, Göritz, ferner Görlitz
und in Galizien Gorlice. Auch der bekannte polniſche Name Lyſa Gora iſt
hier zu nennen, mit dem Eigenſchaftswort lißü, kahl, alſo: Kahlenberg. Von
letzterem Wort allein kommt Lüſſe (Kreis Zauche⸗Belzig). Eine ähnliche Be⸗
deutung hat auch Golwitz, von golü, nackt, bloß. Auch das Wort Tal liegt
in mehreren ſlawiſchen Formen Ortsnamen zu Grunde (dolina, dol, udol), z. B.
als Dollna, Döllnitz, Döllen, Wedell, auch in Perſonennamen wie Döllner,
Jüdel. Die Dolinen des Karftgebirges find ebenfalls foldde Täler.
Gehen wir nunmehr zu Stadt, Haus und Hof über, fo find gard und
gorod Namen für Stadt oder Burg; vergleihe auch im Deutichen Stuttgart
und Midgard. E8 heißen hiernad Garz (Ruppin), Graz (Steiermark), Grüß
(Pofen), Königgräp (Böhmen), Brädit (Schlefien), ferner verweliht: Gradisfa
(Küftenland). ZTichechifche Formen find Krad und hradeb, daher der hrabiäin
(Stadtſchloß, Zitadelle) in Prag und in Zmwidau; fowie Wyfchehrad (mit
wifchla, Höhe, zufammengefept) bei Prag. Ahnlich Wildhegrad (deutiher Name:
Blintenburg) in Ungarn und in Bosnien; für diefe Orte mutet man dem
Zeitungslefer heute die Schreibweife Vifegrad zu; er mag dann raten, wie man
es ausſpricht. Belgard in Pommern, wie Belgrad in Serbien heißen Weißen-
burg (belü, weiß); Naugard wie Nomwgorod: Neuftadt (nowäü, neu); Stargard
(ftard, alt) Altftadt. Berfonennamen find bier Gräger und Radetzky, letzteres
in halb tidechifcher Form. Schloß heißt aud) famol; davon Samotihin in Polen.
Ein Bau ober Gebäude heikt bud (forbifeh buda; but: Grundmaner).
Davon Teerbude, gleich Teerhütte; au) Buda-Peft, nach einem Ban oder Dfen
Grenzboten I 1916 6
—
=
82 Slawifhe Ortsnamen im Brandenburgifchen
zum Brennen von Kalk, deutich daher Dfen-Peft. Ferner Budomw in Pommern,
Beuthen in Brandenburg und Oberfchlefien. Die Bauden im NRiefengebirge,
fowie Kofiebaude bei Dresden, gehören auch bierher. Lebteres ift mit Tofja,
Landzunge, zufammengefegt, vielleicht auch mit dem deutichen Kathe, fo daß es
aus Kathebaude entitanden fein und etwa Bauernhof bedeuten Tann. Diemitz
und Domnig find von büm, NRaud, Bauernhof oder dom, Haus, abzuleiten.
Hhnlihe deutfhe Namen find 3. 8. Schönfchornftein und Nauchfangwerder.
Auch Ktroi heißt Bau, ußtroitj, bauen; davon DVobriftroh (Schönbau, Schön-
haufen) und Wuftrom. Wuftrow wurde dann mehrfach zu Wufterhaufen, wobei
Haufen die Überfegung von ßtroi bildet; inshefondere wurde aus Wendifch-
Wuftrom unter FYriedrihd Wilhelm dem Erften: Rönigsmufterhaufen. Wand
heißt Btjena, davon Stienib.
Ein Dorf heißt Belo; davon Namen mie Seelow und Gellin; ruififeh
3. B. Tzarkloje Belo: Zarendorf, bei St. Petersburg; Belo tft dem Stamme
nad) das deutihe Saal, das z. B. in Brucdjfal, andere Form Brüffel, id
findet: Anftedelung am Brud. Gleichen Namens ift auch Bedlo, Sattel (Gib);
davon Siedlce In Polen, und bei uns Seydlig. in anderer Name für Dorf
tft weflj, wovon Weffelin und Wesloe (in Lübed; mit dem deutfchen Ioh, Wald,
zufammengefett). Miftiz oder Maften kommt von meßto, Plab, Städtchen;
Torgau von torg, Handel (tihehifh: tr, Marktplad); Ullitz von ulitza,
Straße; Stebih von Ftesja, Pfad; Stahnsdorf von Btan, Lager, Dorflrug;
Stolpe von Btolp, Säule.
Potsdam tft ein Name, deffen Bedeutung viel umftritten worden it;
wahrjheinfih fommt es von pod, unter, und Btupa, Tenne (Mörſer). Es
würde dann alfo Ort unter den Tennen bedeuten; vielleicht brachte man das
Getreide aus den Vrtichaften der Amfel Potsdam dorthin zum Ausdreichen.
Biele Ortsnamen find im mefentlichen Eigenfhaftsworte.. Manche davon
wurden fon an einer pafjenden Stelle erwähnt. Hier ift etwa nod) folgendes
nadhzutragen. Bobrü beißt gut, davon kommen Dobrit und Döberit, wie
Vobritih in der Dobrudfha und, in italtenifcher Aufmahung: Doberedo im
Küftenland. Bon Ijubo, lieb, fommen Lübben, Lübbenau, Lubow, au Lüble,
ſowie das polniſche Ljublin. Bon bolfdot, groß: Bölzig und Bölfhe; von
welili, groß, erhaben: Wella; Mahlow und Mablif$ von malü, Mein; der
Perfonenname Krätle von Tratli, Kurz.
Bon Farben tft namentlich zu nennen: Traknü, rot, fhön. Hiervon fommen
Krausnid und Kraſchen. Ähnlich der polniſche Perſonenname Krasnopolsk:
von Schönfeld. Belũü heißt weiß; davon Beelitz, Bielitz, Bilin. Von tſchernü,
ſchwarz, kommen Zorndorf, Tſchirnhauſen, Tſchernitz, Tſchernowitz und das
Land der ſchwarzen Berge Tzrnagora, italieniſch Montenegro. Auch Perſonen⸗
namen wie Zörner und Tſchirner kommen von „ſchwarz'“, wobei noch zu
bemerlen iſt, daß tſchernu auch der Leibeigene, und tſchern das gemeine Volk
heißt. Von kari, braun, kommt Karow.
Slawifhe Ortsnamen im Brandenburgifchen 83
Namen, die fi auf frühere gottesdienftlicde Stätten beziehen, find ins-
befondere LieBom oder Lühom, von litt, Geficht, Verfon, verwandt mit It,
Heiligenbild (daher Lyf in DOftpreußen), eine Benennung, die in der hier allein
in Betraddt Tommenden beibnifchen Zeit Götterbild bedeutet und damit eine
Anbetungsftätte bezeichnet haben mag. Ähnlich iſt Trebbin von treba, Opfer
und Nudom von ruda, Blut, abzuleiten, al8 Stellen blutiger Opfer. Bon
Kram, Tempel, fommt Sremmen. Bon Sielemal und SKielebufhd als von
Hindeutungen auf Waldgeifter war fon die Nede; auch die heiligen und
ZTeufelsfeen find bier zu nennen, obfchon ihre Namen jeht deutih find. An
beiderlei Stellen mag man Natur- oder Waldgeifter verehrt haben. Dabei
find die beiligen Seen größere Seen neben einem anderen, noch größeren
Gemwäffer, die ZTeufelsfeen Kleinere, vereinzelt liegende Seen.
Mandhe Ortsnamen find auh deutih und flawifch gemifcht, wie deren
fhon einige erwähnt worden find; bei anderen bat man, dem Landesverbraud
entiprechend, an einen deutihen Namen eine flawifhe Endung angehängt, wie
bei Templin (nach einer Beflgung der Tempelherrn benannt), bei Schönow oder
Eichow. Andere Orte wieder haben zwar einen flawifchen Namen, aber Doc
feinen alteinheimifhen. Bon diefen wurde Niesfy Ion genannt; ähnlich ift
au Nomwamwes bei Potsdam eine Gründung eingewanderter Tihedhen, vom
tichehiihen Rowa-Weh, Neuendorf, Sadowa (von Bad, Garten) ift nur eine
Namensübertragung aus Böhmen, zu Ehren der Schlacht von Königgräb oder
Sadowa; Neukölln tft eine ganz neue Ummennung von Rirdorf (urfprünglich
Richardsporf), deffen Bürger plöglih mit ihrem alten, ehrlichen Ortsnamen
nicht mehr zufrieden waren. Ahnlih famen aud) die Einwohner von Kielemal
vor einiger Zeit darum ein, der Drt follte Königsmal heißen, wurden aber
glücklicher Weiſe abgewieſen. Auch Nilolstoe ift bier zu nennen, die bübi
gelegene Anfteblung bei Potsdam, mit dem falfh gefchriebenen und darum
jedem Befucher unausfprechlicden Namen: Nikolskoje, zu deutih Nikolai. E8
ftammt aus jener unglüdlihen Zeit nad) den reiheitsftiegen, al8 Preußen
faft eine ruffiide Provinz war, und ift dem damaligen ruffiiden Großfürften
Nikolaus zu Ehren benannt.
Biele Namen wurden jhon erwähnt, die fheinbar deutih, in Wirklichkeit
flawifh find. Der wahre Sachverhalt könnte allerdings in vielen Fällen nur
dann ermittelt werden, wenn bie Umftände aufgellärt würden, unter Denen der
Name entitanden if. Im früherer Zeit fuchte man diefem Mangel durd
Ramens- und Wappenfagen abzubelfen, Erzählungen, die feinerzeit fogar von
Gefhichtsforfhern und Dichten ernjt genommen wurden, uns Heutigen aber
foft wie faule Wite Flingen. Wir fpradhen von diefer Schwierigkeit fchon
eingangs und wollen bier noch ein anderes DBeifpiel erwähnen. In Branden-
burg gibt e8 zwei Drte, Lömwendorf und Löwenberg, in Schlefien auf ein
Zöwenberg. Woher lommen diefe Namen? Vielleiht von loff, Yang oder
lomeg Yäger? Dber von Namen oder Wappen des Ürtsgründers? Bel
6*
84 Siawifhe Ortsnamen im Brandenburgifchen
einem anderen, gleihfals vom „Löwen“ fi ableitenden Ort fönnen wir dies
beantworten. &8 ift Lemberg in Galizien, polntiih Lwow. Diefe Stadt wurde
1259 zu Ehren des Füften Leo oder Lem von Halitih benannt, woraus dann
mit deutider Endung Lömwenberg, Leonberg oder Lemberg, mit polnifher Lemow
oder Zmomw wurde. Der Name kommt alfo nicht, wie fcheinbar ganz jelbit-
verftändlih, von Lehm ber.
Kaum zu ermitteln fit es auch, ob nicht etwa eine Anzahl, oder vielleicht
viele der biefigen Ortsnamen urfprünglid” deut gemwefen und dann beim
Eindringen der Slawen flawifiert worden find. Dies Iönnte 3.8. bei Branden-
burg der Fall fein. Aber bier fehlt e8 faft ganz an Anbaltspunften; fo läßt
auch weiter nur einer der befannteren Ortsnamen eine folche germaniihe Urform
vermuten, nämlich Danzig. Gewöhnlich leitet man biefen Namen von Banft
(dänifh) ab und erklärt den Drt für eine dänifche Gründung; aber dann bleibt
e3 immer rätfelhaft, wie die polnische Form Gpanfl und die Iateinifche Gedanta
zu ihrem & fommen. Berüdfidhtigen wir aber, daß vor den Slawen bie
deutfden Guttonen oder Goten jene Gegenden bewohnten, fo fann der Name
zuerft etwa Gotenburg oder Buttonia gelautet haben, woraus dann Gedania
und nad Abfall des Anlaute® Ge, und mit flamifcher Endung, Danzig ent-
ftanden fein fann. Das ift aber nur ein nereingeltes Beifpiel; jebenfalls aber
dürfte das eine feftftehen, daB die eindringenden Wenden mit den vorhandenen
germanifhen Ortsnamen rüdfihtslofer umgefprungen find, als wir nad ber
Rüderoberung des Oftens mit den inzwifchen alleinherrichend gewordenen flawifchen.
Spradlih fällt unter den befprochenen Namen befonders das auf, dab ber
vofalifde Anlaut faft ganz fehlt. Wir haben feinen Namen mit A, & und 5,
nur wenige mit D und U gebradt. So fangen au im Ruffifchen faft nur
Sremdwörter mit A oder E an; darüber hinaus fchlägt aber das MWenbifche
au no) da ein W oder % vor, wo dort volalifcher Anlaut no vorhanden
ft. So 3.8. in ofero (See): jefero; in olda (Erle): woliha; in ofina
(Bitterpappel): woßa. Sn beiden genannten flawifhen Spracdhen mit vor-
geſchlagenem 3, dagegen im Deutjchen mit volalifhem Anlaut beginnen Stämme
wie jaßenj, Eiche und jablonj, Apfel.
Und nun zum Schluß nod) eine Bemerkung. 3 follte nicht die Aufgabe
vorliegender Abhandlung fein, den Stoff zu erfhöpfen, alfo weder alle in
Brandenburg vorlommenden Namen auf ihren Stammbaum zu prüfen, noch
aber aud) alle irgend einmal und irgendwo geäußerten Anfichten mitzuteilen
und je nachdem anzunehmen oder zu verwerfen. Demgemäß find aud) folde
anderen Meinungen nur ganz gelegentlich einmal erwähnt; im übrigen erfdhien
es dem Berfafjer befjer, dem Lefer eine Anregung, als ein Nachfchlagewert
zu geben.
Die Stellung der neutralen Schweiz zu Deutichland
im Weltfriege
Don Profefior Dr. Johannes Wendland
(Schluß)
Wie ftarl das Anterefje der Schweiz an dem tragifchen Schiedfal Belgiens
ift, zeigt eine umfangreiche Hilfsaktion, die für Belgien ins Werk gefegt wurde.
&3 zeigt fh aud darin, daß Bücher und Brofehüren über Belgien eines
weiten NAbfabgebiete8 fiher find. Das Befte, was von Schweizer Seite
auf Grund umfafjender, don vor dem Sriege betriebener Studien über Belgien
gefchrieben ift, ift die in der 5. Auflage vor mir liegende Schrift von Eduard
Blocher, „Belgiſche Neutralität und Schweizerifhe Neutralität.” Zürich 1915”)
Auch Blocher beginnt wie Wernle und wie überhaupt jeder Schweizer mit dem
Ausdrud des VBebauerns: „Die Überrumpelung des Heinen neutralen Staates
Belgien hat und Schweizer alle fehmerzlich berührt. eder von uns bat fi)
fogleid) gefragt: Könnte e8 uns nicht auch einmal fo gehen? Springt man
fo mit mit den Kleinen Staaten um?“ (Seite 3). Aber Blocder zeigt Har
den großen Unterfchied zwifchen der jchweizerifhen und belgiichen Neutralität.
Sein Urteil gründet fi auf ein umfafjendes Studium belgischer Publikationen
und Zeitungen. Er ftüßt fidd nicht auf die von deutjdher Seite ausgegangenen
Beröffentlihungen. Seine Ausführungen gewinnen dadurch um jo größere
Durdfchlagstrafl. Er kommt zu dem Ergebnis, „daß Belgien erftens erftaun-
fi) wenig Baterlandsliebe Tennt” (Seite 4). Angefehene walloniide Partei-
führer haben es nicht einmal, fondern wiederholt erklärt: „Eine ungeheuere
Anzahl von Wallonen wäre fogleich froh zu Frankreich zu gehören“. (Seite
10). „Wir Iteben Frankreich als unfer wahres Vaterland und wir werben bei
jeder Gelegenheit unjere franzöfiihe Baterlandsliebe bemeifen und für unfere
franzöfifde Nationalität Zeugnis ablegen“ (ebenda). Kurz Belgier Tonnten un-
widerfprocdhen erflären, e8 gebe tein belgifches Vaterland, die Annerion dur)
FStantreid) fei das erjtrebenswerte Ziel. Den ungeheuren Unterfchied von ber
*), Erihienen in dem Berlag der „Stimmen im Sturm”. Die Eridheinungen diefes
Berlage® machen e8 fih zur Aufgabe, einer einfeitigen Stellungnahme gegen Deutich
Iand entgegenzutreten. &8 Handelt fi bier nicht um eine reich8deutihe Gründung, fondern
um ein von deutfch-fchweizerifher Seite außgegangened Unternehmen.
86 Die Stellung der neutralen Schweiz zu Deutfchland
Schweiz hebt Blocher gebührend hervor. Der Schweizer bat ein ftarfes Bater-
landsgefühl, für das er Opfer zu bringen gemillt ift, fein Schweizer Tann für
eine Annerion von Teilen feine® Landes eintreten. ine folde Meinungs-
äußerung ft in der Schweiz undenkbar. Aus Blodhers Schrift befommt man
den Eindrud, daß eine Bergleihung der fohmweizerifhen und ber belgiichen
Neutralität im Grunde eine Beleidigung der Schweiz ff. Denn das ift das
zweite, was Blocher berausftellt: Belgien bat „feine Neutralität und feine Neu-
tralitätspflicht immer ganz anders aufgefaßt al8 wir Schweizer die unfrige.“
Belgien hielt ih für völlig frei, im Kriegsfalle zwifchen den ftreitenden Mächten
Bartei zu ergreifen. Daher erklärt Blocher es für begreiflih, daß Deutſchland
dem belgifhen Neutralitätswillen fein rechtes Vertrauen fehenten Tonnte. „Zur
Schweiz hatte Deutfchland Berirauen, zu Belgien nit. Kann man fidh da-
rüber wundern? Konnte ein Land, das feit Jahren in jeder Weife für Yranl-
reich Partei ergriffen hatte, verlangen, daß man ihm unbedingtes Vertrauen
ſchenke? War wirklich von einem foldhen Lande zu erwarten, daß es fih mit
aller Kraft widerfehte, wenn ein franzöflfches Heer den Durdygug zu erzwingen
fuhte?“" Blocher macht feinen Landsleuten den großen Unterj&hied Har und
zeigt, daß aus der Verlegung der Neutralität Belgiens auf keine Bedrohung
der fchweizerifhen geichloffen werden darf. „Vielmehr bedeutet die Uber-
rumpelung Belgiens und die Achtung unferer Grenzen geradezu eine Aner-
fennung unferer Art, die Neutralität aufzufaffen und jdhon in riedenszeiten
zu üben, im Gegenfat zu der Art Neutralität, wie fie in Belgien gehandhabt
worden ift.“ (Seite 30). Blocdhers Schrift bildet eine wertvolle Ergänzung
deflen, was von deutfcdher Seite zu der belgifchen Neutralität gejagt worden ift.
&3 wäre zu wünjden, daß fie die öffentlihe Meinung in der Schweiz nod
ftärler beeinflußte.
Die Schweiz ift auf ein freundliches Verhältnis zu den vier Großmädhten
angemwiefen, die fie einfchließen, und bie feit dem 23. Mat 1915 fämtlich im
Kriege befindlih find. Ungeheure wirtfchaftlide Schwierigkeiten find für ein
Land darin einbegriffen, daß es felbft nirgends an das Meer beranreidit.
&3 ift auf den guten Willen feiner Nachbarländer angemiefen, bie die Zufuhr
von Kohlen, Öetreide, Eifen, Baummolle, Seide und von Halbfabrifaten troß
des Srieges nicht abjchneiden. Allerdings leiftet Die Schweiz auch jebem der
Kriegführenden einen gewiffen Dienft. Unfer Katfer bat anläßlich feines Be-
fuches in der Schweiz 1912 erflärt: „Die Schweiz erfegt mir fech8 Armee
forps.“ Deutihland bat das volle Bertrauen, daß die Schweiz jedem Verfudh
Frankreichs, durch die Schweiz hindurch in das füdlihe Baden oder zum Bodenſee
vorzuftoßen, mit bewaffneter Gewalt fidh entgegenfehen würde. Das Vertrauen
auf die Leiftungsfähigleit der Schweizer Armee, daß fie einen Durchbruchs⸗
verſuch im Schweizer Jura erfolgreich abzuwehren imftande fei, ift ficherlich
durch ben Kaijerbefuch von 1912 bejtätigt worden. Db Frankreich tm Auguft
1914 den ernftlihen Plan gehabt hat, einen Vorftoß durch die Schweiz nad
Die Stellung der neutralen Schweiz zu Deutfdhland 87
Süddeutihland zu machen, wird erft eine fpätere Gejchichtsichreibung feftftellen
Tonnen. un der Schweiz war jedenfalls dieje Beforgnis weit verbreitet. Bon
Schweizer Soldaten, die an der Grenze im ura ftanden, ift mir er-
zählt worden, daß fie darauf gefaßt waren, binnen wenigen Stunden in die
Schlacht einzugreifen. Dasfelbe erzählt der Schweizer Arnold von Salis, „Die
Neutralität der Schweiz”, Leipzig, ©. Hirzel, 1915 Seite 38. Der Aufmarid
der franzöfifhen Armee an der Weftgrenze der Schweiz war bedrohlich, „und
mit der Möglichkeit eine8 DVerjuchs, die Yurapäffe zu forcieren, um dem
deutfhen Heer in die Flanfe oder in den Rüden zu fallen, war zweifellos zu
rechnen. u der fiheren Erwartung, kämpfen zu mäfjen, und mit einer Be-
geifterung, welche derjenigen der bdentichen Heere faum nadjitand, zogen die
Schweizer Soldaten an die Grenze.” Db etwa Franfrei dur den Vorftoß
der deuten Armee nach Belgien hinein feine Abficht, dur) die Schweiz durch-
zubredhen aufgegeben hat oder diefen Plan nicht ernitlih gehabt hat, Tann
heute noch nicht feitgeftellt werden. Yedenfall Ieiftet die Schweiz den frieg-
führenden Parteien den Dienft, daß ihre Front wefentlic) verlürzt wird und
daß ihre beiderfeitigen Ylanlen gededt werden. Freili fommt ihr dabei die
gebirgige Lage de Landes zugute, die im Verein mit einer gut ausge.
bildeten Truppe die Verteidigung des Landes fehr erleichtert.
Don dem Weltkrieg bat die Schweiz nur Laften zu tragen, umd zwar
[hwere. Wenn aud die männliche Bevölkerung nicht auf den Schladtfeldern
bluten muß, fo macht fi) doch die Einberufung der Dienftfähigen tıı den ver-
ichiedenen Berufen jtörend bemerkbar. Die Koften der Unterhaltung des ftehen-
den Heeres betragen bereit8 200 Millionen Franlen, eine Summe, die dag
nicht reihe Land nur fhwer aufzubringen vermag. XVabei hat die Schweiz
nicht die geringfte Ausficht, irgend etwas dur den Weltkrieg zu gemwinnen.
Begreiflih genug, daß die Vollsftimmung fi in einem Schimpfen über den
Weltkrieg und feine Anftifter Luft madt. Ia man fann den Wunjh aus-
geiproden hören, alle Kriegführenden möchten fi blutige Köpfe holen und
nichtS beim Kriege berausfommen, jo daß allen die Luft vergehe, noch einmal
die Ruhe der neutralen Welt zu ftören. Biel politiide Weisheit zeigt fih in
folden Worten nicät, aber fie kennzeichnen die Stimmung des Yndividualiften,
der ungeftört bleiben will.
Ungeheuer leidet die Schweiz unter dem Weltkrieg. Die Hotelinduftrie,
die in der Sommer- und Winterfaifon, befonder8 aus Deutichland, England,
zum Teil au aus Amerika einen Golditrom in das Land hineinzieht, muß
auf die fremden Befucher beinahe ganz verzichten. Gerade die großen Lugus-
hotels haben in der Sommerjatfon teilweife ihre Pforten gejchlofjen gehalten
und werden num fon den Ausfall der zweiten Winterfaifon zu erfahren haben.
Dhne nachhaltige Hilfe der Banklonfortien geraten fie in Konkurs. Zugleid)
ift das Heer der Hotelangeftellten mit einem Schlage brotlo8 geworben.
In ebenfo fchwerer Lage befindet fih die Vollswirtihaft. Die Schweiz
38 Die Stellung der neutralen Schweiz zu Deutfchland
hat in Friedenszeiten faft alle Kohle aus Deutichland bezogen. Täglich fahren
eine große Zahl von Güterzügen über die deutfche Grenze, mit Kohlen jchwer-
beladen. Cbenfoviele Wagen kehren, faft immer leer nad Deutiland zurüd.
Auch in Kriegszeiten tft die Kohlenzufuhr nicht gefperrt worden. Wie wichtig
bier freundliche Beziehungen find, Iiegt auf der Hand. Aber au) daS zur
Ernährung des Landes notwendige Brotgetreide wird nicht im Lande felbit in
genfgendem Umfange produziert. Die fchmweizerifhe Landwirtiaft ift vor-
wiegend Mild- und MWetdewirtfhhaft.e Befonder in den höher gelegenen
Gegenden tft diefe weit rentabler als die Getreidefultur, erfordert auch weniger
Arbeitskräfte als diefe. Sfnfolgebeffen führt die Schweiz in großem Umfange
Käfe, Butter, Tondenfierte Mil, im Grengverlehr auch friihe Mil aus und
muß Weizen- und Noggenmehl einführen. Cine Sperrung der Grenzen würde
dem Lande bie nötigen Lebensmittel binnen kurzem entziehen. Deutichland
fann feit Kriegsausbrud) die NVerproviantierung der Schweiz nit auch noch
übernehmen. Nur in beigränktem Umfange ift Getreide gegen eine entiprechende
Lieferung von Butter und Käfe in die Schweiz eingeführt worden. Statt defien
bat die Schweiz fich nach Überfeeifhen Bezugsquellen umgefehen. Die Einfuhr
über ttaltentfche oder franzöfiihe Häfen ftieß auf mande Schwierigkeiten. Vie
Überfühung des Hafens von Genua und der Mangel an rollendem Material
führten zu Stodungen in der Zufuhe. Auf Grund von Verhandlungen mit
Sranfreih wurde der Hafen von Gette im Mittelländifchen Dieer für den Import
von Waren nach ber Schweiz zugeftanden. Do hat fie immer gegen das
Miktrauen zu Tämpfen, als follien die ihr bewilligten Waren im Durdgangs-
verkehr Deutichland zugute fommen. Werner fehlt e8 öfter an Eifenbahnwagen.
Die Beforgntis, als Lönnte die Entente dur Abfchneiden der Zufuhr die Schweiz
zur Teilnahme am Sriege an ihrer Seite zwingen wollen, bat fih glüdlicher-
weife als falfh ermwiefen. Ein folcher Berfuh, den Bruch) der Neutralität
dur wirtiaftliden BDrud zu erzwingen, hätte ficher gegenteilige Wirkungen
ausgeübt. |
In viel ſchwierigerer Lage iſt Die Induftrie. Die in der Schweiz beftehende
Eifen- und Mafhineninduftrie tft ebenfo wie die Uhreninduftrie für ihren Abſatz
auf das Ausland angemwiefen. Ehbenfo werden die Yabrilate der Schweizer
Stiderei- und Bandfabrifen hauptfähli nach England und Nordamerila aus-
geführt. Die Rohmaterialien und Halbfabrifate, die diefe Induftrien brauchen,
werben meift nicht von den Ländern bezogen, die die Yertigfabrifate beziehen,
fondern oft von Ländern ber entgegengefegten Mächtegruppe.e Wenn die
Lieferung der Rohmaterialien von der einen Mächtegruppe davon abhängig
gemacht würde, daß die Yertigfabrilate nicht den Ländern der Gegenpartei
dienen follen, würden mande mduftriezweige ganz lahm liegen. Mühjame
Verhandlungen find darum nötig, um die Einfuhr- und Ausfuhrbemwilligungen
unter Bedingungen zu erhalten, die die nduftrie nicht fchädigen. England bat
genau biefelben Mittel anzuwenden gefucht wie in Holland und Norwegen. Es
Die Stellung der neutralen Schweiz zu Deutfchland 89
hätte am liebften den gefamten Handel der Schweiz dur englifhe Beamte
Iontrollieren laffen, ferner die Entfernung der vielen in fehweizeriichen Betrieben
angeftellten deutfchen und öfterreichifchen Beamten und Arbeiter verlangt. Aber
der Schweizer Unabhängigleitsfinn bat fich erfolgreich gegen bemütigende Be-
dingungen gemwehrt. Der Schweizer Einfuhrtruft, der durch Zuſammenſchluß
der meiften einführenden und ausführenden Firmen gebildet ift, läßt durch
Schweizer Bürger die Durchführung der Verpflicdtungen Tontrollieren, auf die
die einzelnen Yirmen bezügli des Erportes von Waren eingegangen find.
Aber die Klagen der fchweizeriihen Ynduftrielen über das mangelhafte
Funktionieren des Ginfuhrtruftes mehren fih. ine eibliche Verfiherung, daß
die Waren nicht zur Durchfuhr nah) dem Feindesland beftimmt find, wird
verlangt. Ferner verlangen die ausländifhen Firmen in Frankreich und Stalien
meift Vorausbezahlung. Und wenn diefe geleiftet ift, faun der BBefteller oft
Monate lang auf die Lieferung warten. Alle Rellamationen führen nicht zum
Biel, jet e8, daß der Lieferant inzwifchen feine Mare zu teurerem ‘Preife
anderswo verlauft hat, oder daß die Ware in irgend einem Lagerhaufe liegt
und wegen Mangels an Eifenbahnwagen verfommt. a, der Verdacht ift bereits
aufgelommen: der ganze Einfuhrtruft führe eher zu einer Schädigung der
Fuduftrie, wenn die einzelnen Firmen nachweifen müflen, wieviel Robftoff fie
in normalen Zeiten bezogen haben. Manche Geichäftsgeheimniffe werden fo
verraten und Lönnen zur Stärkung der ausländiichen Konkurrenz benubt werden.
So äußert fich ftarler Unmille über die gewaltige Störung der Ynduftrie durch
den Weltkrieg. Es iſt z. B. fraglich, ob die Bandfabrifen und Stidereien die
nötige Baumwolle erhalten werden. Das Ausbleiben der Zufuhr würde mit
einem Schlage viele Fabrilen ftill legen und Zebntaufende von Arbeitern
brotlos machen. M
&8 ift nicht zu leugnen, daß in induftriellen und faufmännifchen Streifen
der Schweiz die Meinung berriäht: für die Schweizer AJmbuftrie wäre es das
Beite, wenn durch den Krieg Feine mefentliche Verichiebung des europäifchen
Sleihgewichts eintritt. Von der Konkurrenz Frankreichs fürchtet man nichts,
da Frankreich mit feiner nicht mehr wadhjenden Einwohnerzahl feine mduftrie
nit ausdehnen Tann. Bon einem fliegenden Deutfchland dagegen fürchten
mandje Schweizer, daß feine SKonturrenz der Schweizer Juduftrie gefährlich fein
werde. Daher haben mandde Schweizer e8 offen ausgefprochen, ihre Sympatbieen
ftänden ftetS auf der Seite des Unterliegenden. Befonders wirft der Gedante
wie ein Schred'gefpenft: im Gefolge des Sieges Deutfehlands würde eine mittel»
europäifche Wirtfhaftsvereinigung die Zentralmädhte famt den um fie berum-
gelagerten Fleinen und mittleren Staaten vereinigen. Die Schweiz würde
Ichwerlich geneigt fein, einer foldden wirtichaftlichen Vereinigung fih anzufchließen,
in welchen Yormen fie auch immer zuftande käme. Sie würde in ängitlicder
Sorge um ihre Unabhängigkeit den Verdacht hegen, die Wirtichaftsvereinigung
fönnte eine politifche Verbindung vorbereiten wollen. Und biergegen jträubt
=
90 Die Stellung der neutralen Schweiz zu Deutfdhland
—
—
fih der fchmweizerifche Unabhängigfettsfinn aufs Außerfte. CS wäre der erfte
Schritt zur Aufgabe der Neutralität, wenn die Schweiz mit einem auch nod) fo be-
freundeten und ftammpverwandten Voll in eine engere Gemeinjchaft treten wollte.
Die allgemeine Bollsabftimmung, die den legten Entfcheid über. jedes Gefeb zu
treffen hat, würde mwahrjheinlid ein derartiges Gejeg verwerfen. Wenn da-
gegen ein folder Wirtihaftsbund mindeftens Franfreih oder auch Frankreich
und Stalien umfafjen könnte, läge die Sade ganz anders. Dann würde die
Schweiz einem folden Bunde beizutreten gemwillt fein. Gaudenz von Planta
vertritt in feiner Heinen Schrift „Die Schweiz im Staatenbunde”, Chur 1915,
jogar den Gedanken eines europäifchen Staatenbundes, eines Zufammenfchluffes
Europas mit Ausfehluß des wejentlih afiatifden Ruklands, um die europäifche
Kultur gegen die allmählich herannahende gelbe Gefahr zu jchüßen.
Es iſt verftändlih, daß die internationale Sriedensbewegung in der Schweiz
beionder8 viele Anhänger bat. Yhre Neutralität würde am beften daburd)
geihüst werden, wenn fämtlide anderen Staaten um die Schweiz herum fi
verpflichteten, ihre Streitigfeiten durch friedlihe Abmadhungen beigulegen. Die
Schwierigkeiten, die dem entgegenftehen, werden meift unterfhäht. Die findliche
Meinung tft weit verbreitet, mit ein wenig gutem Willen und Gerechtigfeits-
gefühl Ließen fi) die nationalen Konflikte Löjen. Einen folden naiven Stand-
punlt vertreten 3. B. die Brofhären von Dr. Yohannes Erni, „Die europäifche
Unton al Bedingung und Grundlage des dauernden Friedens”, Zürich 1915
und „Vorfhläge zu einem baldigen und dauernden Frieden”, Bafel 1915.
Der Berfafler teilt von feiner Studierftube aus die Welt unter die ftreitenden
Barteien, übermweift Konftantinopel an Bulgarien ujmw. und glaubt wahrfcheinlidh,
daß fein Gerechtigfeitgefühl von allen Vernünftigen geteilt werden müffe.
Ebenſo bat er bereit8 35 Paragraphen für eine Verfaffung der europäiichen
Unton bereit, die ihren Sig in Bern haben müffe, da dies das Zentrum
Europas ſei. Ich würde folde Bhantaften nicht anführen, wenn fie nicht die
Stimmung weiter Kreife wiedergäben. Ernithafter ift die vom „Schweizerifchen
Komitee zum Studium der Örundlagen eines dauerhaften Friedensvertrages“
herausgegebene Denkfrift über „Die Grundlagen eines dauerhaften Friedens-
vertrages”, Dlten 1915. Sie erwägt gleichfalls die Möglichkeit eines europäifchen
Staatenbundes und madt im übrigen allerlei Borfehläge zur Herftellung inter-
nationaler Redtsordnungen und eines Schiedsgerihts. Das treibende Sntereffe
ift dabei immer, die ntegrität der Schweiz, die bereits bisher auf dem guten
Millen der benachbarten Großmädhte ruht, durch eine internationale Rechts»
ordnung endgültig fiher zu ftellen.
Ein gewiffer Stimmungsgegenfaß gegen Deutfchland pflegt in den demo-
fratifchen Einrichtungen der Schweiz zu liegen. Diefe find gegenüber ven
früheren ariftofratiiden Kantonsverfafjungen 1848 nad) dem die Schweiz zete
Müftenden Sonderbundfrieg durchgeführt, 1874 revidiert und haben fi) im Ganzen
fo bewährt, daß der Schweizer feine Verfaflung für die befte auf der Erbe
Die Stellung der neutralen Sdweiz zu Dentfchland 91
hält. Obwohl fie kaum mehr als den Namen mit der zum einheitlichen
Zwangsftaat neigenden franzöfiichen Republif gemein bat, übt doch das Wort
Demokratie eine Zaubergewalt aus. Ya die demokratifhe Verfaffung wird
geradezu als das patriotifche deal angefehen, das die verfehiedenen Kantone
zur Einheit verfuüpft. Daß Deutihland eine Fülle demokratifher Einrichtungen
in der GSelbftverwaltung der Städte und Gemeinden, in den Provinzial»
ausfhüflen, Landmwirtfchafts- und Handelsfammern befitt, ift gewöhnlich un-
befannt. Ebenfo wird ganz überfehen, daß Deutfchland wegen feiner erponterten
Grenzen eine ftarfe Zentralgewalt braudit, ebenfo daß die demofratifch-liberale
Bewegung von 1848/49 mit dem Auf nad) der Ginigung Deutichlands unter
der einbeitlihen Führung eines Kaifer8 endete. Wohl wenige Schweizer haben
es fi Har gemadt, dak Deutichland ohne feine Hiftorifche monardhiihhe Führung
dasfelde Schidjal erlebt hätte, wie wir es an Ditpreußen erlebt haben. Es
würde heute ein großer Zrümmerhaufen fein. Belannt find nur gemilje
Reibungen zwifhen der Regierung und den Parteien, unbelannt dagegen,
welche Gefahren eine wechlelnde parlamentarifhde Barteiberrichaft zwiichen dem
ſchwarzen und dem roten Blod für Deutichland mit jich bringen würde. Der
Stimmungsgegenfat gegen Deutihland fpielt fiher eine bedeutfame Rolle. Er
führt den Weitmächten mande Sympathien zu. Vielleicht zeigt der Weltkrieg
vielen, daß ohne eine ftarfe Negierung mit monardiidher Spige Deutichland
nicht feine wunderbare Drganifationskraft im Felde und daheim hätte durd-
führen können. Unfere Taten haben doch auch viele Schweizer mit Bewunde-
rung erfüllt. Sm der Offentlickeit ift unter anderen Pfarrer Hans Baur in
Bafel vol Bewunderung für Deutfehland eingetreten. Er berichtet in ber
Brofhüre „Das Tämpfende Deutfchland daheim“, Zürich 1915 (Heft 1 der
don erwähnten „Stimmen im Sturm“), was er auf einer Ferienreife in einem
Gefangenenlager in Deutihland gefehen bat. Ebenfo weiß der bedeutendfte
Prediger Bafeld, Guftan Benz, die fchwierige Aufgabe muftergültig zu erfüllen,
ohne Berlegung der Neutralität den Familien Troft und Erhebung zu bieten,
von denen viele in feiner Gemeinde ihren Ernährer im deutfchen Heere haben.
Biele feiner in der Kriegszeit gehaltenen Predigten find in Einzeldruden ver-
breitet. Er ift gerecht und erfennt Gutes überall an, wo e8 anguerlennen ift.
Er fpridht für Schweizer wie für Deutfhe in gleicher Weife. Jedem hat er
etwas zu fagen, und niemand wird filh durch ihn verlegt fühlen. Die fhwierige
Aufgabe der Kriegspredigt im neutralen Lande ift hier von einem Schweizer
in hervorragender Weife gelöft.
Zroß der wirtichaftliden Schwierigkeiten, die das Land bedrohen, hat die
Schweiz als das Land, in dem die Genfer Konvention vom Noten Kreuz 1864
gefchloffen wurde, eine humane Friedensarbeit zu Gunften ber Triegführenden
Länder geübt. Die Bolt für die Kriegsgefangenen in Deutichland wie in
Hrankreih wird unentgeltlid von der Schweizer Poft befördert. Ein Büro für
Kriegsgefangene verfieht viele Gefangene mit Liebesgaben. Gin alademifcher
92 Die Stellung der nentralen Schweiz zu Deutfchland
Hilfsbund für Triegsgefangene Afademiler verforgt diefe mit geeigneter Lektüre,
vor allem wifjenjchaftlicden Büchern. Bejonderd bat fi die Schweizer Liebes-
tätigleit bei dem Austaufh der fehwerverwundeten Sriegsuntauglien und
Zivilinternierten bewährt. Dies darf ihr niemals vergefjen werben.
Wenn wir enttäufcht find, daß die öffentlihe Meinung in der deutfchen
Schweiz nicht ungeteilt auf deutfcher Seite fteht, jo liegt der legte Grund dafür
darin, daß eine politiihe Sonderftelung auf die Dauer troß aller Kultur-
gemeinfhaft ein immer ftärleres befonderes Nationalgefühl wirkt. Noch im
17. und 18. Jahrhundert haben alle Deutfchichweizer auf die Frage, ob fie
Deutiche feien, mit einem felbitverftändlichen Ya geantwortet. Die politifche
Konfolidation des Deutfchen Neiches im 19. Jahrhundert, die mit der Gründung
des Reiches 1870 ihr Ende fand, hat das deutfche Nationalgefühl ungemein
gefteigert. Aber während noch das Vaterlandslied Ernft Mori Arndts „Was
tt des Deutfchen Vaterland?“ die Schweiz unbedenflid) zum Baterlande rechnete,
ift dies feitdem unmöglich geworden. Auch das politifhe Schweizerbemußt-
fein tft duch die Berfaflungen von 1848 und 1874 bebeutend geftärlt.
Der Mann aus dem Volle wird heute in den meiften Fällen die ftrifte Ant-
wort bereit haben: „Wir find feine Deutfchen“. Der Gebildete wird die
deutliche Unterſcheidung machen: „Politiſch ſind wir feine Deutichen, aber
fulturel find _wirägute Deutſche“.
LapcAe
—
Der heilige Berg
Von Pfarrer Edmund Kreuſch
Jen heiligen Berg der morgenlaändiſchen Chriſtenheit umrauſchen
die Kiele der feindlichen Schlachtſchiffe; es brüllen die Kanonen
über das Meer herüber zu den Dlivenhainen, Kirchen und
Kloſterzellen; um Saloniki dehnen ſich die Lagerzelte der Eng⸗
länder und Franzoſen und ſperren die Wege zum Hagion Dros.
Die Mönche auf dem heiligen Berge, dem Hagion Dros, der ſich faſt
zweitauſend Meter über das ägäiſche Meer erhebt, ſchauen bekümmert aus ihrer
heiligen, göttergleichen, himmelnahen Ruhe auf das männermordende Kriegs⸗
getümmel der Ebene hernieder.
Unter den Stämmen, die ſich nordwärts befehden, haben ſie ihre Freunde
und Verwandten. Unter den Griechen, die Saloniki kampfgerüſtet bevöllern;
unter den Serben, die ſchreckensbleich die Grenze überfluten oder in verzweifelter
Gegenwehr fih den nachdrängenden Bulgaren entgegenſtemmen; unter ben
Bulgaren, die fiegestrunfen die Serben und Serbenfreunde mit ihrem Granaten-
bagel überfehütten — überall haben fie ihre Angehörigen. Ä
„Heilige Sungfrau, des Athos Königin, Mutter Chrifti, hilf den Armen!“
So beten fie in ihren Zellen mit Treuzweis ausgebreiteten Armen; fo plalmo-
dieren fie in ihren ebrmwürbigen SHeiligtümern, Tag und Nacht, ftundenlang
ftehend, fi niederwerfend, den heiligen Boden füffend — entfagend — büßend
— ein ganzes Boll von Anacdhoreten, Mönchen, Brüdern.
Sorgenvoll ftudieren fie in den heiligen Schriften, den koſtbarſten Schägen
ihrer Bibliothefen, ob fih aus der Gefchichte der vergangenen Tage da8
Schidjal der ungeheuerlichen Wirren der Gegenwart enträtfeln laffe. Dreizehn-
taufend Handicriften der Kirchenväter, griehifhe und flawifhe Urkunden,
Kleinodien der Diplomatit und Paläographie: fie verftummen vor dem un
gebeuerften Erlebnis, das bis Heute die MWeltgefchichte Tennt. in Gericht
ergeht über die Völker, von dem fein Prophet noch geweisfagt.
Die Mönche wandeln dur) die Rebhügel, die Dlhaine und Obftgärten, die den
heiligen Berg mit bunten Blüten und lodenden Früchten befränzen, und ftaunen
nicht mehr die Wucht der Telskolofie an. Was will der Kampf der Giganten und
Bötter bedeuten, damals als der Gigant Athos den Hagion Dros von Thefjalonich
auf die Kalkidifhe Halbinfel fehleuderte, gegen den dumpf dröhnenden Donner
94 Der heilige Berg
der fohmeren Gefüge, die das Herz erbeben maden, die Luft erjehfittern, Die
Eingeweide der Mutter Erbe aufmühlen, fo daß fie das Blut ihrer Kinder
teintt?! Was bedeutet die Flotte des Mardonios, die 492 v. Chr. den um ben
Athos tobenden Stürmen zum Opfer fiel; mas bedeuten die taufend Dreirubderer,
denen fünfzehn Jahre fpäter Xerxes einen ficheren Kanal dur) die Halbinjel
graben ließ, gegen die Meeresriefen, die heute wie gefett gegen Sturm und
Schidfal das ägätjche Meer durchraufchen, um Hunderttaufende von Kriegern
und Kriegsmafhhinen ans Land zu fpeien? Kleine fchlanke Jäger pirhen hinter
ihnen ber, jagen ihnen ben Torpedo in die Seite, und die Giganten verfinfen
in den lichtlofen Abgrund, aus dem es Teine Wiederlehr mehr gibt.
Die Augen der Anacdhoreten weiten fih vor Entfegen und das Ylut erftarrt
in ihren Adern, wenn fie au8 der heiligen, göttergleichen, himmelnaben Rube
ihres Heiligtums durch fo graufige Gemwalten aufgejchredt werden.
Ehemals thronte auf der Bergesfpite der thrafifche Zeus; heute erhebt fi)
dort die Maria-Himmelfahrt-Kapelle. Unten in einem Zempel am Meeresufer,
deflen Stelle jett die Abtei des Philotheos einnimmt, feierten die alten Athoniten
ihre Volksfeite, von denen die Tradition nod) lebendig geblieben if. Schon
früh jedoch in der chriftlicden Zeit follen Einfiedler auf dem waldreidhen Giland
BZufludt vor den Irrungen und Wirrungen des Lebens gefuht und gefunden
haben. Die eigentlichen Klöfter aber wurden erft im neunten Jahrhundert
erbaut.
Der Mönd Athanafius gab allen durch fein Klofter Mufter und Regel.
Heute gibts deren zwanzig; das jüngfte ftammt aus dem Jahre 1542. Griedhifche
Kater, flawifche Fürften, fromme Gläubige wetteiferten mit Stiftungen. Das
erfte Meine Kirchlein ward umgeftaltet zum prächtigen Zempel, die gras-
bedaditen Hütten der erften Einfiebler wichen fteinernen laufen mit Gärten,
Adern und Obftpflanzungen.
ALS die Türken den Balkan eroberten, unterwarfen fi) die Mönche frei-
willig. Dadurd) erlangten fie gegen einen jährlihen Tribut völlige Freiheit in
der Verwaltung ihres Gemeinwejens. Kein Mufelmann, außer dem Vertreter
der Pforte, durfte den Athos betreten. Selbſt dann, als die Mönche den
griedifhen Freiheitsfampf unterjtügten, büßten fie ihre Unabhängigkeit nicht
ein; jo große Rüdfiht mußten die Türken auf fie nehmen wegen des Anfehens,
das fie im ganzen Drient genoffen.
Das Mönchsleben hat auf diefem Eiland Erfdheinungsformen gezeitigt,
die fonjt in der Chriftenheit unbelannt find. Urfprünglich befaken bie Mönche
eine monarhilhe Verfaffung und forderten das gemeinfame Leben nad) der
Regel des hl. Bafilius (F 379). An der Spihe eines jeden Kloſters ſtand ein
Abt, Hegumenos, die Hegumenoi aller SKlöfter aber bildeten in der Synais
unter dem Proto8 die oberfte Behörde des Klofterftantes. Seit dem vierzehnten
Sahrhundert jedoch loderte fi) das gemeinfame Leben; die ftrenge Zucht ließ
nad und erlaubte den Mönchen perfönliches Eigentum. Diejenigen, weldde von
Der heilige Berg 95
diefer Erlaubnis Gebraud) machen, erhalten von dem SKlofter, zu dem fie ge-
hören, Brot und Wein; den übrigen Lebensunterhalt verdienen fie fidd durch
Handarbeit, Gartenzucht und Aderbau. Sie werden Stellioten genannt und wohnen
in Heinen Häufern, den Kellien, zu dreien oder vieren zufammen.
Eine weitere Eigentümlichleit des Mönchsftante auf dem Athos find bie
Stiten, Heine Dörfer von vier bi8 fjechzig Häufern, in denen je drei bis vier
Einftedler in Abhängigkeit vom Slofter leben. Kein Weib darf den Athos be-
treten, feine weltlichen Händel dürfen die befehauliche Nuhe des Berges. ftören,
feine leibenfchaftlicden Begierden den Sinn für das Himmlifhe trüben. Sa,
die Stiten leben noch ftrenger als ihre Brüder in dem Klöftern, verbinden mit
dem Gebet und der Betrachtung, wie die Karte Förperliche Arbeit.
Die gegenwärtige Berfafjung diefer taufendjährigen Mönchsrepublit ftammt
aus dem Jahre 1788. Die zwanzig Klöfter find felbitändige Körperfchaften.
Nur die Hälfte von ihnen find eigentliche Klöfter, Koinobien, Stätten des
gemeinfamen Lebens, unter der Leitung eines Abtes. Die anderen haben eine
demofratiige Berfaffung und beißen Monastira idiorythma. Yhre oberfte
Behörde beiteht aus einem Nat mehrerer Mitglieder; die Gefamtregierung liegt
in der Hand der Synode zu Karyes, dem DVerfammlungsort der Vertreter der
zwanzig Klöfter. An deren Spige fteht ein Ausfhuß von vier Epiftaten, die
von ben Klöftern jährlich neu gewählt werden.
Ein Sit der Wiffenfhaft ift der Athos nit, wenn er auch als folcher
im Mittelalter gepriefen wurde. Die Schäte der Batriftif modern unbelannt,
unberührt und unvermwertet in den Bibliothefen der zwanzig Klöfter. Ste find
indefien bei weitem nicht fo zahlreich und wertvoll, al8 man erwarten follte.
Man zählt über neunhundert Kirchen und Kapellen, unter denen fidh
Ihöne Denkmäler der byzantinifchen Kunft befinden follen; doch find fomwohl fie
felbft al aud) ihr Fünftlerifcher Innenihmud kaum zugänglid. ES unterliegt
wohl laum einem Zweifel, daß die Zeit auch darin Wandel [haffen wird; denn
der Sturm der Weltgefchichte umbrauft den Athos mit einer Gewalt, der auch
die ftarrfte Tradition nicht zu widerftehen imitande ift.
Sm Frieden zu Bulareft 1912 fiel der Athos mit feinen Klöftern Griechen-
land zu. Rußland fuchte aber trogdem die internationale Verwaltung der
Möndisrepublif feitzubalten. Die Synode erklärte fi) jedoch gegen alle Brojelte,
die irgendeine Einmifchung einer fremden Macht in Ausfiht nahmen und arbeitete
am 3. bezw. 16. Dftober 1913 eine diesbezügliche Dentichrift aus, die fie der
Londoner Konferenz, dem König von Griechenland und dem Patriarchen von
Konftantinopel vorlegte. Rußland gab nad) und begnügte fi damit, daß bie
ruffiiden Möndde Untertanen des Zaren und mit ihrem Baterlande durch eigene
Voft in Verbindung bleiben follten. AS diefe jedoch Unruhen erregten, wurden
ihrer etwa taufend nah Rußland zurückgeſchickt.
Die zu Baris erfcheinende Zeitfchrift der Affumptioniften „Echos d’Drient“
gibt nad dem „Kirchlichen Herold“ von Eypern eine Statiftil vom 15. Dezember
96 Der heilige Berg
1918 über die Klöfter und ihre Bewohner, nach deren Angaben es zwanzig
Klöfter gibt, zwölf Skiten, 204 Kellien, 456 Cinfiedeleien mit 5831 Griechen,
1914 Ruffen, 379 Rumänen, 243 Bulgaren, 89 Serben und 14 Georgiern;
im ganzen: 7970 Möndhe.
Werden fie, fragen wir Abendländer, wie die deutfchen Ordensleute ihre
ftreng verjehloffenen Zore öffnen, um nad Ehrifti Vorbild die Wunden und
Kranken, die Opfer des Weltkrieges aufzunehmen? Üder Ieben fie noch immer
nur dem Gebete, der Beichaulichkeit, ven Werken des friedlichen Alltags?
Allen Manuflripten ift Borto Binzugufügen, da andernfalls bei Ablehuung eine Rädfenbung
nicht verbärgt werden laun,
Nahdrnd Tämtliher Auffäge nur mit ausbrädiidher Erlaubnis bed Verlags geftattet.
Berantwortli: ber Herausgeber Beorg Eleinow in Berlin. Lichterfelde We. — Manuftriptiendungen ımd
Briete werden erbeten unter der Abrefle:
Un den Serausgeber ber Brenzboten in Berlin - Lichterfelde Wer, Gteruftraße 56
— des Herausgebers: Amt Lichterfelde 408, des Verlags und der Schriftleitung: Amt —X 65610.
erlag: Berlag der Brenzboten &. m. b. S. in Berlin SW 11, Xempelbofer Ufer 85a
nt: „Der Neihebote" &. m. 5. 9. in Berlin SW 11, Definuer Straße 86/87.
Wir bitten die Sreunde der : :: :: ::
Grenzboten
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erneuern zu wollen. — ZBeftellungen
nimmt jede Buchhandlung und jede
Doftanftalt entgegen. “Preie_6 M. Berlin SW ıı.
Verlag der
Grenzboten
G. m. b. H.
EEE EEE ABER, SEE ———— — —— —
Ein mitteleuropäifch-vorderafiatifcher
Schiedsgerichtsbund
Don Dr. Karl Mehrmann
er edanten, einmal ausgeiprodhen, fterben nidht. Sie können ver-
ART trüppeln; fie können vervolllommnet werden; fie lönnen in andern
X Ideen aufgehen. Aber ihre Spur läßt fich niemals ganz ver-
4 —8 wiſchen.
— Selbſt ein Gegner des Pazifismus, erlenne ich ſogar in
einer Zeit, die ſeinem Wollen ſo ganz entgegengeſetzt iſt wie die heutige, in
ſeinem Syſtem lebendige Kräfte, die nicht verloren gehen können. Die Sehn⸗
ſucht nach ewigem Frieden freilich hat die ſchönſte Formulierung ihres Programms
ſchon vor bald zweitauſend Jahren gefunden, in der Weihnachtsbotſchaft für alle
Menſchen, die guten Willens find. Bis die Welt in Rauch und Flammen
verzehrt oder in Schnee und Eis erſtarrt iſt, wird die Friedensſehnſucht ewig
neue und immer zartere Töne veredelter Menſchlichkeit aus dem Gebot chriſt—
licher Nächſtenliebe hervorlocken. Jedoch, wer in aller Welt wird jemals den
Punkt entdecken, an dem die Politik glatt in das Gedankenreich der Friedens⸗
freunde mündet und reſtlos darin aufgeht? Der Staatsmann und der Hiſtoriker
haben in dem Kampf von jeher eine gottgewollte Notwendigkeit gejehen. Und
wenn Moltle als Soldat den ewigen Frieden einen Traum und nicht einmal
einen jhhönen nannte, jo hatte ihm der Philofoph Heraklit fhon vor mehr als
zweitaufend ahren die Begründung vorweg genommen: der Kampf ift der
Bater aller Dinge. Nun ift der Weltkrieg in alle Phantafien, die die lepte
riedenszeit wieder fo üppig hatte wuchern lafjen, mit rauher Hand binein-
gefahren. Die blühenden Hoffnungen der PBazififten find gefnidt. Im Haag
fteht der Friedenspalaft verödet, und Mars regiert die Stunde.
Und alles wäre unter dem Schutt und den Trümmern, die der große
Weltenbrand auf die geftürzten Utopien der Fyriedensliebhaber gehäuft bat,
erftidt? Aus fchmalen Rigen und Fugen ringelt fi) der Schiedsgerichtsgedante
Grenzboten I 1916 7
98 Ein mitteleuropäifch»vorderafiatifcher Schiedsgericdhtsbund
— — — —
immer und überall wieder ins Freie. Selbſt bei den kriegführenden Parteien
iſt er lebendig geblieben. Wenn Deutſchland den Neutralen im Verfolg der
Verhandlungen über Schiffsverſenkungen die Einſetzung von Schiedsgerichten
vorſchlägt, wenn ſoeben England und ſeine überſeeiſchen Beſitzungen mit den
Vereinigten Staaten die Richterliften für das ſchon früher verabredete ſtandige
Schiedsgericht austauſchten, ſo ſind dieſe Tatſachen ſprechende Zeugen für die
Zahigkeit eines Gedankens, der im Frieden nicht ſterben und nicht leben zu
Iönnen dien.
Denn wie war e8 do auf den beiden Friedenskongrefien im Haag, bie
dem Weltkrieg vorausgingen? in allgemeiner Vertrag aller vertretenen
Staaten über ein Zwangsſchiedsgericht und über einen Weltihiedsgerichtshof
war nit zu erzielen. 3 blieb beim „fafultativen“ Schiedsgericht und beim
Zugeftändnis: wenn ein Schiedsgericht von beiden ftreitenden Parteien gemünfcht
werde, dann follten die Richter aus der Lifte des Haager Zribunals gewählt
werden, falls Leine andere Zufammenfegung des Gerichtshofes beliebt würde.
Freiherr v. Marihall, der Vertreter des Deutichen Reiches auf der zweiten
Haager Friedenskonferenz, gab in fnapper Form einem Gemwährsmann des
„Betit Parifien” am 25. September 1907 die Gründe befannt, die e8 Deutfdh-
land unmöglih madten, mit allen Staaten der Welt ohne Ausnahme in ein
Zmwangsihiedsgerichts-Verhältnis zu treten. Die gefebgebenden Körperfchaften
und die politiihen Zuftände, fagte er, feien in den einzelnen Staaten zu
verſchieden.
Die Vorausſetzung für einen dauernden Schiedsgerichtsſpruch zwiſchen zwei
Staaten iſt zunächſt, daß es zwiſchen ihnen für abſehbare Zeit niemals zu
Konflikten kommen wird, die Ehre, Unabhängigkeit und Lebensnotwendigkeiten
berühren. Ein Staat, der von Revancheſucht oder Raubgelüſten gegen uns
oder unfere Verbündeten erfüllt iſt, bietet nicht die pupillariſche Sicherheit, die
wir für nötig halten, wenn wir uns die dauernde Verpflichtung auferlegen
laſſen ſollen, auch nur Streitfragen zweiten Grades unbeſehen einem Schieds⸗
gericht zu überweiſen. Eine weitere Bedingung iſt annähernde Gleichheit der
Kulturhöhe. Ein Schiedsgerichtsvertrag auf Dauer mit einem Staat, deſſen
politiſche Moral tiefer ſteht als unſere, wäre ein zweckloſes Poſſenſpiel und
eine Herabwürdigung unſerer nationalen Ehre. Umgekehrt haben die Vereinigten
Staaten ſoeben die unter dem Präſidenten Taft begonnene Politik, mit England
zu einem Schiedsgerichtsbündnis zu kommen, unter Wilſon durch die Ernennung
ftändiger Schiedsrichter zu einem günftigen Abſchluß gebracht. Die mittel⸗
europätfhen Verbündeten fpüren die Wirkungen diefer amerifantjch- britifchen
Sintereffengemeinfchaft In ihrem heutigen Dafeinstampfe.
Der Weltfrieg hat aber auch) die ganze Imnigleit und Verflechtung der
militär-, wirtfchafte- und verfehrspolitiichen Intereſſen der mitieleuropäiſchen
Großmädte und ihrer Verbündeten im nahen Orient offenbart. Die kulturellen
Berfhtedenheiten im neuen Vierbund find bei allen Raffeeigentümlichleiten und
Ein mittelenropäifch »vorderaftatifher Schiedsgerichtsbund 99
innerpolitiiden Eigenartigleiten leineswegs größer oder auch nur fo groß, wie
zwiſchen manden Böllern, die im britifchen, ruffiihen oder franzöſiſchen Welt⸗
reich dur viel ftärfere ftantsrechtlihe Bande enger mit einander verknüpft
find. Die Unterjhiede zwifchen den verfchtevenen Formen des Chriftentums
und dem Slam wird niemand leugnen wollen. Aber al8 gemeinfam ift bei
allen Böllern des Vierbundes die ritterlide Kampfmweife des ftaatlihen Selbft-
erhaltungstriebe8 bemerkbar geworden, und in innerpolitiider Hinficht tft Die
Ahnlichleit des Berfaffungslebens diefer Monardhten mit gewählten PBarlamenten
unverfennbar. Bas Gebiet zwifhen der Nord⸗Oſtſee und dem Indiſchen Ozean
fann dur Kanäle zwiihen den nach Norden ftrömenden deutfchen Flüffen und
der oftwärtS gerichteten Donau fowie durd) die von ber anatoliihen Bahn
abzweigenden Linien nad) dem Roten Meer und dem Perfiihen Golf zu einer
um das Ägäifhe und das Schwarze Meer gelagerten Bertehrseinheit zufammen-
gefaßt werden. Das mitteleuropätich-vorderafiatifche Wirtfhaftsgebiet reicht aus
der nördli) gemäßigten Zone hinein in die tropifhe und erzeugt alle Bedarfs-
g’genftände des menfhlichen Lebens. |
Bor allem aber ift die Einigleit der Gefinnung vorhanden, die Zufammen-
gebörigfeit der Landmafjen zwifchen Nordfee und Indifchem Ozean anzuerkennen,
und des Willens, fie auch nad) dem Kriegsende zu behaupten. Herr dv. Bethmann-
Hollweg, Fehr. v. Plener, Graf Andrafiy, Minifterpräfident NRadoslamom,
Halil Bey, fie alle geben nach diefem Ziel einig. Hundert Zungen, taufend
Federn find am Werke, nicht mehr, um die Notwendigkeit eines dauerhaften
Zufammenfchlufjes zu beweifen, fondern um die Form der Einigung zu erörtern.
Bismard hinterließ uns in feinen „Sedanten und Erinnerungen“ als politifches
Zeftament den Wunfch nach einer Verewigung des deutfch-öfterreihiich-ungariichen
Bündniffes dur Verfaffungs-nartikulierung ; fein Werk, fo wie e8 heute, nad)
dem Abfall Ztaliens vom Dreibunde, in Kampf und Not feine Lebenstraft be»
wiejen hat, tft militärpolitiich durch den Anfchluß Bulgariens und der Türkei
erweitert worden. Man erörtert den Gedanken einer Militärkonvention im
Bierbund. Man ftreitet, ob Zollunion oder VBorzugszölle mit Zwifchenzollinien
prattifh vorzuziehen fein. Man ift fich jedenfalls in dem Gedanlen einig,
daß fi) bie Bierbundsftanten, bevor fie mit den Neutralen und dem heute nod)
feindliden Ausland Handelsverträge abichließen werden, vorher untereinander
fiber die Zulunft ihrer HandelSbeziehungen zu einander Far werben mülffen.
Und niemand fann leugnen, daß die Notwendigfeit, die verfehrspolitiiche Einheit
Mitteleuropad und Borderafiens wirffam zu machen, immer wieberlehrende
Berftändigungen über den Ausbau der Wafler- und Schienenftraßen jowie bie
Berhinderung einer die gegenfeitigen Sintereflen der Vierbundftaaten ſchädigenden
Tarifpolitit gebiet. Das Gefeb der gemeinfamen Verteidigung gemeinfam
erworbener Errungenfchaften unterfagt die Wiederlehr auch der geringften Un-
einigleit. So wird der Schtedsgerihtsbund für den Bierbund eine Waffe der
Selbfterbaltung.
7*
100 Ein mitteleuropäifch»vorderaftatifcher Schiedsgerichtsbund
Eine ftraffere Staatenverbinduug, felbft nur in der lofen Yorm des Staaten-
bundes, will, fo fcheint e8, Teiner der verbündeten Staaten in eiferfüchtiger Sorge
um fein Hoheitsredht dulden. Sie würde eine Duelle des Mibmutes werben
und den madtpolitiihen Einfluß des Bierbundes fhädigen. Umgelebrt aber
dient da8 Bewußtfein, daß eine unpartetifche Nechtipredung den Mißbrauch
wirtſchafts⸗ und verfehrspolitifcher Vorzugsftellungen ausichließt, der Befeſtigung
auch des militärpolitiihen Bündnifjes.
Schon die Zeit vor dem Weltkriege Tannte Kompromifje auf Schiedsgerichte,
die fi) aus der Auslegung von Handelsverträgen ergeben könnten. Ein Schiebs-
gerihtsbund des mitteleuropätfch-vorberafiatifchen Vierbundes würde in allen
Streitfällen, die nicht die Ehre, die Unabhängigkeit und das Lebensdafein be-
rühren, einen ftändigen Schiedsgerichtshof automatiidh in Zätigleit jeben, fobalb
fi der Streitpunft nicht durch direlte biplomatifche Berbandlungen von Kabinett
zu Kabinett im Handumdrehen aus der Welt fchaffen ließe. Der jedesmalige
Obmann Tönnte aus der Reihe der an dem zur Erörterung ftehenden Streit-
fall unbeteiligten Schiedsrichter ernannt werden. Für Meinungsverichieben-
beiten zwifchen Deutfchland und Üfterreich »- Ungarn 3. B. würden Bul-
garien und die Türkei, für eine foldde zwiichen dem beutihen und dem 08
maniſchen Reich der habsburgifhe und der bulgariihe Staat abwechſelnd den
oberften Schtedsmann ftellen und fo fort. Schwierigfeiten beftehen bier nur
theoretifch umd find im Übrigen dazu da, überwunden zu werden.
Sedanten, einmal ausgefprochen, Tönnen nicht fterben. Der SchiedSgericht-
gedante ift unfterblih. Der Weltihiedsgerichtsvertrag fcheiterte an der Un-
möglichkeit, die Intereffengegenfäge zu üiberfehen. Der mitteleuropätfch-vorber-
afiatiſche Schiedsgerichtsbund ift bie Verlörperung der Intereſſengemeinſchaft des
Gebietes zwiſchen Nordſee und Indiſchem Ozean. Er bedeutet in ſeiner Ein⸗
fachheit einen Foriſchritt der politiſchen Kultur und wird der Freiheit und der
Entwicklung der dem Mittel- und dem Schwarzen Meer anliegenden Staaten
eine zukunftsreiche Stütze bieten.
Der neue Sohn des Himmels
Don Erih von Salzmann
brachte der Welt die nicht ganz unerwartet Tommende Kunde, daB
der verwaifte Dradhenthron in Beling von einer kraftvollen Berfön-
ss lichleit befitiegen und damit eine neue Dynaftte im Himmlifchen
eich begründet fe. Diefer Vorgang, den uns der Draht in
wenigen furzen Worten meldet, und den wohl die meiften Lefer jebt im Welt-
frieg wenig beachtet haben, ift alles andere als einfach. In dem auf bubdhiftifch-
fonfuzianifder Grundlage ruhenden oftaflatifhen Riefenreih ift das gefamte
Denten und Fühlen der vierhundert Millionen Ginwohner, alle Äußerungen
ihres Lebens von der Geburt bi8 zum Qode, ihre Anfhauungen und ihr Tun
und Treiben, bewußt oder unbemußt fo eng mit dem Kult defjen verknüpft,
was wir „Bott“ nennen, daß der Gedanke einer Nepublil ein volllommenes
Unding if. Das wählbare Oberhaupt einer Republit, alfo ein Mann, der
vielleicht furz vorher im Alltagsleben gejtanden bat, und den mwomöglid) jeder
Menich auf der Straße Iennt, Tann nad) oftafiatiichen Begriffen nie der Vermittler
zwilhen den armen Erdenmenfdhen und dem „Sroßen unbefannten Etwas“ fein.
Das Oberhaupt des Staates ift zugleich der höchite Ausprud des Stants-
fults, d. b. eben der myftifhe, dem profanen Auge der alltäglichen Dtenfchen
verborgene Sohn des Himmels. Der Staatsklult in China ift identifch mit
dem Kaiferfult. Der Kaifer als Vater eines ganzen Volles, das fi} ftetS als
eine große Familie gefühlt bat, ift der Mittler zwiihen Himmel und Erde.
Htmmel und Erbe find greifbare Dinge, es find leine Dämonen, feine unficht-
baren Geifter, Himmel und Erde find etwas, was der Menfch täglich vor fi)
fieht, und darum find fie es, denen der Ghinefe in allererfter Linie opfert.
Zürnt der Himmel, fo findet das feinen Ausdrud in großen Überschwemmungen,
in den fchredlichen da draußen fo verheerenden Zatfun-Wirbelftärmen, in großen
Seuchen, jeberart täglichen Mißgefhids, daß die Menfchen treffen kann, und
nicht zum wenigften in Revolutionen und Sriegen. Diefe lebteren haben in
China ftetS Menfchenopfer nad) Millionen gefordert. Bor ihnen bat der Chineje
eine befonders große Angft, denn der Krieg treibt ihn vielleicht von Haus und
Hof. In keinem Lande auf Erden aber hängt die Familie ebenfo wie der
einzelne derart an feiner eigenen Scholle, wie da draußen in China. Der Krieg
102. ::.:e,nytıı Dei nene Sohn des Bimmels
— — * * — ö— — — — — —ñ— —ñ ⸗ — Denn
madt die Männer landflühtig und verdirbt die Frauen. Die Kriege und
Nevolutionen der vergangenen Jahrhunderte Haben dem Lande wohl an hundert
Millionen Menfchenleben geloftet. Site haben ganze Provinzen vermüjtet, große
Städte in Schutt und Afjche gelegt. Ach habe folde Städte in Trümmern, die
aus der furdtbaren Zeit des Aufitandes der „Ianghaarigen Nebellen“ gegen
die berrfdende Dynaftie Mitte des vorigen Jahrhunderts ftammten, no) zahl-
reich vor einem ahrzehnt im Innern des Neiches durchritten. Seine Menjchen-
feele beherbergten die zerfallenen Mauern, fogar die Ratten und Mäufe hatten
die Auinenftätten verlaffen. Dort war nichts mehr zu holen. Wo einft Zehn-
taufende von fleißigen Menfhhen für ihr tägliches Brot fehafften und arbeiteten,
da fchleiht heute der Fuchs und balgen fi) ein paur Krähen. Das tft alles,
was geblieben ift.
Schon damals fagte das Boll: „Der Himmel zürnt, der Himmel entzieht
unferen Herrfhern das Mandat.” Schon damals glaubte man feit und ficher,
daß die Zeit einer neuen Dynaftie gelommen fe. Die Chinefen hatten wohl
recht, aber fie rechneten nicht mit den Fremden, die bereits ein großes “Interefje
am hinefiihen Reihe Hatten, im Bejonderen den Cngländern, denen ein
Ihwades China willlommen war. Die Fremden halfen der Dynaftte den
. Aufftand niederfchlagen, und ein englifder General, der befannte Zaiping Gordon,
der fpäter in Khartum von den Anhängern des Mahdi erfchlagen wurde, machte
fih zu ihrem Werkzeug. Wo England damals fon hinfam, brachte e8 Nieder-
gang und Blend über die Völker, und nubte fie in feinem grenzemlojen
Egotsmus zu feinem eigenen wirtichaftlihen Vorteil aus.
Der lebte große Kaifer der vergangenen Dynaftie, welde die Führer der
im 17. Jahrhundert aus dem Norden gelommenen Retterhorden der Mandichus
begründet hatten, war der Safer Kienlung. Defjfen Hauptregierungszeit und
glanzoollfte Periode war etwa identifh mit derjenigen Tyriedrih8 des Großen.
Seit diefer wirklich große Herriher Ehinag, — der von feiner höheren Mijfton
und dem ihm vom Himmel gewordenen Auftrage, über das Volk zu berrfchen,
mindefteng ebenfo überzeugt war, wie 3. 3. ein Ludwig der Bierzehnte, —
Ende des 18. Jahrhunderts geftorben war, fette der Niedergang der Dynaftie ein.
Es war merkwürdig, das Herriherhaus dien entnerot und nicht mehr fähig,
einen Traftvollen Mann bervorzubringen. Ein fhwadher Herrfcher folgte dem
anderen, und das Land litt darunter. Diefes einft jo mächtige Reich, vielleicht
feiner Zeit das mädhtigfte diefer Erde, befjen Katfer über nahezu ganz Afien
gebot, jhhien retiungslos dem Niedergang geweiht. Wieder wurde es, wie fhon
fo oft in feinem Jahrtaufende währenden Dafein als Monarchie, langfam aber
fiher die Beute der von außen von allen Seiten anftürmenden Barbaren.
Denn Barbaren nach Kinefifden Begriffen waren fie alle, die da zu Schiff, zu
Noß und zu Yu famen, um fi) ein Stüd aus dem Körper Chinas heraus»
zufchneiden, oder um eine befannte chinefiſche Redensart zu gebrauchen, „um
die Melone zu zerteilen“.
—
—
Der neue Sohn des Himmels 108
Die Chinefen blidten von dem Podium ihrer Taufende von Jahren alten
Kultur auf die Fremden mit einem von maßlofer Überhebung getragenen Dünfel
herab. Sie hatten nur Spottnamen für die Fremdlinge und verachteten fie
gründlid. Die fremden Weißen waren die rothaarigen Teufel, die Japaner
die Inſelzwerge. Wir haben übrigens einen merkwürdigen PBarallelfal in diefem
Weltfriege, denn Herr Salandra in Nom reiht fi würdig feinen chinefifchen
Borgängern aus der alten Beamtenklaſſe an, wenn er fagt, daß er von der Höhe
zweier Jabrtaufende herab fi) unfagbar erhaben über die deutichen Barbaren bünfe.
Bölferjhicfale entfheiben fh nicht von heute auf morgen. Sriege, Ne
volntionen und Dynaftieftürze find nicht das Ergebnis einer nächtlichen Über-
legung, oder der plößliche Willlüralt einer bezahlien Rotte von Bollsverderbern.
Solche elementare Ereigniffe find die ftetS Logifche Folge einer langen Entwid-
Iungsreibe, meift vieler Jahre. So find au die Ummälzungen zu betrachten,
bie wir in den lebten Jahren in China erlebt haben, die heute zur Regeneration
eines Boltes führen, das wohl für jeden Menfchen fomohl in feinem Ganzen,
wie in der einzelnen Perfon bie verlörperte Rückſtändigkeit darſtellte. Ich will
nit von den vergangenen hundert Jahren fpredden, die den Niedergang bis
zur volllommenen Berlotterung aller Verhältnifie im NReide der Mitte herbei
führten. Wer im Borerjahre 1900 draußen im fernen Dften weilte, weiß
ungefähr, wie weit diefer Zuftand der Chinefen gebiehen war. Das Land fhien
damals hoffnungslos im Verfall, und die Aufteilung unter die fremden Reiche,
zum mindeften aber die fremde Verwaltung, wie in Ägypten, Indien oder Korea
ſchien ihm nad) demilrteil all der vielen, fich als Kenner fühlenden Fremden ficher.
Der Schein trog. Diefes Volk tft viel lebenszäher, als die meilten anderen
anf Erden. Die ganze Strultur des Bollsdafeins, auf dem patriarchaliichen
Tamtilienfyftem fußend, gab ihm eine innere unbezwingliche Kraft, die weder
dur die als Eifenbahn, Zelegraph und Dampfidiff eindringende Majchine,
noch durch die fih breit machende individualiftifche weftliche Lebensanjdhauung
zu brechen war.
&3 gab wohl eine riefige Ummälzung, die fi in einer Revolution, dem
Dynaftiefturz, der Ummandlung zu einer Scheinrepublifl, und einer weiteren
Revolution äußerte. Wieder waren es die Yremben, die bier die größte Rolle
fpielten, in der Hauptfache die Japaner, die weder Geld noch fonftige Mittel,
noch jogar das offene Eingreifen von bezahlten Freibeutern jcheuten, nur um
das Niefenreich zu fhmwächen, um es endgültig unter ihre wirtihaftliche Kontrolle
zu bringen. Japan betraditet China genau fo als feine unantaftbare Domäne,
wie Amerifa für den eigenen Kontinent die Monroe Doltrin aufgejtellt bat,
oder wie England das europäifche Feitland für feine egoiftiihen Zwede mono»
polifieren möchte.
Der Chinefe bat einen lächerlich feinen Inſtinkt; es find jegt mehr als
zwanzig Jahre her, daß er fühlt, auf den öftlich vorgelagerten nfeln, nämlich
dem japanifchen Reiche, figt der Feind. Die Staaten Europas find heute ja
104 Der neue Sohn des Himmels
leider noch nicht einmal fo weit, dasfelbe in ihrem Kalle zu erlennen, nämlich,
daß England ihrer aller Feind tft. Wenn der Ehinefe erft einmal anfängt in
feinen Mafjen tnftinktio politifch zu empfinden, dann fhaut er aud), praftifch
umd realiftifh, wie er veranlagt ift, nad Rettung aus. Son frühzeitig er-
fannten die Führer des Volles, daß ihnen die Rettung nidht aus einer weiteren
Dezentralifation, das beißt aus einem Kampf aller gegen alle erwadjien könne.
Die Zuftände im Reiche wurden vor wenigen Jahren geradezu anardhifche, und
ale Welt rief nad) einem ftarfen Manne, der, wie einjt die mächtigen Kaifer
auf dem Draddenthron, alle Fäden in feiner Hand vereinigen und ein richtiger
Herrfdher von Gottes Gnaden fein würde. Chinas große Zeit war im Kommen,
und große Zeiten gebären befanntlic) auch immer große Männer. Heute ift
ber große Dann da, den fchon feit zwei Jahrzehnten die Menfchen dort draußen
fommen fahen. Das ift Yuanichilai. AK könnte ja nun den beute jeit feinen
Anfängen wohlbelannten Lebensgang des Mannes jchildern, aber daS beforgen
[don die Tageszeitungen zur Genüge. Außerdem babe ich immer gefunden,
daß dem mit der Materie wenig bekannten Lefer foldhe Biographien mehr oder
weniger nicht fagen, und deshalb möchte ich lieber einige mehr eptjodenhafte
Züge aus dem Leben bes Mannes berausgreifen, den die Gefchichte einmal zu
den „Großen“ reinen wird.
Yuanſchikai ift aus einer alten Beamtenfamilie und ftammt aus der Provinz
des Neiches, die den Anfprud macht, urchineftfh zu fein. Das ift die Provinz
„Honan“, was überfegt heißt: „Sübdlich des Flufies". Der damit gemeinte
Fluß ift der Schreden und die Sorge Chinas, nämli der gelbe Yluß, der
Hoangho. Der junge Yuan mus auf, wie all die Söhne aus djine-
Ricden Beamtenfamilien, mehr oder minder in einem Schmug, von dem man
fi bei uns nur wenig Begriffe maden Tann. Die Erziehung der Kinder
folder Familien war damals über das ganze Reich eine rein fhematifhe. Auch
der junge Yuan lernte mit dem, dem jungen Chinefen eigenen rührenden
Stumpffinn, Dubende von meilt wenig verftandenen Büchern auswendig. Er
verbaute den Anhalt ebenfowenig, wie neunundneungig Prozent feiner Schul.
follegen, und ber Erfolg war ja aud) der fehr einfache, daß er Dur alle
Eramina burdfiel. Cr erflärte bereit8 damals, er hätte genug von dem ganzen
Schwindel, daS wäre alles heller Blödfinn. Diefe Äußerung tft verbürgt, denn
fein Geringerer bat fie einmal lachend in Beling erzählt, al® der alte Tluge
Sfüfchifdang, ein Freund von Yuans Vater, und fpäterer Bormund des Kaifers,
ber nad) glänzender Laufbahn vor Kurzem geftorben if. Yuan war das
enfant terrible der Familie. Seim eigener Wille trat fehr früh hervor. Er
ließ fih nicht in den Schematismus dhinefiiher Beamtenfindererziehung ein-
zwängen und als alle anderen fonftigen Verfudhe, ihn bei bochgeitellten Ber-
wandten unterzubringen, damit er die bequeme Leiter der Proteltion herauf⸗
freche, fheiterten, da tat er das Schredlichite, was ein junger Mann aus guter
Htnefifher Familie tun fann, er ging zu den Soldaten. &8 blieb dem alten,
|
Der neue Sohn des Bimmels 105
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au Hier in Deutihland mwohlbelannten Lihungfchang vorbehalten, zu entdeden,
daß in dem jungen Manme außerordentliche Gaben ftedtten. Di fchicdte ihn nad)
Korean al3 Statthalter Chinas. Das war um 1885 herum, und für Yuan
wurde Korea die Hohe Schule oftafiatifcder Geheimpolitit. Dieſe Politik ſcheut
fein Mittel: Mord, Geld, Überrebung, Lift, brutale Gewalt, alles ift will.
fommen. Der Zwed heiligt die Mittel. _ Yefuitismus und Machiavellismus
find wundervoll gepaart. Yuan ließ rüdfichtslos alle Minen fpringen, er fpielte
alle TZrümpfe aus, die er in der Hand hatte, aber er mußte doch weidhen. Da
waren nod) Stärlere wie er; er war noch zu jung, bie Gegner waren ihm
über. Das waren die Japaner. Dort in Korea, im Lande der Morgenrube,
zankten ih Nuffen, Japaner und Chinefen um den Beflt des Landes. Auch
dort war Bott wieder einmal mit den ftärfiten Bataillonen, genau, wie unter
dem alten Friten, und der japaniiche Gott erwies fih in biefem Falle als ber
Träftigfte, oder wenn man jo will, die japanifchen Bataillone Yuan lernte
Daraus, daß man mit „Bluff” Teine Kriege gewinnen fann, ferner, daß bie
Stufen zur Höhe, auf der die Nuhmgelrönten figen, mit Erfolgen gepflaftert
fein mäüfjen. Yuan batte keine folden aufzumelfen. Cr hatte mit fchlechten
Xrümpfen gefpielt, und mußte den Krieg gegen Japan verlieren. Nach alt-
Hinefiiden Anihauungen mußte er, befonder8 aber fein Gönner Lihungtihang,
der die Strippen gezogen hatte, in Ungnade fallen. |
Ein richtiger Chineje pflügt nicht nur mit einem Pferde. Prinzipienreiteret
ift gänzli undinefifd. Kurze Zeit fon nad dem Sturz hatte Yuan neue
Freunde gefunden, die ihn ftühten. Er verftand es, mit allen Wölfen zu heulen.
Als der junge Kater Kwangfü 1898 gegen feine große Tante Zfuhft Tonfpirierte
und fie unfhädlih machen wollte, um feine nicht fchlechten, aber etwas ver-
worrenen speen in die MWirflichleit umzufehen, da war e8 wieder Yuanfchilai,
der den Vertrauten des Kaifers fpielte.e Der Kaifer fuchte gerade ihn aus, um
den großen Schlag zu führen. Man wollte den erften Dann des Reiches, den
Bertrauten der berrihfüchtigen Katferin-Witwe, Yunglu, Hinriddten und bie
Kaiferin gefangen fegen. Dann follte China modernifiert werben.
Es find welthiftorifhe Ereigniffe, vom Abendland noch wenig gewürdigt,
die fih hier abipielten. Wieder war e8 Yuanfchilat, dem die Hauptrolle, eine
nad) unferen Begriffen im altgermantfchen Sinne unfchöne, zugedadit war. Denn
er verriet feinen Kaifer und opferte ihn. Warum er es tat, wer weiß e8?
Der Ehinefe, der nicht zugleich DOpportunift tft, der in grenzenlofer Selbftjucht
nicht immer zuerft an filh denkt, ift noch nicht geboren. Yuan fpielte ein großes
Spiel. &8 ging ohne Yrage um alles, fogar um Leben und Tod. Er mag
eines Tages in wenigen Sekunden erfaßt haben, daß das Spiel verloren war, und
ebenfo jchnell fhwenkte er um, und war mit höchfter Eleganz auf der anderen,
ber feindlichen Seite, im Sattel. — Die Gefhichte jagt und kurz: 1898 beging
die Katferin-Witwe Tfuhfi einen Staatsftreih. Sie jegte den Katfer Kwangjü im
Snfelpalaft gefangen und ergriff die Zügel der Regierung felbfl. Das war der
106 Der neue Sohn des Himmels
Erfolg der Tätigkeit Yuanfchilais. Wer will heute jagen, wo damals feines
Herzen Stimme war, ob bei den NReformern, oder bei den Realtionären?
Niemand weiß e8. Er felbit jedenfalls hatte fich gerettet, und fiel prompt die
Treppe herauf.
Noch war fein Name dem fernen Europa unbelannt. Erft furz darauf
fam der Augenblid, wo er in Deutjchland wenigftens in aller Munde war.
Das war während der Borerunruben. Yuan faß 1900 auf dem Gouverneur-
fefjel in Zfinanfu, der Hauptftadt Schantungg. Auch er Hatte den ftrengen
Befehl aus Beling: „Schlagt die fremden Teufel tot!” Aber bier erwies fich
zum erften Male die wirklich ftaatsmännifche Klugheit diefeg Mannes. Yuan
hatte noch nicht viel gejehen. Er Tannte weder den Süden noch den Weften
feines eigenen Landes. Er kannte nicht ein einziges der fremden Reiche, und
Do fühlte er mit feinem Imftinkt: Die Fremden find uns in DVielem über,
man darf fie nicht totichlagen, denn das nehmen ihre Regierungen ganz be-
denflih übel. Yhre Sitten find ganz anders als die unfrigen. So hielt er
eine verhältnismäßige Auhe in der ibm anvertrauten Provinz, und gute Nahbas
[haft zum böfen Spiele, als das man damals ohne Frage unferer Kolonie
grüändung Zfingtau anfah.
PVeling und die Kaiferin-Witwe verstanden wohl, was Yuan getan hatte.
Wiederum griff man auf ihn aurüd. ALS der Hof aus der Verbannung
zurüdfam, da erhielt Yuan den Poften eines Befchükers des Thrones, nämlich)
den des DVizelönig in Tienfin. Dort fah ich ihn zum erftenmal. Ich werde
den Augenblid nie vergeffen. Diejer Chinefe machte ohne Frage fofort Ein-
drud. Die brutale Stirn, das vieredige Kinn, die großen bezwingenden Augen
mußten unvergefjen bleiben. 8 war damals eine Art Empfang im vizelönig-
lihen PBalaft in der Ehinefenftadt. Da ftand der verhältnismäßig Kleine, ſehr
gebrungene unterfegte Mann, raucdhte nad) weftländifher Sitte eine Zigarre, die
ihm wahrjheinlic garnicht fchmedte, und unterhielt fih freundlich, oft gänzlich
unmotiviert lachend, mit den Yrembden, deren fchlechtes Chinefifeh er filher in
neun von zehn Fällen nicht verftand. Sein Beamtenkleid war au nad)
KHinefiihen Begriffen fchlecht zugefchnitten, und etwas fhmuddelig. Der Rand
feines Beamtenhutes war fettig, ebenfo wie der breite Streifen, den hinten auf
dem Seide der eingefettete Zopf binterlaffen hatte. Der Kragen war vorm
nicht zugelnöpft, was die meiften Chinefen verabfäumen zu tun. Man fab
einen weißen niedrigen Kragen, der bewies, daß der Träger wenig auf Äußerlich⸗
feiten gibt. Draußen fpielte eine Militärlapelle, und drinnen waren Hunderte von
Srembden, die meift ihre fchlechten Wige über die hinefifhe Soldatesta machten,
deren Hornfignale von weither herübertönten.
Nur einige wenige dachten vielleicht weiter. Wer draußen bei der Ehi-
nefenftadt herumgeritten war, der hatte nichts wie Soldaten und wieder Sol.
baten gefehen. Ka war aller Art Kriegsmaterial, da waren Geſchütze, da
waren Zelte, und auch der Henfer war bei jeder Kompagnie nicht fern, ber
Zur Reform der Pferderennen 107
— — — — — — on
—
auf HYuans Geheiß mit ſeinem breiten Schwert rückſichtslos die Köpfe herunter⸗
ſchlug, dort, wo man etwa gewagt hätte, ſeinen Befehlen nicht auf der Stelle
zu gehorchen. Muan hatte gelernt. Er hatte im Boxerjahr und der darauf—⸗
folgenden Zeit geſehen, wie die Fremden Politik machen. Cr hatte erfahren:
es gibt keine Völkerfreundſchaften, es gibt keinen Schutz für die Schwachen, es
gibt keine Logil, wenn Völker miteinander verlehren, es gibt nur Eines, und
das iſt brutale Macht. Niemals ging Macht mehr vor Recht, als damals —
und heute. Alſo, dachte Yuan, ich muß mir Macht ſchaffen. So drillte er
Soldaten und Soldaten, und ſchuf das Heer, das ſpäter den Grundſtock der
modernen chineſiſchen Armee bildete, das ihm aus der Hand glitt, das auch
einmal revoltierte, das aber heute, wie damals bei ſeinem Entſtehen, auf den
ſchwoͤrt, dem es u Entftehung verdanlt, auf feinen Meiſter Yuanſchikail
(Schluß folgt)
Sur Reform der Dferderennen
£os von England!
Don H. Rohne, Generalleutnant 3. D.
BUS a dem Kriege wird eine fehr wichtige Aufgabe — Sicherftellung
—— A der Remontierung der Kavallerie — an uns berantreten. Dazu
L 9 AR a ift die Zucht von Vollblutpferden unentbehrlih; denn auf eine
7 2 reiche Zufuhr von ausländifhem Vollblut wird faum zu rechnen
BESSER: fein. ine rationelle Zucht tft aber ohne eine Leiftungspräfung
nit denkbar. ALS foldhe Prüfungen gelten allgemein die Pferderennen, ohne
die eine Prüfung ber Pferde in bezug auf Gejchwindigkeit und Ausdauer un-
möglich if. Es iſt aber die Frage, ob die bei uns nad engliihem Mufter
abgehaltenen Rennen als geeignete Leiftungsprüfung angejehen werben dürfen.
In England, deflen Pferdezucht dur Klima und ausgedehnte Weiden außer-
ordentlich begünftigt tft, dienen die Nennen bauptfählih dem Vergnügen und
der Anregung zu Wetten, und leider haben fie auch bei uns mehr in diefem
Sinne gewirkt, als der Hebung der Pferdezucht gedient. Das wird von
den Sport3leuten beftritten, ift daher eingehend zu begründen.
In jeder Prüfung foll der Prüfling zeigen, was er lann und daß feine
Leiftungen ein gemifles von Sachverjtändigen feitzujegendes Mindeitmaß über-
108 Sur Reform der Pferderennen
ſchreiten. Mie fteht e8 nun damit bei unferen Pferberennen? Eine wirkliche
Nenngefhwindigfeit wird überhaupt nicht gefordert; es fommt bei den „Rennen“
lediglich darauf an, den Siegespfoften als Erfter zu paffieren, um den vorher
feit beitimmten Preis ausgezahlt zu erhalten. Db die hierbei gezeigte Ge-
ſchwindigleit groß oder Hein ift, hat gar feinen Einfluß; ob der Sieg mit einer
Nafen- oder zehn Pferdelängen gewonnen wird, ift für die Höhe des zu zab-
lenden Preiſes ganz bedeutungslos.
Reiter und Beſitzer haben daher gar kein Intereſſe daran zu zeigen, was
ihre Pferde leiſten können, ſondern nur, daß ſie ſchneller laufen als die übrigen.
Sie haben ſogar ein doppeltes Intereſſe daran, daß die Pferde ihr volles
Können nicht zeigen. Einmal werden Pferde durch ein ſcharfes Rennen mehr
angeſtrengt und verlieren vielleicht die Ausſicht, bei ſpäͤteren Rennen zu ſiegen,
und dann werden Pferde, die ſich anderen als ſehr überlegen gezeigt haben,
bei Handicap⸗Rennen mit höherem Gewicht beſchwert, was ebenfalls die Aus⸗
ficht auf den Sieg herabſetzt. Der Pferdezüchter hat aber ein großes Intereſſe
daran, zu wiſſen, was ein für die Zucht in Ausſicht genommenes Pferd leiſten
kann, nicht, was es bei einem Rennen zufällig geleiſtet hat.
Es iſt alſo mindeſtens notwendig, daß bei der Prüfung eine gewiſſe, nicht
zu niedrig bemeſſene Geſchwindigkeit gezeigt wird. Bis vor Kurzem konnte man
dieſe in Deutſchland überhaupt nicht einwandfrei angeben, denn die Meſſung
der zur Zurücklegung der Strecke aufgewendeten Zeit iſt erſt ſeit dem Jahre 1903
vorgeſchrieben, obwohl der gründliche Kenner des Rennweſens, Major R. Henning
fie ſchon im Jahre 1887 gefordert und 1902 im Heft 24 der Sammlung
„Unfere Pferde“ (Stuttgart, Schidhardt und Ebner), begründet bat.
Bis zu welchem Grade die Nennen unter der Herrfhaft des geltenden
Rennreglements ausarten konnten, dafür bietet ein Vorfall, der fi) in Hamburg
(1887) beim Sagdrennen ereignete, ein geradezu Haffifches Beilpiell. Das
Nennen follte über 5600 Meter führen; „gerannt” wurde aber nur über 1600
Meter; bis dahin ritten die Jockeys abwechſelnd Schritt und Trab, hielten fogar,
weil Teiner die Hinderniffe als Erfter nehmen wollte Um foldden Unfug
fortan unmöglich zu madjen, beftimmte im folgenden Jahre das Reglement, daß
für das Durdlaufen der Strede für je 1000 Dieter höchftens drei Minuten
Zeit aufgewendet werden dürften. Das ift eine fo lächerlich geringe Forderung,
daß jeder Drofhhlengaul fie fpielend erfült. Ste erlaubte daher die Wieder-
holung ähnlicher Karrikaturen einer Nennleiftung; fo wurde no im Jahre 1903
beim Münchener Jagdrennen genau wie in Hamburg abmwechfelnd Schritt und
Trab geritten. Sogar beim Flachrennen Tonnten fih Reiter, deren Pferde ben
übrigen bedeutend überlegen waren, erlauben, ftredenmweife zu traben — ber
Gradiger Vollmond in dem über 2000 Meter führenden Prinz Hermann zu
Sachfen-Weimar-Rennen am 28. Auguft 1898. Diefe Beifpiele könnten nod)
beliebig vermehrt werden; fie genügen aber zu zeigen, was ba8 berrichende
Reglement geitattet.
Sur Reform der Pferderennen 109
Im Jahre 1908 wurde das Höcdftmak der für je 1000 Deter auf
zumendenden Zeit für Flachrennen von drei auf zwei Minuten berabgefegt. Die
bierburd) geforderte Geihmwindigfeit von 81/, m/sek. tft aud) noch lange feine
rennmäßige. Auf der Zrabrennbahn fit eine Gefhwindigkeit von 12 m/sek.
durchaus feine Seltenheit, und es tft auf der Nennbahn, wenn auch) vielleicht
nur einmal, eine mehr als doppelt jo hohe Gefchwindigfeit gezeigt worden
(Little Dut 1884 Derby Ehantilly 16,9 m/sek).
Abgejehen davon, daß die geforderte Gefchmwindigkeit viel zu niebrig ift,
hat bie geftellte Korderung nod) einen grundfägliden Mangel. Es iſt klar, daß
auf einer langen Strede Teine jo hohe Gefchwindigkeit gezeigt werden Tann,
wie auf einer furzen; darum muß fih die Forderung nad) ber Ränge ber Bahn
abftufen.
Sollen die Nennen wirklich ernfte Leiftungsprüfungen werden, fo muß eine
erheblich höhere, jedoch nad) der Länge der zu durdhlaufenden Strede abgeftufte
Sefhwindigkeit gefordert werben.
Major Henning bat, fußend auf der Rennftatiftil, genaue Vorfchläge über
bie für jede Strede zu fordernde Tleinfte Gefchwindigleit oder, was basfelbe
fagt, die zuläffig größte Zeit zufammengeftelt.e Er fordert 3. 3. für bie
ge
von 1000 Metern eine Miindeftgefhwindigleit von 15,3 m/sek.
” 2000 ” ”n ” n 14,8 ”
„ 800 „u E „ 143
Diefe Gefehwindigfeiten befagen, daß die Strede
von 1000 Meter in rund 1 Minute 5 Gefunden,
„20 4» un 2 „lu _
” 3000 n ” ” 3 n 30 n
zurüdgelegt werden müfjen, wenn anders die Preife gezahlt werden follen.
Srüher war man in Preußen mit den Anfprühen an die Gefchwinbigkeit
nicht fo beicheiden wie jebt. So war bi zum Jahre 1861 die hödjite zu-
läffige Zeit
für 1875 Meter 3 Minuten, die Mindeftgefehwindigfeit alfo 10,4 m/sek.
„ 150 „ 12 „ m " „ 104 „
Der Fehler war, daß die für die kürzere Strede geforderte Geſchwindigkeit
nicht höher war. Am Yahre 1862 wurde die zuläffige Zeit erhöht und zwar
fo, daß für die Strede von 1875 Meter die Zeit von 3 auf 4 Minuten, für
bie von 7500 Meter von 12 auf 15 Minuten beraufgefegt wurde; m. a. W.:
für die Gtrede von 1875 Meter wurde eine Mindeftgefchwindigfeit von
7,8 m/sek., für die von 7500 Meter eine folde von 81/, m/sek. geforbert.
Es ift gänzlich unverftändlih, daß für die kürzere Strede eine geringere Ge-
ſchwindigleit zugelaſſen wurde als für die längere. Diefe Anderung war alfo
eine Beriäjlehterung nach zwei Seiten hin. Bom ahre 1864 ab wurbe von
der Forderung einer Mindeftgefehwindigleit ganz abgefehen, bis ber oben er-
110 Zur Reform der Pferderennen —
wähnte Unfug in Hamburg 1887 zu ber lächerlichen Forderung von 5,5 m/sek.
führte, die erft 1908, aber nur für Flachrennen, auf 81/, m/sek. erhöht wurbe”).
Während bei Prüfungen von Kraftwagen, Luftichiffen, Ylugzeugen jehr
fttenge Forderungen an die Mindeftleiftungen geftellt werden, begnügt man fid)
bei Pferden, obwohl man fie nad) ihren Leiftungen zur Zucht auswählen will,
mit fo lächerlich Heinen Forderungen. Gelbft bei Mannfchaftsrennen fordert
man angemefjene, nad) der Bahnlänge richtig abgeftufte Gefchwindigfeiten. Auf
der Strede von 1000 Meter wird für die Olympia eine Mindeftgeichwindigleit
von 7,7 m/sek., auf der von 400 Meter eine foldde von 6,1 m/sek. verlangt.
Beide Gefhmwindigfeiten find höher als die den Pferden bei Hindernisrennen
abverlangte (5,5 m/sek.).
Erft die Forderung einer angemeffenen Gefchwindigleit kann die auf ben
Rennbahnen gezeigten Zerrbilder befeitigen, ohne jedoh alle Mikbräuhe aus-
zufchließen. Wird eine Minbeftgefchwindigleit gefordert, fo muß erftens bie
Länge der zu durdlaufenden Strede genau gemeffen und nicht, wie e8 nod
jest vielfach gefhteht, „annähernd“ angegeben werben, und zweitens ift bie
zur AZurüdlegung der Strede gebrauchte Zeit genau zu meflen. Aud das
findet biS jegt nur auf wenigen Bahnen ftatt. Erft, wenn man die gezeigte
Geihmindigkeit zahlenmäßig genau fennt, Tann man von einer gezeigten Leiftung
Ipreden, die aber leineswegs der Xeiftungsfähigfeit des Pferdes zu ent|precdden
braudt und jedenfalls dann nicht entfpricät, wenn der Sieger „verhalten“ Durch8
Ziel gebt.
Daß der Sieger feine wahre Leiftungsfähigfeit verfchleiert, indem er ver-
balten dur) das Biel geht, kann durch Abitufung der Preife nach der Höhe
der gezeigten Leitung verhindert werben. Nennen zwei Pferde von gleicher Güte,
jo it eg Sade des Zufalls, ob das eine oder da8 andere um eine Kopflänge
zuerft dur das Ziel geht. Sit das eine aber bedeutend überlegen, fo Tann
der Steger den zweiten um viele Pferdelängen fhlagen. Dazu bat er aber
gar Feine Beranlafjung; denn die Höhe des MPreifes fteht fon vor dem
Nennen feft.
Sept man die Preife aber erjt nad dem Rennen unter Berädfichtigung
der gezeigten Leiftung feft, fo erreiht man dadurch nicht nur eine gerechte
Berteilung, fondern veranlaßt auch die Reiter die wahre Leiftungsfähigteit
ihrer Pferde zu zeigen. Es ift nur nötig, die Höhe der Preife nach der Größe
*) Während des Drudes ift, wie der Berliner Lofalanzeiger meldet, eine Anderung
ded Mennreglement3 eingetreten und bei allen Flachrennen, fowie bei Sindernisrennen
unter 6000 m die Höchftzeit für je 1000 m der zu durdjlaufenden Strede auf 11/, Minuten
feftgefegt worden, wad einer Mindeftgefhtwindigleit von 11,1 m/sek. entipridt. Für
Hindernidrennen, die über mindeflend 6000 m führen, wird eine Geihwindigfeit von
mindeftend 81/, m/sek. gefordert. BDiefe Underungen tönnen, jo erfreulich fie an fi find,
nur alß ein erfter Schritt für weitere Neformen angefehen werden. 3 ift dadurch grund»
fäglih die bis dahin ftet? geleugnete Rotwendigfeit einer Meform be Nennreglements
augeftanden.
Sur Reform der Pferderennen 111
der Abftände, mit der die Pferde dur das Ziel gehen, abzuftufen, 3. B. zu
beftimmen, daß für je !/, Meter (Kopflänge) Abftand vom eriten Pferde ber
Preis um je Y/ıoo de8 Gefamtpreifes herabgefett wird. in Beilpiel wird bie
Sade Har madhen. Für ein Rennen fei eine Summe von 125000 Marl
verfügbar, fo würde nad) dem jeht beftehenden Brauch der 1. Preis vielleicht
100000, der 2. 20000, der 3. 5000 Darf betragen. Kommen die Pferde
mit Abftänden von !/, Pferdelänge (1'/, Meter) und 4 Pferdelängen (12 Dieter)
Binter dem erften ein, fo müßte nad) dem hier gemachten Vorfchlage das zweite
Pferd 3750, das dritte 30000 Mark weniger als das erfte erhalten.
Der erite Preis würde 52916?/, Mark betragen,
„ weite „ z 49166, „
dritte „u 22916, „
Zufammen 125000 Darf.
Die Adftufung ift beliebig gewählt; man Lönnte auch ftatt 1/,oo feftiegen
ao oder 1/0 uw. |
Eine foldhe Verteilung der Preife nach der Höhe der Leiftung tft gerecht
und nötigt die Reiter, aus den Pferden herauszubolen, was in ihnen ftedt
und fo ihre wahre Leiftungsfähigleit zu zeigen. Zu dem Zmwed muß das
Reitbonorar einen prozentualen Zeil des errittenen Gewinns bilden. Jeder
Reiter wird ih dann beitreben, dem andern möglichft weit vorzufommen,
bzw. dicht zu folgen. So wird nit nur die innezuhaltende KHöchitzeit,
fondern aud jedes im Felde laufende Pferd ein treibender Faktor.
&3 ift Teineswegs ausgeihloffen, daß mehr als drei, ja daß fämtliche
Pferde einen Preis erhalten, wenn fie nur die Höchitzeit nicht überfchreiten
und nicht zu weit hinter dem Sieger dur) das Ziel gehen. AndrerfeitS Tann
aber aud ein Pferd den Preis allein davon tragen, wenn die anderen ftarten-
den Pferde viel fchledhter find. Zrifft 3. 3. das zweite Pferd 50 Meter
Binter dem erften ein, jo erhält das erite Pferd den ganzen Preis, alle anderen
geben leer aus, au) wenn die Mindeftgefchwindigkeit überjchritten fein follte.
Mit dem Wettrennen ift der Zotalifator, diefe zum Spiel verführende
Rechenmaſchine, auf das engfte verbunden. Bon interejfierter Seite wird be»
bauptet, ohne Totalifator feten Pferderennen und fomit aud Vollblutzudht
unmöglid. Das ift eine unbewiefene und unbeweisbare Behauptung. Abge-
fehen davon, daß England den Totalifator nicht Tennt, gab e3 jhon vor dem
Sabre 1875, in dem ber Zotalifator fi) einbürgerte, eine deutſche Vollblutzucht.
Seitdem hat die Zahl der Nennpläge, der Nennen und der NRennpferde fehr
zugenommen; ob aber aud) die Qualität der Pferde, das Tann niemand be-
weifen, weil die Gefchwindiglett bei den Nennen faft nie gemefjen tft und jelbfi
wenn fie gemeflen wäre, nur über die gezeigte Leiftung, nicht aber über bie
Leiftungsfähigfeit der Pferde Aufihluß gibt.
Der ZTotalifator ift das denkbar größte Hafardfpiel, fchlimmer als die
Spiele in den feit 1872 gefchlojfenen Spielfälen der deutfhen Badeorte. Schon
112 Sur Reform der Pferderennen
der Ausgang der Rennen hängt fo vom Zufall ab, daß der Leiter des Trakehner
Geftüts, Landftallmeifter v. YBurgsborff 1827 fagen konnte: „Das englifche
Wettrennen ift das größte Hafard der Welt und bat nur als folches Anterefje.“
Damals gab es aber noch feinen Totaltfator, ber die Auswücdhle im Nennwejen
fehr befördert. Kann man fhon das in hohem Grade von Zufall abhängige
Nennen ein Hafardfpiel nennen, fo gilt das in weit höherem Make vom
ZTotalifator, weil bier die Höhe des Gewinns nicht, wie bei jedem anderen
Spiel befannt ift, fondern wefentlih davon abhängt, wie die Pferde von dem.
am Xotalifator fegenden Publitum bewertet wurden. Siegt ein aus irgend»
einem Grunde vom Bublitum niedrig eingejchägtes Pferd, fo werden ungeheure,
ein Vermögen darftellende Gewinne gezahlt. So wurde 3. 3. bei dem Nennen
in Hoppegarten am 15. Auguft 1915, wo in diefem Kriege der Totalifator zum
erften Male wieder zugelafien war, für die Wette auf Sieg mehr al3 ber
72fache, für die Plagwette mehr al8 der 172fadhe Einfab gezahlt. Das ift
aber teineswegs der böchfte, überhaupt am Xotalifator gezahlte Gewinn. Bei
einem Zrabrennen in Weißenfee am 13. Dftober 1899 wurde das 391, in
Maifon Lafitte am 28. September 1910 fogar das 667 fache des Einfages als
Gewinn ausgezahlt. Solde Gewinne überfteigen den günftigftenfals am
Noulette erreichbaren um das zehn-, ja faſt zwanzigfache. In dieſen ſchwindel⸗
haften Gewinnen liegt der große Anreiz zum Spiel, dem große Maffen unferes
Bolles gerade aus den unteren Ständen unterliegen. Welch fchwindelhafte
Höhe der Umfag am Zotalifator erreidht, davon haben wohl nur wenige eine
Borftelung.. Im Jahre 1913 find nicht weniger als 78 000 000 Marl um-
gefeht und an einem Nenntage des Kriegsjahres in Hoppegarten über 700 000 M.
Daß der Totalifator in fo fhwerer Zeit in Deutfchland zugelafien wurbe, ift
im bödhften Grade bedauerli und gereicht uns wahrlich nicht zur Ehre.
Der Totalifator trägt aber aud) in hohem Grade dazu bei, den Wert
der Nennen als Leiftungspräfung noch mehr berabzufehen. 8 liegt die Ber-
führung vor, das unmiffende Publilum irrezuführen, indem zum Beifpiel minder-
wertige Pferde als Favoriten auspofaunt, hervorragende Öffentli als frank
oder nicht bdisponiert erflärt, gute Pferde verheimlicht werden. Die Ein-
gemweihten ziehen daraus am Xotalifator ihren Nugen.
Daß Seine Majeftät von der verberblidden Wirkung des Totalifators durch⸗
drungen tft, geht daraus hervor, daß er fhon im Jahre 1894 den Offizieren ber
Armee und Marine — leider nur ihnen — das Spiel am Xotalifator ver-
boten bat.
Am beiten wäre e8, den Zotalifator ganz zu verbieten. Yyreilih bringt
er 162/, v. 9. Steuern ein, im Jahre 1913 aljo allein etwa 18 Millionen,
wovon die Hälfte den Nennvereinen zufließt. Läßt fich diefer für die Hebung
der Pferdezucht beftimmte Betrag nicht anderweitig aufbringen, fo follte man
den Xotalifator nur bei joldden Rennen zulafien, bei denen eine wirflidh renn-
mäßige Geidhwindigleit gefordert wird und die Abftufung der Preife nad) der
Sur Reform der Pferderennen 113
Höhe der Leiftung ftattfindet. it diefen beiden Bedingungen genügt, ver-
mindert fi die Gefahr des Zotalifators, da dann die Nennen reeller durdh-
geführt werden möäflen.
Man wird einwenden, daß es fehr fchmwer fei, die Abftände der Pferde
richtig zu beftimmen. Das trifft aber durchaus nicht zu. In der Moment-
pbotographie und der photographifchen Mefjung befigen wir ein mit größter
Zuverfihtlichleit arbeitendes Mittel.
Daß die nad) engliidem Mufter abgehaltenen Nennen für unfere Zucht
nit den ihnen nachgerühmten Wert befiten, daß fie feine erniten Prüfungen,
fondern nur Schauftellungen find, dürfte nach) dem Gefagten einleuchten. Man
wird auf die vorzügliche Nemontierung der deutfhen Kavallerie und das her-
vorragende englifhe Vollblut verweifen, die nur den Nennen zu danlen jelen.
Das eben beftreite ich.
Gewik find die guten Eigenichaften des deutichen Kavalleriepferdes ber
Beredelung der Raffe dur) Vollblut zu danlen; aber das beutfche, d. b. von
deutihen Eltern im Inlande geborene Volblutpferd ift dabei nur in geringem
Stade beteiligt... Bon den im Sabre 1914 in die Geftüte neu eingeftellten
32 Hengiten find nur drei von deutfchen Müttern, fünf von fremden Eltern im
Königlihen Hauptgeftüt Gradig, dagen 24 (alfo 75 v. 9.) im Auslande ge-
zogen. Wer darin eine erfreulide Entwidelung der deutfchen Vollblutzucht
fieht, legt eine wirklich beneidenswerte Anfpruchslofigkeit an den Tag, befonders
wenn man berüdfichtigt, daß im Reihe und den Rennvereinen aus dem Tota-
lifator in den Jahren 1906 biß 1912 einfchließlih die Summe von je über
281/, Million zugefloffen if. ZTatfache ift, daß jährlich ehr viele Fohlen in
England und Franfrei von Rennftallbefigern gelauft und in Deutfchland ein-
geführt werden und bei den Nennen befjer abjchneiden als die in Deutichland
gezogenen. Das Einftellen folder Ausländer in die deutſchen Geſtüte kann
man dod wahrlich nicht a8 eine erfreuliche Entwidelung unferer Pferdezudt
bezeichnen.
Die guten Eigenfchaften des englifhen VBolbluts find feineswegs die Folgen
der Rennen — fonft hätten fie fih auch bei den nach demjelben Diufter „ge-
prüften” deutfchen Pferden entmwideln müffen — fondern vielmehr Folgen der
die Zucht befonders fördernden Verhältniffe: ausgedehnte gute Weiden und
günftiges Klima.
Da wir uns in der Pferdezucht möglicit unabhängig vom Auslande machen
müffen, fo ift eine ernjte Prüfung der für die Zucht in Ausficht genommenen Pferde
dringend geboten. Wo in aller Welt fommt es fonft vor, daß die Prüflinge
— mil bier fagen die Nennftallbefiter — felbit die für da8 Beftehen der
Prüfung geltenden Bedingungen aufftellen? Überall fonft werben beftimmte
Mindeftleiftungen verlangt; nur bei den Pferderennen ift davon abgejehen; bier
Iönnen BPreife für Leiftungen gezahlt werben, die alles andere als Nennletftungen
find, wenn nur die der anderen Pferde noch jchlechter find. Wir müfjen daher
®renzboten I 1916 8
114 Sur Reform der Pferderennen
die Nennen fo umgeftalten, daß aus Schauftellungen ernfte Leiftungsprüfungen
werden.
Wil man eine ernfte Prüfung der Pferde durchführen, fo muß der Zufall,
d. h. alles, wa8 außer der Qualität der Pferde Einfluß auf den Ausgang des
Nennen haben Tann, nad) Möglichkeit ausgeichaltet werden. ES ift Iange nicht
befannt genug, welden Einfluß die Gefchidlichleit der Yodeys beim Nennen
bat. Der allgemein als erfte Autorität anerkannte Landftallmeifter Graf Lehn-
dorff erflärte im Jahre 1880, daß Osborne, der Reiter des Siegers im Union-
rennen auf jedem ber drei als erjte eintommenden Pferde hätte gewinnen
fönnen, wahrjdeinlid aber auf dem als dritten eingelommenen geflegt haben
würde. Damit ift doch zweifellos zugeftanden, daß bier eine einwandfreie
Brüfung der Pferde nicht ftattgefunden hat; die Gewandtheit des Fodeys, nicht
die Gefchmwindigkeit des Pferdes bat den Sieg entfehieden. Die Rennftallbefiger
wiflen das aud) fehr genau und zahlen daher den odeygg — jungen Leuten
von 18 bis 30 Jahren, namentlid wenn e8 Engländer find — Gehälter,
welche die eines Minifters oft weit Hinter fi) laffen und an die von Bank.
direftoren beranreihen. Natürlich können nur fehr reiche Leute foldhe Gehälter
zahlen, und das ift einer der Gründe, weshalb auf den Rennbahnen die großen
Mennftälle filh den Fleinen jehr überlegen zeigen. Man bat daher vorgefchlagen,
die unter fo hervorragenden Neitern laufenden Pferde mit einem höheren Ge
wicht zu belaften. Dagegen fträuben fi aber die Rennftallbefiger, obwohl
ihon jest unter gemwiflen Bedingungen unerfahrenen Reitern eine Gemwichts-
erleihterung zugebilligt wird.
Daß die Pferderennen in ihrer jegigen Berfaffung gründlicher Reformen
bedürfen, um ernfte Leiftungsprüfungen zu werden, gebt aus dem Gefagten
wohl Mar hervor. Gegen die gemadten Vorjläge können jadhlicde Einwände
faum vorgebradht werden. Die Reihe der nötigen Änderungen ift damit jebod)
durhaus nicht erfchöpft; es handelte fi) hier nur darum zu zeigen, in welchem
Make die jetigen Nennen unter dem Einfluß des Zufalls ftehen und wie Diefer
eingefchränkt werben könnte. Erſt wenn das gejchehen ift, fan von einer
wirflihen Prüfung dur) das Nennen die Rede fein; vielleicht gelingt e8 dann
durch forgfältige Auswahl der Zuchittiere das deutjhe Vollblut fo zu heben,
daß man mit Stolz fagen darf: „Made in Germany“.
Kriegsliteratur
Don Dr. jur. Kurt &d. Jmberg
V.
Amerika
und Broſchüren betrifft, während die Zeitungen und Zeitſchriften
im Laufe des Weltkrieges oft genug Gelegenbeit hatten, fih mit
den amerifanifhen Nepublifen, insbefondere mit dem größten
der noch neutralen Staaten, den Vereinigten Staaten von Amerika, zu befchäftigen.
Die bei weitem größte Beachtung ift dem zur Genüge befannten LZufitania-
Falle gefchentt worden, und über dieje deutich-amerilanifche Angelegenheit find
aud) einige, zum Zeil recht brauchbare Schriften erfchienen, von denen wir in
diefer Überfiht jedoch nur zwei Arbeiten kurz erwähnen wollen, während eine
genauere Überfiht über die Literatur diefes völferrechtlihen Falles einer
ipäteren Beiprechung vorbehalten bleiben fol.
An eriter Stelle von den Büchern, die bisher über Amerila erfchienen
find, ift da8 Buch des bekannten Piychologen an der Harvard-Univerfität,
Hugo Münfterberg, zu nennen. Diefer tapfere Verfechter des Deutichtums in
den ZBereinigten Staaten, defjen vor einigen Jahren in Berlin erjchienenes
Werl „Die Amerikaner“ in weiteften reifen mohlverdiente Verbreitung gefunden
hat, veröffentlicht jet feine Tagebuchblätter, die er während der erjten acht
Kriegsmonate gejchrieben hat. Der erfte Teil diefes Buches erſchien im
September 1914 in New Hork unter den Titel „The War and America“,
und ihm folgte im April 1915 als Fortfegung „The Peace and America“.
Unter diefen Titeln ging da8 Buch aud in die deutfhe Tauchnig-Kolleltion
über, die eine zweibändige Ausgabe des Münfterberg’ihen Werkes veröffentlichte.
In danlenswerter Weife ijt alsdann im Verlage von Yohann Ambrofius Barth
in Zeipzig aud) eine deuifche Ausgabe erjchienen, fodaß zu hoffen fteht, daß
diefe beachtenswerten Aufzeichnungen au in Dentfchland einen weiten Lefer-
freiS finden werden, wenn der Lefer fi) auch ftetS vor Augen halten muß,
daß diefe Zagebuchblätter in erfter Linie für das amerilantfhe Publikum
beftimmt gewejen find.
Mit großer Klarheit und Schärfe behandelt Münfterberg in diefem Buche
den Standpunlt und die Entftehung des Weltkrieges für das amerilanifche
gr
116 Kriegsliteratur
— e— —
Volk. Ruhig und ſachlich tritt der berühmte Gelehrte für die Wahrheit ein,
die in der zum größten Teile deutſchfeindlichen Preſſe Amerikas oft ganz ſinnlos
entſtellt worden iſt. Die Kraft, mit der der Verfaſſer ſeine Anſicht vertritt,
und die gewichtigen Gründe, auf die er ſeine Überzeugung ſtützt, werden auch
bei den von Reuter und Havas irregeleiteten Amerikanern, wenigſtens bei den
nicht ganz mit Blindheit geſchlagenen, ihren Eindruck nicht verfehlen. In
intereſſanter Form ſchildert Münſterberg die Eindrücke, die das große Kriegs⸗
drama in der Volksſeele Amerikas hervorrief, beſchreibt er die heftigen, wenn
auch unblutigen Kämpfe, die unſere Volksgenoſſen jenſeits des Ozeans gegen
die aus England und Frankreich in reichlichem Maße importierten Lügen für
die deutſche Sache auszufechten hatten und auch heute noch zu beſtehen
en.
Die reiche Fülle des Stoffes, die in dieſem Buche verarbeitet iſt, verbietet
uns, in dieſem engbegrenzten Raume näher auf die Einzelheiten einzugehen
und einen auch noch ſo kurzen Abriß ſeines Inhaltes zu geben. Bemerlt ſei
nur, daß Münſterberg das Verhalten der Amerikaner aufs ſchärfſte tadelt, die
Sonntags für den Frieden beten und in den ſechs Tagen der Woche Munition
und anderes Kriegsmaterial an die Ententemächte liefern, wodurch der Krieg
nur unnüb in die Länge gezogen wird. Unummunden gefteht er ein, „daß
das amerilanifhe Voll feine gewaltige Aufgabe, der wahrhaft unparteiifhe
Schiedsrichter der Welt zu fein, Häglih vernadjläffigt hat“, zugunften einiger
weniger, die aus den Sriegsmateriallieferungen ihre Zajhen mit englifchem
und franzöftlihem Gelde füllen, von dem fie feinesmegs das befannte Wort
Veipaftans behaupten Tönnen: „non olet“. Mit voller Schärfe fieht der
Berfaffer au die Gefahren, die für die Vereinigten Staaten von Amerifa
durch die Teilnahme Japans am Kriege am Horizont beraufziehen, und auf
die wir bereit8 an anderer Stelle (vergleiche „Die Grenzboten”, 1915, Heft 15)
des Ausführlidieren bingewiejen haben. Auch England wird fidh feines gelben
Bundesbruders nicht allzulange mehr erfreuen; denn „die Freundihaft von
Sapan und England wird ebenjo fehnel fi in Feindichaft verwandeln, wenn
die Zeit gefommen ift, die Engländer aus Andien zu weifen“, wie fich die
Feindfhaft zwiichen ARupkland und Japan in Brüderfhaft verwandelte, als fidy-
die Gelegenheit bot, Aber unjer Pachtgebiet im fernen Dften berzufallen.
Nicht weniger interefjant als das foeben genannte Buch find die Briefe,
die der frühere amerifanifche Konful in Aachen, Robert %. Thompfon — wie
man aus dem Namen fieht, fein ſogenannter „Bindeſtrich-Amerikaner!“ —
unter dem Zitel „Der deutfchrenglifche Krieg im Urteil eines Amerilaners” im
Verlage von Karl Eurtius (Berlin) herausgegeben hat. Diefe Briefe ftammen
aus den eriten Kriegsmonaten und find an den amerilanijchen Staatsjelretär
gerichtet. Nachdem Thompfon nolens volens den amerifanifhen Staatsdienft
verlaffen hatte, veröffentlichte er im Yebruar 1915 diefe Briefe zuerit in der
Chicagoer „Zribune”.
Kriesgsliteratur 117
Mit großem ntereffe wird auch der deutiche Lefer diefe Briefe Iefen, bie
aus Gründen der Gerechtigkeit gefchrieben find, um mit einer Menge Über⸗
treibungen und Irrtümern aufzuräumen, bie die öffentliche Meinung im Lande
der Streifen und Sterne irregeleitet haben. Auf Grund eigener Erfahrungen,
die er während feiner amtlichen Tätigkeit in reihem Make fammeln Tonnte,
erhebt der Verfaffer Proteft gegen die von der gegnerifchen Lügenpreffe ver-
breiteten Märchen von der Sraufamleit und Trunlfuchht des beutfchen Heeres,
und widerjpriht er der Verleumdung Deutichlande, e8 habe die Neutralität
Belgiens verlegt. Am fünften Briefe befaßt er fih mit dem fo oft zitierten
„Milittarismus” und fommt am Schluß feiner Unterfuhung zu dem Ergebnis,
daß Militarismus, gleichviel ob zu Lande oder zur See, Militarismus bleibe,
und daß es der engliihe Militarismus zur See fei, der den DBereinigten
Staaten am meilten Schaden zufüge, da er den amerllanifchen Erporthandel
mit Deutfhland, Ufterreih) und Rußland völig Iahmgelegt habe. Beſonders
hervorgehoben zu werden verdient ferner, daß Thompfon die grunderhaltenden
deutfhen Staatsprinzipten richtig erfannt hat, und daß er frei zugibt, daß in
Deutihland mit feiner nationalen politifden Einheit und feinen intellektuellen
fozialen Erfolgen die Vorbedingungen zu einer Weltmacht gegeben find.
Mer diefe Briefe Thompfons aufmerlfam durchlieft, wird fih nicht ver-
beblen Lönnen einzugeftehen, daß der Berfaffer offen und ehrlich feine Meinung
fagt, daß er mit offenen Augen und Harem Berjtändnis die Verhältnifie im
Deutihland ftudiert hat, und vor allem den Mut gehabt hat, feine wahre
Überzeugung auch auszufpredhen. Mit Genugtuung erfüllt e$ einen, wenn man
diefe Briefe gelefen hat, und man freut fi, daß es auch unter den „echten“
Amerilanern, deren Urteil — nad englifher Auffaffung — durch Teinen
„Bindeftrih” getrübt ift, Leute gibt, die der Wahrheit die Ehre zu geben
wagen und auch Deutijland Gerechtigkeit widerfahren Yafien.
Unter dem Zitel „Nordamerifa und Deutfchland“ (Verlag von Karl
Gurtius, Berlin) behandelt der bekannte Berliner Univerfitätsprofeffor Eduard
Meyer, deflen hervorragendes Buch über England bereit früher an diefer
Stelle ausführlich beiprodden wurde, das Verhältnis der beiden Weltmächte
zueinander. Meyer unterfuht die Gründe, weshalb das amertlanifche Volk,
als Sanzes genommen, wenn aud) vielleicht nicht geradezu deutichfeindlicdh, fo
doch ftarl ententefreundlich ift.
Wie überall in der Welt, jo gebührt au) für die Stimmung in Amerika
der englifch - franzöfifchen Lügenpreffie — wenn man fo fagen darf — ein
großes Verdienft, obgleich die Lügennadhrichten, wie Dieyer hervorhebt, nicht bie
Urfache, fondern nur ein Symptom der Gefinnung der Amerikaner find. Die
eigentliche Urfache diefer Gefinnung liegt viel tiefer; mannigfache Gründe und
Faltoren haben dazu beigetragen, diefe deutichfeindliche Stimmung im amerifa-
ntihen Bolfe aufleimen zu lafien. An dieſer Tatſache iſt leider nicht viel
zu ändern. Durch unfere Leiftungen und Erfolge im jetigen Striege vermögen wir
118 Kriegsliteratur
— — — - - — —
den Amerilanern wohl zu imponieren, wir fönnen fie durch unſere Erfolge zwingen,
uns zu achten; „aber mehr können wir nicht erreichen, und follen und dürfen
wir nicht verfuchen“, denn bie Gefinnung der Amerilaner gegen uns wird ftet8
die gleiche bleiben, vielleicht wird die Ablehnung gerade durd) unfere Erfolge in der
Drganifation hinter der Front und draußen auf den Schlacdtfeldern noch ge-
fteigert werden. Die Lehren, die wir aus diefem Verhalten ziehen follten, faßt
Meyer dahin zufammen: „Wir müfjen und follen ale Berfudhe aufgeben, bie
Anglo-Amerifaner zu belehren und für uns zu gewinnen. Das Liebeswerben,
das wir fo lange unermüdlich betrieben haben, muß aufhören, jest und in
Zulunft; e8 bat uns nur gefhadet, weil e8 uns in den Augen der Amerilaner
als inferior und zugleich als bilfsbedfrftig erfcheinen ließ, geglaubt hat man
ung do nicht, fondern nur um fo fhlimmere Abfichten dahinter gemittert.
Höflich follen und wollen wir bleiben; aber je vornehmer und kühler wir auf
treten, um fo befjer und mirfungspoller ift es“. Diefe Worte follen wir uns
für unfer Verhalten gegen alles Ausland merken und fie beberzigen, auch wenn
wieder normale Zeiten in die Welt zurüdgelehtt fein werden.
Schließlich fei noch bemerkt, daß Meyer feinem Buche einen Auffag von
Brofefior Th. &. Hale aus New Norl, der eine Charalterljtit der englifchen
PVrefie enthält, jowie ein Urteil über Deutfehland aus der Feder des Drforder
Profeſſors Conybeare beigefügt hat.
Diefelde Mahnung, „alles zu vermeiden, was wie eine Bitte um ameri-
fanifche Hilfe ausfieht”, die Meyer als erften Grundfat in der Haltung Deutich-
lands Amerila gegenüber aufgeftelt bat, wird aud) von Nudolf Leonhard in
feiner Rede „Amerila während des Weltkrieges“ angelproden. Dieje Rede, die
am 29. Januar 1915 in Berlin gehalten wurde, tft ald 16. „Deutfche Nede
in fchwerer Zeit” in Carl Heymanns Verlag (Berlin) erfchienen. Leonhard
führt bier u. a. aus, daß uns das freimütige Eingeftändnis, die belgifhe Neu-
tralität verlegt zu haben, in der Neuen Welt außerordentlich gefchadet bat;
„denn das Unredt darf nad dem ftrengen Sittenfoder auch im Notfalle nicht
anders begangen werden al man Whisty trinkt, nämlich unter allen Umftänden
nur heimlich“.
An Meineren Schriften wäre zunäcft ein Aufruf des Heidelberger Hiftorifers
Hermann Dnden an die Deutfhamerilaner zu nennen. Syn Heft 6 der von
Ernft äh bei der Deutihen DVerlagsanftalt in Stuttgart herausgegebenen
Sammlung „Der deutfhe Krieg” richtet Dnden an unfere Vollsgenoflen jenfeits
des Dzeand den Mahnruf, in diefen ernften Zeiten ihr altes Vaterland nicht
zu vergefien. Wenn fie auch nicht mit den Waffen die Scholle ihrer Vorväter
verteidigen könnten, fo follten fie do nad Kräften aufflärend und zum Wohle
und Nuben Deutihhlands mit friedlichen Waffen in ihrer neuen Heimat für ihr
altes Vaterland Tämpfen. — Mit Stolz und Genugtuung mag bier feftgeftellt
werben, daß die Deutih-Amerilaner — von ganz verfehwindenden Ausnahmen
abgefehen — dies au, fo weit e3 in ihren Kräften ftand, getan haben.
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Kriegsliteratur 119
rn nn HIERBEI DRITT ISSUE
So verfudt 3. B. Profefjor Karl Anory aus Nem York in einer Schrift
„Die Deutichfeindlichleit Amerifas“ zu erflären. Mit vollem Necht hebt der
Berfafler hervor, daß die Teutfhen drüben herzlich willlommen waren, „fo
lange der arme deutfche Einwanderer zufrieden war, die niedrigften Arbeiten
willig und billig zu verrichten und fi} außerdem an Wahltagen als Stimmoteh
benügen zu laffen”. Sobald er fi jedod durdy Fleiß und Sparfamfeit empor-
gearbeitet hatie, und auf Grund feiner Leiftungen die entſprechenden Anſprüche
zu erheben wagte, wurde er von den Amerilanern mit Neid, Miktrauen und
Haß betrachtet. Bezeichnend tft e8, daß die tätige Mithilfe der Deutfchen bei
dem Aufbau der Vereinigten Staaten felbft von ben bebeutendften Gejchichts-
ſchreibern Amerikas garnicht oder nur nebenbei erwähnt wird.
So interefjant und fcharffinnig diefe Brofhüre fonft gefchrieben ijt, fo
berührt es faft fomifch, wenn der Verfaffer auf Seite 39ff. einen mit „B. 4.
Haufe“ unterfchriebenen Brief an die „New Norker Staatszeitung” für ernft
nimmt, durch den Knork zu bemweifen fucht, „daß ber rechte Amerilaner gegen
eine fcheinbare Beleidigung feines englifhen Better noch empfindlicher ift, als
John Bull felber”. Wenn man fi) den Namen des Briefichreibers, der
feinbar Proteft gegen die Aufführung von „Zriftan und Solde” erhebt,
genauer anfieht, hinter dem B und A die Punkte fortläßt und das Ganze in
einem Wort fchreibt, fo erkennt man, daß fi) der Verfafjer von dem „Banaufen“
elendiglich ins Bodshorn hat jagen laffen. — XTrob diefes Kleinen, verzeihlichen
Frrtums enthält die Knorbfhhe Schrift manches Beachtenswerte. |
AS Ausdrud des Beitrebens in Amerika aufllärend zu wirfen, mag
die englifhe Überfegung eines Heinen Büchleins, das Francis Delaifi im
Jahre 1911 unter dem Titel „La guerre qui vient* in Paris im Berlage
der „Guerre sociale“ veröffentlicht bat, gelten. Die Überfegung erfchien
bei Small, Maynard und Company in Bofton und trägt den nicht
ganz genauen Titel „The inevitable war“. Der ungenannte Überfeter recht»
fertigt diefe Heine Abweichung vom Original damit, daß er auf die von Delaffi
am Ende feiner Schrift getane Außerung, der Krieg fei unvermeidlich, anfpielt.
Mögen au nit alle von Delaifi in diefem Buche gemachten Prophe-
zeiungen im jebigen Kriege eingetroffen fein, mag er 3. ®., wie der Überfeper
im Borwort betont, die finanzielle Stärke Dentihlands völlig falfch eingejhäßt
haben, fo find die von Delaift bier niedergelegten Gedanlen gerade heute von
großem Interefie. Der Verfafier jah die europäifche Krifis lommen und fürchtete
vor allem die englifche Freundichaft für Frankreich, weil er einfah, daß Ietteres
im Kriegsfalle die Kaftanien für feinen Verbündeten aus dem euer holen
mußte. Die Meine intereffante Schrift, die in franzöflicder und englifcher Sprache
nebeneinander gedruckt erjcheint, dürfte jenfeits des Dzeans großes Interefje und
einen weiten Leferfreis finden.
Ein andere® Bud, das in Amerila gute Dienfte zu leiften ver-
mag, ftammt aus der eder des früheren amerilanifhen Senators Albert
120 Kriegsliteratur
J. Beveridge: „What is back of the war“ (The Bobbs-Menill Company,
Indianapolis).
Beveridge weilte Anfang 1915 längere Zeit in Europa, er befuchte Deuticdh-
land, Frankreich und England, um in diefen Staaten die Lage während bes
Krieges zu ftudieren, und er bat nach feiner Rüdklehr in diefem Buche feine
Eindrücke niedergelegt, die zu fammeln er in Europa reichlich Gelegenheit gehabt
bat. m erfter Linie hat es fich der Verfafler angelegen fein laffen, zu ſehen,
„what is back of the war“, d. h. wie es hinter der Front, im Innern der
Irtegführenden Staaten ausfieft. Gemwiß war er vorübergehend auch an ber
Front, in den Schügengräben und in ben Artillerieftellungen, feine Hauptaufgabe
blieb jedoch ftetS, die Anfichten und Stimmungen im Lande Tennen zu lernen.
Dies glaubte er am beften in der Weife zu erreichen, indem er — nad) bem
befannten Dtufter amerilanifcher Yournaliften — eine Anzahl berporragender
Bertreter der verjähtebenften Berufe „interviewte”, wenn man biefes Fremdwort
noch gebrauchen darf, und deren Äußerungen in einer Reihe von Kapiteln
niederlegte. So hatte Beveridge in Deutihland Unterrebungen mit Erzellenz
dv. Harnad, Generaldirektor Ballin, Dr. Walter Rathenau, mit „dem Führer
der deutfhen Sozialdemokratie” Dr. Sübelum und bem 2. GSeltetär des Snter-
nationalen Gewerlfchaftsverbandes. Bon größerem Sfnterefie für uns find jedoch
die Unterrebungen mit Staatgmännern, Gelehrten, Smduftriellen und Yinanz-
leuten in Yranfreih und England, die Beveridge in den Kapiteln 11, 12, 14
und 15 wiedergibt. In Frankreich find e8 die Gründe für den Ausbrud) des
Weltkrieges, Die in erfter Linie den Gefprächsftoff bildeten. Ein ungenannter
franzöfifder Staatsmann Hält durch das immer mächtiger werdende Deutfchland
das europäifhe Gleichgewicht für bedroht, das zu erhalten die Hauptaufgabe
der übrigen Staaten Europas fein müffe, während Gabriel Hanotaur den Ur⸗
Iprung des Strieges fieht „In dem großen Unrecht, das Deutſchland mit der
gewaltfamen Fortnahme von Elfah-Lothringen beging“. Weit törichter Hingt
der Grund, den der franzöflihe Philofoph Henri Bergfon angibt, der bie
Wurzeln des Weltkrieges in der „aggreifiven Bolitit Deutichlands” gefunden
zu haben glaubt. Weniger bebeutend find die Äußerungen des Inhabers der
Schneider-Creufot-Werfe und eines franzöflihen Friedensapofteld, der feinen
Kamen vorfichtigerweife verfchweigt, und zwar mit Necht; demn er bezeichnet
al8 den wahren Beginn des Krieges die Haager Yriedenslonferenz, auf der
Deutfhland die von den Übrigen Großmäcdhten vorgeichlagene obligatorijche
Schiedsgerichtsbarkeit zu Fall brachte.
Doch wir Tönnen nicht näher auf diefe Äußerungen eingehen, nod) wollen
wir an diefer Stelle verfuchen, fie zu widerlegen, obwohl es Teinesfalls fhwer
fallen würde. @8 fei nur noch furz erwähnt, daß die Engländer, mit denen
Beveridge fpradh, die verichiedenften Gründe für den Ausbruch des Weltkrieges
und für das Eingreifen Englands insbefondere angaben, die Berlehung ber
belgifhen Neutralität, die Furt vor der Vernichtung Frankreichs, das von
Kriegsliteratur 121
— — — — nn — — — — — — — —
Grey verheimlichte Bündnis mit Frankreich uſw. Jedenfalls erfieht der Leſer
aus dieſen Äußerungen, daß man ſich in Frankreich und England nicht einmal
über diefe Fragen einig fft.
Mit dem wictigiten Problem, das während des Krieges zwifchen Deutich-
land und den Vereinigten Staaten aufgetaucht ift, befchäftigt fi Hans Wehberg
im 11. Heft der „Sriegsberidte aus dem nduftriebezirt" (Verlag von
©. D. Baededer in Efjen): „Die amerilanifhen Waffen-e und Munitions-
lieferungen an Deutfchlands Gegner”.
Wehberg jagt, daß bisher allerdings Teine feften Regeln in Bezug auf ein
Ausfuhrverbot beitehen, und daß in früheren Kriegen die Lieferung von Waffen
und Munition an die Kriegführenden mit der Neutralität wohl vereinbar ge-
wejen war. Aber der Zuftand fei jet garnicht mehr derjelbe wie früher.
Nah einigen ftatiftifden Angaben über die von Amerika gelieferten Mengen an
Munition und Waffen weiit der Verfaffer alsdann darauf hin, daß man in
diefem Falle auf die allgemeinen Prinzipien der Neutralität zurücdigreifen müfje,
und bieje lehrten: „Wenn die Munitionslieferungen gegenüber früher einen nie
geabnten Einfluß auf die Entfcheidung des Krieges ausüben, jo kann nicht mehr
das Prinzip der formellen ®leichheit, der Dffenbaltung der Märkte für alle
Kriegführenden, maßgebend fein. Dielmefrt muß dann die Einjtellung ber
Lieferungen erfolgen, wenn der Transport nad der einen Partei durch bie
Beherrihung des Seeweges von Seiten des Gegners ausgeichloffen ift. In
foldem Falle ift ein Ausfuhrverbot ein dringendes Erfordernis der Gerechtigleit”.
Diefe müßte allein bei der Entjcheibung der Frage ausfchlaggebend fein, und bie
Rüdfihten auf die amerilanifche Waffeninduftrie müßten fchweigen. Dan
kann fi) diefen Ausführungen Wehbergs wohl voll und ganz anfchlieken.
Wie bereits eingangs bemerkt, wollen wir an biefer Stelle nicht die Literatur
beiprechen, die über die Lufitania-Angelegenheit gefchrieben worden ift, obwohl
fie ja in gewiflen Sinne hierher gehört. Die über diefen Fall erfchienenen
Bücher und Broſchüren find faft durchgängig rein vom völferretlihen Stand-
punlte aus geichrieben, und fo mag ihre Beipredung für die Behandlung eines
‚Ipäteren Themas aufgeipart bleiben. Nur zwei Arbeiten, die wohl die beften
find, die bisher über den Lufitania-Fal erjchienen find, mögen aud) bier, wenn
au nur ganz kurz, genannt fein. 8 ift Dies zumächft die von der „Zeitichrift
für Böllerreht" (%. U. Kerns Berlag, Breslau) herausgegebene Sammlung
„Der Lufitania-Fal im Urteile von deutichen Gelehrten”, in der einundzwanzig
der heruorragendften Gelehrten Deutichlands und Vfterreihg unabhängig von
einander diefe höchft interefiante Frage behandelt haben. Der wertvolle An-
bang, der biefem Buche beigegeben tft und Urkunden zur Vorgefchichte fowie
den Rotenmwechfel über den Lufitania-Fal enthält, dürfte diefeg Buch zu einem
unentbebrlichen Hilfsmittel für das fpätere Stubium diefer völlerredhtlih To
bebeutfamen Frage machen. Man vergleiche die Beiprechung des Buches durch
Prof. Bornhat in Heft 40 db. %. 1915 diefer Zeitichrift.
122 Kriegsliteratur
Die andere Arbeit, die wir hier erwähnen wollen, ftammt aus der Feder
des befannten Würzburger Profeffors für Offentliches Aecht, Chriftian Meurer.
Diefe, „Der Lufitania-Fall“ betitelte völferrechtlihe Studie ift im Verlage von
3. &. 3. Mohr in Tübingen erjhienen. Der Berfaffer weift in feiner Ab-
handlung nad, „daß die Lufitania als Hilfsfreuzger umgewandelt, auf die
Kriegsichiffslifte gefegt, in den Dienft der Marine geftellt und nicht zurüd-
verwandelt worden tft“. Die Torpedierung der Lufitania ift demnach zu Recht
erfolgt, mag der Berluft fo vieler unfchuldiger Menfchenleben aud) noch fo fehr
zu bedauern fein.
* *
E
Im Borftehenden haben wir uns nur mit der Literatur befakt, die über
Nordamerifa erfchienen if. Weit ftiefmütterlicher ift Mittel- und Sübdamerifa
behandelt worden. 8 ift dies eigentlih um fo unverftändlicher, als gerade
Südamerifa, wenn e8 auch politifch für uns nicht allzu wichtig tft und die aus-
wärtige Bolttit der füdamerilanifchen Staaten eine wichtigen Probleme während
des Weltkrieges aufgerollt hat, do auf wirtichaftlidem Gebiete einer der wid
tigiten Erdteile für den deutfhen Handel gemefen ift und, wie zu hoffen und
au mohl zu erwarten ift, dies nad) Beendigung des Krieges in noch
geiteigerterem Maße werden wird. Allerdings dürfte die Konkurrenz der Ber-
einigten Staaten infolge der augenblidlichen faft völligen Ausfchaltung des
deutihen Marktes einen nicht zu unterfhägenden Borfprung erhalten, und der
Kampf, den der beutiche Handel und bie deutfche Induftrie nach dem Kriege
bier auf wirtihaftlihem Gebiete wird auszufechten haben, wird fein leichter fein.
E38 ift aber mit Beftimmtheit zu hoffen, daß auch in diefem friedlichen Wett-
ftreite deutiche QTüchtigkeit und deutfche Tatkraft das Schlachtfeld als Siegerin
behaupten wird.
In weldem Maße nun Mittel- und Südamerika in wirtfchaftlicher Be⸗
ziehung dur) den Weltkrieg beeinflußt wird, ift von Wilhelm Bürklin in an-
Ihauliher und Marer Weife in feinem bei Dtto Hapfe (Göttingen— Berlin)
verlegten Bude „Süd- und Mittelamerila unter dem wirtfchaftliden Einfluſſe
des Weltkrieges” dargelegt worden. Die intereffanten Ausführungen des Ber-
fafler8 dürften für Bolitifer und Gelehrte, in erfter Linie jedoh für den
deutfhen Kaufmann und mduftriellen von Wert fein, zumal — man fann
wohl fagen „leider” — die füd- und mittelamerilanifhen Staaten und ihre
Wirtſchaftsgeſchichte, ihre wiriſchaftlichen Kräfte und ihre wirtfchaftlihe Zukunft
in weiteſten Kreiſen noch recht wenig bekannt ſind und oft ſogar ſehr unter⸗
ſchätzt werden. Denn in vielen Köpfen malt ſich das Bild jener amerikaniſchen
Staatsweſen als das Paradies von Revolutionen und Revolutiönchen, von
Präfidentenſturz und Staatsbankerott aus, während das rege Wirtſchaftsleben,
das in vielen dieſer Republiken, insbeſondere in den ſogenannten ABC-Staaten
blũht, allzu oft überſehen oder wenigſtens nicht in gebührender Weiſe gewürdigt
wird. Die Anhänge, die Bürklin ſeiner Schrift angefügt hat, und die einen
Kriegsliteratur 123
kurzen Abriß der Geſchichte Süd- und Mittelamerifas, eine Literaturüberficht
und einige ſtatiſtiſche, recht anſchauliche Tabellen enthalten, dürften ebenfalls
aufklaͤrend wirken.
Zum Schluß ſei noch einer Arbeit gedacht, die, mag ſie auch nicht direkt
zur ‚Kriegsliteratur“ gehören, doch gerade in dieſer Zeit von beſonderem
Intereſſe ſein dürfte, da die Vereinigten Staaten als Geldgeber unſeren Gegnern
eine nicht zu unterſchätzende Beihilfe zur Bekämpfung Deutſchlands und ſeiner
Verbündeten gewähren. In Heft 18 der von Prof. von Schanz und Prof.
Julius Wolf herausgegebenen „Finanzwirtſchaftlichen Zeitfragen“ (Verlag von
Ferd. Enke, Stuttgart) behandelt Dr. Paul Marcuſe „Die Bankreform in den
Bereinigten Staaten von Amerika“. Nach einer kurzen geſchichtlichen Einleitung
der finanzpolitiſchen Entwicklung ſchildert der Verfaſſer das Notenbankweſen
und den Geldmarkt in den Vereinigten Staaten unter dem Nationalbankgeſetz
und die Reformbeſtrebungen, die ſchließlich zur Reform von 1913 führten, als
deren wichtigſte Neuerungen die Errichtung der Reſervebanken und des Reſerve⸗
amtes als Auffichtsbehörde der erſteren zu nennen ſind. Die Wirkungen, die
dieſe Reform im amerikaniſchen Bankweſen hervorgerufen hat, find, wie Marcuſe
ausführt, ſoweit dies ſich bis jetzt ũüberblicken läßt, als durchaus gute zu be-
zeichnen.
Die Marcuſeſche Schrift wird ein wertvoller Beitrag ſein für das Studium
der auch für Europa wichtigen Frage des Banlkweſens in der größten Republik
jenſeits des Atlantiſchen Ozeans.
Sliegerlied
... und wir gleiten an den Städten
Hoch vorbei in Windes Armen,
Weil der Himmel uns gerufen,
Um in feinen blauen Ziefen
Uns die Walftatt zu bereiten,
Die in unfren Träumen lebt.
Aus den Tiefen, aus dem Staube
Steigen wir dem Licht entgegen.
Wie die jungen Adler fteigen
Aus des Horftes dDumpfer Enge,
Steigen wir, der Felleln Iedig,
Stolz empor, der Somne zu.
Und wir beten, und wir fingen,
Weil wir an die Zukunft glauben,
Worte ftolzer Lebensfreude,
Worte, aus der Kraft gemeißelt,
Worte, die der Sturm gefungen,
Worte, die die Sonne fang.
Und wir ftürzen aus der Höbe
‘ah herab, vom Blit getroffen.
Und wir leiden, und wir fterben.
Doh — wir rangen. —
Aus der Heimat,
Wo am Rhein die Linden blühen,
Grüßen uns vertraute Klänge,
Die wie eine lichte Woge
Uns umbraufen, uns umfdlingen:
Die die Mutter uns gefungen,
Die uns taufend Herzen fingen,
— Die das Vaterland uns fang.
Werner Peter Larfen
Hriegstagebuch
17. Dezember 1915. Frangöfiicher Fliegerangriff auf Meg.
17. Dezember 1915. Bei Bijelopolje 1960 Serben und einige
Montenegriner gefangen; in den legten fünf Tagen machten die öfterreichifch-
ungarifhen Truppen norböftlih der Tara 18500 Gefangene.
18. Dezember 1915. Teile unferer Slotte Treuzten während ber
legten Boden in der Nordfee, unterfudhten im Stagerraf 52 Schiffe und
braten einen Dampfer mit Banniware auf. Der Feind wurde nirgends
gefichtet.
19. Dezember 1915. Wögefchlagener Angriff feindliher Monitore
auf Weftende. Kine unferer Flugzeuggeſchwader bombardiert Poperinghe.
19. Dezember 1915. Nüdzug der Engländer auf Gallipoli bei
Anofarta und Ari Burun. Große Kriegdbeute der Türken.
20. Dezember 1915. Der Handelsfrieg brachte bi Ende November
vom Kriegsbeginn an folgende Zahlen: 784 feindliche Handelsfdiffe verſenkt
mit einem Tonnengehalt von 1447 628 t; davon durd) U-Boote 568 Fahre
geuge mit 1 079402 Br.-Meg.-T. Die englifhe Handelgflotte verliert hierbet
624 Schiffe mit 1281 944 t = 5,9 Prozent der gefamten engliihen Han-
delötonnage.
21. Dezember 1915. Schwere Kämpfe am Hartmanndiveilerfopf
und am SHiljenfirft; die Srangofen befegen die Kuppe des erfteren und
nehmen ein Tleinere® Grabenftüd des Ietteren.
21. Dezember 1915. Bei Ipel weitere 69 bon den Serben ber«
grabene Gefüge erbeutet.
21. Dezember 1915. Die Türken verfenfen bei Kut el Amara.
zwei feindlihe Monitore.
21. Dezember 1915. General vd. Emmid, der Eroberer Lüttich,
geftorben.
22. Dezember 1915. Die Suppe des Sartmannsweilerfopfes don
der 82. Landwehrbrigade wiedererobert; 1558 ranzofen gefangen.
24. Dezember 1915. WVeftlid) La Baffee erfolgreiche Minenfprengung.-
24./25. Dezember 1915. Stärkere Patrouillengefechte an der Oft
front bei Dünaburg, Czartoryft und Vereftiany.
24. Dezember 1915. Die Senufien jchlagen die Engländer bei
Matrub, 240 Kilometer öftlih don Sollum.
26. Dezember 1915. Sprengungen bei Neuville und auf der:
Lombreshöhe.
26. Dezember 1915. Die Engländer beihlagnahmen auf hollän-
diſchen Dampfern die holländiſchen Poſtſäcke.
27. Dezember 1916. Im Weſten lebhaftere Artillerie, Hand⸗
granaten⸗, und Minenkämpfe. Franzöſiſcher Vorſtoß am Hirzſtein.
27. Dezember 1915. An der beßarabiſchen Front und am Dujeſter
nördlih von Zaleszcayfi ſtarke ruſſiſche Angriffe abgewieſen.
126
Kriegstagebudh
27. Dezember 1915. An Montenegro für die Ofterreicher erfolg-
reihe Verfolgungsfämpfe bei Bijoca.
28. Dezember 1915. MWiederbolte franzöfiihe Angriffe am Hirzſtein
und am Sartmanntweilerfopf verluftreih für die Feinde abgewiejen; über
200 Gefangene gemadit.
29. Dezember 1915. Engliihe Angriffe nordiweftlih von Lille abe
geiwiefen. — Der Hartmannzweilerfopf wieder gänzlich vom Feinde gefäubert.
29. Dezember 1915. Ctarfe ruffiihe Angriffe gegen den Brüden-
fopf von Burlanow an der Strypa abgewiefen. — 900 Gefangene.
298. Dezember 1915. Stalienifhe Angriffe auf Torbole und gegen
den Monte Carbonile abgeiwviefen.
29. Dezember 1915. SGfterreihiihhe Zerftörer und Kreuzer vernichten
dad franzöfiide U-Boot „Monge" und im Hafen von Durazzo einen
Dampfer und einen Segler. Babei ftießen die Berftörer „Lila” und
„zriglam“ auf Minen.
29. Dezember 1915. Heftige, für die Türken erfolgreihe Kämpfe
bei Sedd ul Bahr; der franzöflihe Banzer „Suffren” beihädigt.
29. Dezember 1915. Die Frangofen befegen die griedifche Synjel
Raftelorifo an der Heinafiatifhen Küfte.
80. Dezember 1915. Bei Holluh den Engländern ein Graben
entriffen — Feindlicher Fliegerangriff auf DOftende.
80. Dezember 1915. DWiederholte ftarfe ruffiihe Angriffe unter
fhwerften Berluften für den Feind zwifhen Buczacz und Wißniowayf
abgewieſen.
80. Dezember 1915. Der engliſche Panzerkreuzer „Ratal” bei
Le Havbre infolge Exploſion geſunken.
80. Dezember 1915. Der engliſche Poſtdampfer „Perfia“ (7950 t)
auf der Augreife nah Bombay im Mittelmeer verfentt.
81. Dezember 1915. Bel zriedrichitadt ruffifher Angriff gejcheitert.
— In Oftgaligien und an der beßarabifhen Front erneut heftige ruffifche
Angriffe unter außerordentlich großen Berluften gefceitert.
1. Januar 1916. Südlich des Hartmannsweilerkopfes einen feind«
lihen Graben genommen, 200 Gefangene.
1. Zanuar 1916. Ber Bierverband verhaftet die Konfuln des Bier
bundes in Salonifi.
2. Januar 1916. Erfolgreiche große Sprengung nördlich der Straße
Za Baflee—Bethune.
2. Januar 1916. An der Sralfront weilen die Türlen alle Entfaß-
berfuche der Engländer in Hut el Amara zurüd.,
2./8. Januar 1916. An Oftgalizien und Beßarabien 860 Ruſſen
gefangen, alle Angriffe unter ſchwerſten blutigen Verluſten des Feindes ab⸗
geſchlagen.
8. /4. Januar 1916. Heftige Artilleriekämpfe an der italieniſchen Front.
5. Januar 1916. Nordöſtlich von Le Mesnil vereitelter Hand⸗
granaten-Angriff, erfolglofer feindliher Luftangriff auf Douat.
5. Sanuar 1916. Das engliihe Tauhboot „E 7” gefunten.
6. $anuar 1916. Erfolgreiches VBorrüden der Hfterreicher in Montes
negro in Nicdhtung Berane.
6. Kanuar 1916. Das englifhe Unterhaus nimmt die Dienftpflicht-
bil mit 403 gegen 105 Stimmen an.
Kriegstagebud
7. Januar 1916. Südlich des Hartmannsweilerlopfes den Sranzojen
ein Grabenftüd entriffen, 60 Alpenjäger gefangen.
7. Januar 1916. In Oftgaligien und Beßarabien 1000 Aufien ge-
fangen, darunter einen Oberft und zehn andere Offiziere.
8. Januar 1916. Am Hirzftein den legten der in Feindeshand ber«
bliebenen Gräben zurüderobert, 1103 Franzofen gefangen, 15 Majchinen-
geiwehre erbeutet.
8. Januar 1916. Nordöftlih von Berane die Montenegriner ge»
ſchlagen, ein Geſchütz erbeutet.
8. Januar 1916. Rach heftigem Kampfe zwingen die Türken die
Engländer und Franzoſen zur vollſtändigen Räumung der Halbinſel
Gallipoli; der legte Reſt der Ententetruppen aus Sedd ul Bahr und Telle
Burun vertrieben.
9. Januar 1916. Rordweſtlich Maſſiges bei Maiſon de Champagne
mehrere feindliche Beobachtungẽſtellen und Gräben genommen, 480 Franzoſen
gefangen, 5 Maſchinengewehre erbeutet.
9. Januar 1916. Das engliſche Schlachtſchiff, Eduard VII.“ geſunken.
9. Januar 1916. Nördlich Bioca das öſtliche Limufer vom Feinde
geſäubert.
10. Januar 1016. Bei Wroumen, ſüdlich von Dirmude, ein mit
einer 8,8 cm Kanone ausgerüftetes franzöſiſches Flugzeug erbeutet.
10. Januar 1916. Die Oſterreicher ſtürmen den Lowcen, 45 Ge⸗
ſchütze, darunter 7 ſchwere, erbeutet. Im Nordoften Montenegros Berane
und die beherrſchenden Höhen in den Händen der Oſterreicher.
11. Januar 1916. Vergeblicher franzöſiſcher Angriff nordöſtlich von
Le Mesnil.
11. Januar 1916. Bei Teuenfeld, ſüdweſtlich von Illuxt, einen
ruſſiſchen Angriff abgewieſen.
11. Januar 1016. An der beßarabiſchen Front ſtarke ruſſiſche An⸗
griffe unter großen Verluſten des Feindes zurückgeſchlagen.
11. Januar 1916. Die Höhen weſtlich und nordweſtlich von
Budua, den 1560 Meter hohen Babjak ſüdweſtlich von Cetinje genommen,
die Montenegriner über Njeguſi zurückgeworfen. Der Reſt der ſerbiſchen
Truppenverbände aus Dugain weſtlich Ipek vertrieben.
11. Januar 1916. Ein öſterreichiſches Geſchwader von Seeflugzeugen
bewirſt die Anlagen von Rimini mit beſtem Erfolg mit Bomben.
12. Januar 1916. Nordöſtlich von Armentières ein engliſcher Vor⸗
ſtoß vereitelt. Bei Le Mesnil und bei Maiſon de Champagne franzöſiſche
Angriffe abgeſchlagen. Vier engliſche Flugzeuge an verſchiedenen Stellen
der Front abgeſchoſſen.
12. Januar 1916. Franzöſiſche Truppen beſetzen die griechiſche
Inſel Korfu.
12. Januar 1916. Die Montenegriner aus Budua vertrieben.
Erfolgreiche Gefechte bei Grahavo.
18. Januar 1916. Cetinje, die Hauptſtadt Montenegros, von den
Oſterreichern beſetzt, bei Grahavo 8 Gefchüge, 500 Gewehre erbeutet.
13. $anuar 1916. Der König und die Regierung von Montenegro
bitten die Ofterreiher um Einleitung von Friedensverhandlungen.
14. Xanuar 1916. Wiederholte Heftige ruffifhe Angriffe in Oft
galizien und Beharabien unter [hwerften feindlichen Verluften abgeichlagen-
127
128 Uriegstagebuch
14. Januar 1916. Eine ſtark ausgebaute italieniſche Stellung bei
Oslavija von den Hſterreichern geſtürmt, 988 Gefangene, 8 Maſchinen⸗
gewehre, 8 Minenwerfer erbeutet.
14. Januar 1916. In Cetinje 164 Geſchütze, 10000 Gewehre,
10 Maſchinengewehre und viel anderes Kriegsmaterial erbeutet, 800 Ge⸗
fangene gemacht. Südlich Berane die Schanzen auf der Höhe von Gradina
erſtürmt.
8. — 14. Januar 1916. Für die Türken erfolgreiche Kämpfe an
der Kaukaſusfront.
16. Jauuar 1916. Die montenegriniſche Regierung nimmt die von
den Oſterreichern geftellte $orderung bedingungslofer Vaffenftredung an.
17. Januar 1916. (rfolgreiher öfterreihiiher Wliegerangriff auf
Ancona.
18. Januar 1916. Zufammentunft Kaifer Wilhelms und des Zaren
Ferdinand von Bulgarien in Rild.
18. Januar 1916. Fliegerangriff auf Meg, ein feindliche Flugzeug
bei Xhiaucourt adgeftürgt.
18. Januar 1916. Hſtlich Czernowitz, bei Toporoug und Bojan
ftarle ruffiihe Angriffe abgewiefen.
19. Zanuar 1916. Nördlich Frelingbien englifher Angriff ab»
geihlagen. Nancy mit Bomben belegt.
19. Januar 1916. Ermeute Kämpfe an der beßarabiihen Front.
20. Januar 1916. Am Eol di Lana Trommelfeuer der italienifhen
Front.
Allen Manufkripten ift Borto Kinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rädjenbung
nicht verbürgt werben Tann.
Nachbruck ſamtlicher Aufſaͤtze ur mit ausbrüädiiher Erlaubnis bes Berlags gefattet.
Berantwortli: ber Herausgeber Georg Gleinomw in Berlin. Lichterfelde Well. — ranuffeiptiendungen und
Briefe werben erbeten unter ber Adreffe:
Un ben Herausgeber der Grenzbaten in Berlin» Liigterfelde Welt, Steruftraße 56.
Berniprecger des Herausgebers: Amt Lichterfelde 498, bes Verlags und der Schriftleitung: Amt Yügomw 6510.
Berlag: Verlag ber Grenzboten ©. m. 5. &. in Berlin SW 11, Tempelhojer Ufer 85a
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TE ———— — — —
Auf dem toten Punkt
Ruſſiſcher Brief
PR ie fragen mich, melde Eindrücde ich gegenwärtig von Rußland
r Sn: babe, wie es fteht mit der Regierung, mit der öffentlihen Dtei-
N nung, mit der Scele des Volkes in Diefeın Lande der „un«
| 5 Jbegrenzten Möglichkeiten“?
Ich kann Ihnen eine erſchöpfende Antwort darauf nicht geben,
denn diejenigen Kreiſe, die ſchließlich einmal, wenn es zum Schluſſe kommt, den
Ausſchlag über die Geſchicke des Landes geben werden, ſind unberechenbar.
Nur Gott weiß, was dort einmal beſchloſſen wird. —
Und Nibkolai Nikolajewitſch und ſeine Clique? Der Großfürſt thront im
Palaſte der Woronzow, denen der Zar ſoviel verdankt. Er hat verſucht, die
geſunkene Popularität dadurch aufzufriſchen, daß er ſich gegen die Regierung
auf die Seite der Liberalen ſtellte. Er wollte in ſeinem kleinen Deſpotenbezirk
auf deſpotiſche Weiſe diejenigen Freiheiten der Selbſtverwaltung oktroyieren, bie
der Fürſt Tſcheidſe bisher vergeblich für ſeinen Heimatsbezirk in Anſpruch ge—
nommen hat. Nikolai und Tſcheidze, nicht wahr, ein ſchönes Bild? Er ſcheints
auch aufgegeben zu haben, denn über ſeine Pläne iſt auf einmal ein verdäch—
tiges Schweigen hereingebrochen. Alſo, wenns damit nicht zu machen iſt, ſo
vielleicht mit dem Kampf gegen die Türken? Winkt nicht Erzerum und von
ferne ein anderes Ziel, das einſt Herrn Saſonow ſo nahe dünkte und das doch
ſo fern war? —
Aber die Leute find keine Illufioniſten mehr, wie einſtmals. Sie ſind
beſcheidener geworden in ihren Zielen. Dieſe Ziele haben faſt an Wert für
ſie verloren, niemand ſpricht mehr von ihnen. Man weiß, es handelt ſich nicht
mehr um den großen Einſatz, nicht mehr „um Sieg“ gehts — nur noch „um
Grenzboten lJ 1916 9
130 , Auf dem toten Punft
Pla” — und da möchte man einigermaßen anftändig herausfommen.. Dan
zeigt, daß man noch ba ft, daß man die „Befreiungsmiffion“ nicht ganz ver-
geffen bat, daß man zur Not au) noch eine Tleine Dffenfive maden fanın —
und Taufcht dabei ängftlih nah Weiten, nad) dem Balkan, nad) Egypten, —
wie man einft nad) den Dardanellen laufchte.
Es war eine tiefe Enttäufhung für die ruffifche Gefellfchaft, diefen Tag
erleben zu müffen, al England es für richtig hielt, feine Deere von Gallipoli
abzulöfen, fiel doch damit der ruffifhe Traum, mit Hilfe derfelben Macht, die
einftmals bei San Stephano ihr Veto gegen das weitere Vorbringen der Nuffen
eingelegt hat, in Zargrad einzuziehen und an den Wänden der Hagtia Sophia
die alten ortbodoren Glaubensbilder wieder aufzufrifchen.
Man träumt nit umfonft folde Träume, um nicht das Erwachen wie
den Berluft eines nah gefdjauten PBaradiefes zu empfinden. Das Erwaden
nach ſolchen Träumen tft [chmwer und bleiern IiegtS einem in allen Öliedern.
Alle Ihönen Neden aller englifhen Botfchafter können da nichts mehr nüben
— der Blaube ift dahin, und was foll diefes Boll ohne Slauben
maden?
Wenn e8 den Glauben verloren bat, fo denlt es an nichts mehr. 3
vergibt feine Ziele und lebt für den Tag, fhwärmt und Tneipt in den Mos-
fauer großen Gafthäufern vom Abend bis zur Frühe und entihädigt fih für
verloren gegangenen Enthufasmus — durd) Selt. Die Stimmung des Spielers,
ber verloren, aber noch Geld genug übrig hat, um ben heutigen Tag luftig
zu feiern. |
Und Rumänien? Die Hoffnungen auf die ruffiihe Dffenfivet Waren
ängftlide Hoffnungen, nervöfe Erwartungen, die begraben find. An „Rumäniens
Eintreten in den Krieg” hat in Rußland jeder geglaubt fett Beginn des Krieges,
dann lam eine verfehlte Gelegenheit nad) der andern; e8 Tam „der Abfall
Bulgariens”, der Zweifel an Griechenland, an das man troß aller politifchen
Gegenjäte „jo Eindlii geglaubt hatte”, und mit dem man fmollte und troßte,
bis Herr Migulin dem ruffifden Publitum das Unfinnige biefesg Schmollens
Har bewies und den Blumenvorhang zerriß. Rumänien war der Strohhalm,
an den man fi) Mammerte, von dort aus dadte man das Bild wieder aufzu-
rollen — an Stelle des politifhden Druds follte ein militärifcher Eindrud treten.
Gzernowigs Fall wurde von der Petersburger Telegraphenagentur bereit$ ver-
fündigt, ehe noch eine öfterreichifch-ungarifhe Schügenlinie ins Wanfen geraten
war. Aud die Schumstis find jebt ftiller geworden. Salonili ſolls jetzt
maden — aber einer glaubt mehr daran .. .
Man fängt an nachzudenken.
Kennen Sie unfern alten Freund Vurifchlewitfh, den früheren Mitarbeiter
der Kreuzzeitung, ihn, der zu Beginn diefes Krieges aus einem einft begeifterten
Deutihenfreund ein erbitterter Deutichenhafjer geworden if? Er, der betont,
Auf dem toten Punft 131
daß er niemals feine Meinungen geändert habe, und ändern werde — mit
Ausnahme der polniihen Frage” (mo die Meinungsänderung leider zu fpät
war), bat das für ruffiiche Ohren Fühne Wort auszufpredden gewagt, daß es
Do falfeh fei, wenn die ruffifche öffentliche Meinung fih immer wieder vor-
ftelle, e8 jet die Abficht Kaifer Wilhelms gewefen, Rußland dur die Erflärung
und Durdführung bdiefes Srieges zu vernichten. „Nicht Nukland ift das
eigentliche Kriegsziel für Wilhelm, fondern England“. Deutichland jtrebe
danach, England in ein Portugal zu verwandeln. Rupland bleibe doc immer
dasfelbe mächtige Land, felbit wenn e8 gefchlagen werde, England aber werde
zur Null berabfinten, wenn diefer Fall einträte — und nun die bödhft fomijche
Schlußfolgerung: Deutſchland müſſe alfo „vernichtet“ werden. Cartha-
ginem esse delendam — um ber f&önen Augen Englands willen, Herr
Puriſchlewitſch?
Und dann nach dem Kriege. Welche innere Politik werde Rußland treiben?
Nach Herrn Puriſchlewitſch, dem einſtmaligen Juden; und zeitweiſen Deutſchen⸗
haſſer wird es nötig ſein, „eine verſöhnende Politik den Fremdſtämmigen in
Rußland gegenüber zu treiben“ — alſo auch den Deutſchen gegenüber, den
Freunden von Herrn Chwoſtow, und den Gegnern desſelben Englands, das
die Deutſchen im Leben Rußlands ſo gern erſetzen möchte? —
Und nun eine andere Stimme. Sie kennen den „Kolokol“, jenes halb
fröhliche, halb offiziöſe Blatt, das dann und wann zum Sprachorgan einfluß⸗
reicher Kreiſe benutzt wird? Da findet man mitunter merkwürdige Sachen. Ich
will Ihnen eine ſolche erzählen.
Geſpraͤch in einem Petersburger Salon. Die vornehme Herrin des Hauſes
iſt eben aus dem Auslande nach Rußland zurückgelehrt, nun wird ſie umdrängt
von ihren Belannten, die alle auf die Offenbarung von draußen lauſchen. So
ähnlidd, wie Ste jest laufchen auf das, was ich Ihnen erzähle. „Was denfen
Sie, liebe Yreundin, über diefen Krieg, der fo rätfelhaft, fo unfaßbar von
Wilhelm heraufbeſchworen wurde? Sie fennen ihn perfönlid, waren einftmals
befreundet mit ber Kaiferin Augufta, Sie Innen Deutſchland und Äſterreich fo
gut, Sie fennen das Leben bei Hofe dort, faft die Geheimniffe diefer Höfe.
Wie interefjant wäre c$, wenn Sie uns etwas von dem erzählen würden, was
Sie dort gehört und erlebt Haben!” —
Und nun faft diefelbe Antwort, wie fie Purifchlewitih gab: „Sie irren
fid — das ijt fein politifder Krieg, um den es fich bier handelt, bier gehts
nicht um Privatintereffen, um Abenteuer, Ddiefer Krieg bat rein öfonomifche
Urfacdhen, die weit, weit zurüdliegen .... Nicht Kaifer Wilhelm bemegt diefe
Kraft, die in den Deutfchen ftedt, Tondern die Lofung: „Deutfchland über alles.“
Sie Ihafft die deutfhe Drganifation „auf dee Erde, unter ber Erbe, auf
dem Wafjer, in der Luft”. Willenfchaft und Technik und Teufelskunft, Geduld,
Sartnädigleit, weder Sparen von Geld, von SKrafl, von Menſchen, das ſieht
man da draußen bei den Deutſchen.
g*
132 Auf dem toten Punft
— — —
— — —
„Sie werden geſtehen, daß das Organiſation iſt, wie ſie niemals da war,
und wie fie bei feinem anderen Bolfe zu finden tft. Es iſt traurig, ſchmachvoll,
ärgerli, aber man muß anerlennen, daß e& fchwer ift für die Desorganifation,
mit folder Organifation zu lämpfen ... . .“
„Wa3 wollen Sie damit jagen?” warf hier ein energijher junger Herr ein.
„Rur was ich gejagt habe. Bei uns ift alles desorganifiert vom Tleinen
bis zum großen, vom lächerlichen bis zum erniteften, von unten bis oben.“
„Was folgern Sie daraus?”
„Unfere Ohnmacht.“
„Mit anderen Worten: daß die Organifation über Die ———
ſiegen wird?“
„Nein, ich habe mich etwas anders ausgedrückt....“
„Das heißt?“
„Das heißt, daß es ſchwer iſt, wenigſtens theoretiſch, daß eine
Desorgantfation eine Drganifation bemältigt . “ —
Iſt dieſes Geſpräch, deſſen Schlußakkord vom ruffifchen Benfor unterdrückt
worden iſt, nicht charalteriſtiſch für die Stimmung in denjenigen ruſſiſchen Kreiſen,
die noch nachdenken?
Das Gefühl der Ohnmacht iſt es, das das Herz des ruſſiſchen Patrioten bedrückt,
das er nicht los werden kann. Der ſchöne Traum iſt zum Alpdruck geworden.
Und niemand fieht einen Ausweg.
Auch im Amnern ift e8 fchlecht beftelt. Da gibt e8 eine Kohlennot und
viele andere Nöte. Beinahe die Hälfte der rufiiihen Koblenproduftion, die
man fonft hatte, fehlt — und doch fol die Induftrie weiter Schrapnell3 machen.
Denn wenn aud einige Fabrilen, wie Korefhlom-egorow in Moskau, um viel
zu verdienen „Dred“ liefern, fo tft doch die Mehrzahl diefer Kriegslieferanten
patriotifd genug, um möglidhft viel von foldem Zeug beritellen zu wollen.
Mie fol man da8 aber machen, wenn es an Kohlen, an Holz, an Elektrizität,
an Arbeitern mangel!? Sol man denn alles Geld nad England und dem
Vereinigten Staaten geben, fol die englifhe und amerilanifhe „Vergemaltigung“
die deutſche ablöfen?
„Wir find, fo fagte der ‚Kolokol’ in feiner Nummer vom 28. November,
froh über die englifch-ruffifche Annäherung, aber das ift nicht der befte, nicht
ber fürzefte Weg dazu, um im vollen Sinne des Wortes ruffiider Bürger zu
werden. Wir brauden dazu nicht die englifche Kultur auswendig zu lernen...
wir folen da8 Studium der englifchen Kultur nicht dem der ruffifchen vorziehen.
Alles, was wir bei den Engländern lernen können, um wirllide
Staatsbürger zu werden, das lönnen wir aud) bei unferen eigenen
vergeffenen ruffifhen Denfern und am ruffifhen Wefen finden.“ —
Sollten Englands Bolitiler in Rußland allzu ungejhicdt mit ihren Plänen
berausgerüdt fein? ft Northcliffe und feine Trabanten dem ruffiiden Bublilum
auf die Nerven gefallen?
Auf dem toten Punkt 133
Wo bleibt, fo fragt fih jebt wohl mancher Rufe, der Exrfag alles deſſen,
mas die Aufjen wirtfchaftli” durch diefen Krieg um Englands willen geopfert
haben? — 3 gibt eine Teuerung und eine Not in diefem zum gefchloffenen
Handelsftaate gewordenen Lande, womit verglichen unfere Meinen Butterforgen
umd anderes, was uns bewegt, reines Sinderfpiel find.
Am 6. Januar find die Abordnungen der Petersburger Arbeiterlonfum-
genofjeni&haften beim Landwirtichaftsminifter gemeien, um ihm ihre Klagen
vorzutragen.
„Der Minifter erlundigte fih,“ fo berichtet „Ruskoje Slomo“ vom 6. d. M.,
„ausführlich bei den Mitgliedern der Deputation nad) dem Eindrud, den Die
Rahrungsmittelfrifis auf die Arbeiter mache. Die Arbeiterabgeorbneten Bopom
und Zfcherpal verheblten dem Minifter nicht, daß, wenn die Arbeiterlonfum-
genofienfhaften weiter in ihrer Tätigfeit behindert werden, Erzeffe möglich
feien, die zurzeit nur durch die Autorität der Führer ber Cooperatip-
genoffenfhaften verhindert werden.”
Die Nahrungsmitelnot und die Desorganifation, das find die Tages«
fragen in Rußland, die augenblidlich alles andere in den Hintergrund drängen.
Die Regierung fämpft mit aller Kraft, um hier zu helfen, denn fie hat begriffen,
ma3 eine weitere Desorganifation für die Stimmung im Lande bedeutet.
Chmoftow bat, wie einft Menenius Agrippa in feiner Fabel, die Wichtigkeit
der Frage erlannt: „Wie fann ich das Volk regieren, wenn es nicht fatt tjt?
Ich will e8 fatt machen, gebt mir dazu die Gewalt.” —
Und nun begann der Kampf zwildhen Chwoftom und dem Landmwirfchafts-
minifter Naumomw, der, unterftügt vom Eifenbahnminifter Trepom, an feine
Kompetenzen nicht rühren lafjen wollte, um dieſe Gewalt. |
Ties Schaufpiel der feindlichen Minifter fehen wir nun fehon fajt vier
Wochen. Und was tft dabei berausgelommen? — Nihts, rein gar nichts,
al daß der Zuftand des Landes immer fehlimmer geworden it und daß eine
Kommiffion der vier beteiligten Minifter eingefegt wurde, die in ihrer erften
Sigung die Vorfragen der Kompetenz zu Iöfen verfuchte und die Frage wahr.
fheinlid ex fundito ftubieren wird. Das ift Nußland, das echte Rußland,
das Rußland der Worte, nit der Taten, da8 Nukland der Kommilfionen,
nicht der feiten Hand, das Rußland der Yntrige und Beftehung, das reiche
und doc das hungernde Rußland!
Und ebenfo troftlos fiehts in der Barteipolitift aus. Da ift daS Land
wirflih, wie der Dumaabgeordnete Alerandrow gejagt bat, „auf dem toten
Bunlte”.
Chwoſtow Hatte ein eigenartige Rezept zurechtgemacht. Cr wollte die
öffentlide Meinung umfrenpeln — mit Hilfe der Monardiitenlongreffe,
die in Petersburg unter Maflaloms und Sceglomwitows Aufpizien vom
Ministerium begünftigt, tagen durften, während dem Städte und Semjtwo-
fongreffe „in der nervöjen MoStauer Luft” die Tagung verboten ward. Der
134 Auf dem toten Punft
fortfchrittlide Blood follte geiprengt werben, der Hebel dazu mwurbe beim
Neichsrat angefet, wo nad dem nötigen Drud auf die ernannten Mit.
glieder, Fürft Obolensfy und feine Gefolgichaft, ihrer Stellung bei Hofe
zu Liebe deutlih vom Blode abrüdten, indem fie erfärten, daß fie Teinerlei
Aufrufe des Blodes mitunterzeichnet hätten und daß es auch verfafjungstechnifch
gar nicht möglich fei, daß fich ein parlamentarifcher Blod zu gleicher Zeit auf
beide Häufer des Parlaments erftrede.
Die Preffe Chmwoftows jubelte fhon: e8 habe einen Ylod überhaupt nie
gegeben und es fei gar nicht nötig, etwas, das überhaupt nit da ge-
weſen jet, zu zerftören. Aber der ubel war verfrüht. Daburd, daß es
Chmwoftom nicht gelungen war, die wirtfchaftlihen Nöte des Volkes zu heben,
wozu er fi jtarf gemacht hatte, war ihm der Hebel aus der Hand gerillen
worden, ber die Menge anders hätte einftellen fönnen. Die Beichlüffe der
Monardiftentongrefje, die offen gegen die Tuma und die wenigen Freiheiten
auftraten, die man dem Dolfe noch gelaffen hatte, ließen den Becher der Gebulb
überlaufen, Selbit „Nowoje Wremja” und „SRolokol” rüdten von Chwoftom ab, und
das bedeutendite Boulevardblatt des Landes, „Rußfoje Slowo”, jegte den Punkt
aufs t, ald e8 am 31. Dezember erflärte, daß die Berfammlungen der Budget-
tommiffion und das Auftreten Chmoftomws gezeigt hätten, „daß es zwiidhen
den DBollsvertretern und dem Minifter des Innern in der Tat
feinerlei Berührungspunfte mehr gibt.‘
Chwoftom hat fich felbft ifoliert, er hat die Regierung ifoliert, er hat die
Bolitit auf jenen toten Punkt gebracht, auf dem fie heute ift.
„Und was wird weiter werben? läßt fih die ruffiihe Geſellſchaft dieſes
Verfahren geduldig fo lange gefallen, bis es zu ſpät iſt?“
„Auch dafür gibts Rezepte in Rubland — die Brovolation und bie
Drufbhinen der [hwarzen Hundert.“ ch Habe eine Lojtbare Reliquie
aus dem heiligen Lande der Zaren aufbewahrt. ES ift die Initruftion, Die
an alle Mitglieder derjenigen Verbände überfandt worden ift, die an den
Monardiftentongreffen teilgenommen haben. ch will Ihnen die Ginzelpunfte
biefer Snftruftion wörtlich überfegen. E3 Iohnt fi), fie kennen zu lernen. Hier ift
diefes eigenartige zeitgefchichtliche Dokument. &$ wird den Verbändlern empfohlen:
„1. wöchentlich allgemeine Verfammlungen gu veranftalten. Tabei ruhig und überzeugend
da8 Mäntefpiel der Linken zufhanden zu machen; fcharfe oder gar fhmähende Ausfälle gegen
die Linken in feinem Falle zuaulafien;
2. ala Mitglieder in die rebolutionären erbände einzutreten. Die Obmänner, als
die Leute, die die umerjhütterlichften, geiftig ausgeprägteften und wiflendften find, und die man
nit bluffen fan, müfjen fi al® Mitglieder in die von den LXinfen für ihre revolutionären
Zivede gegründeten Vereinigungen einjchreiben laffen, ald da find: Arbeiterverbände, Hand»
lungsgehülfenvereine, Arbeiterſchutzvereine, wie auch die verſchiedenen Wirtſchaftsgenoſſenſchaften,
in denen Sozialdemokraten an der Spitze ſtehen; ſie ſollen dies tun, damit ſie die revolutionäre
Propaganda der Mitglieder verfolgen und ihre verſtändige Stimme gegen Einbringung revo⸗
lutionaͤrer Anträaäͤge erheben können, um wenigſtens in den Herzen der Mitglieder Zweifel zu
erwecken, wenn es ihnen nicht gelingen ſollte, ſte zu beſtimmen, dagegen aufzutreten;
Auf dem toten Punft 135.
3. forgfam auf die Tätigkeit des Semftwo- und Städtebundes zu adten und auf
deren Freiwilligendruffinen für Propaganda an der ront;
4. die Gouverneure um ihre Mitwirfung zu bitten, bag die Bündler im Augenblid
des Ausbruhs von Wirren auf ber Straße da Bolt zum WViderftande gegen
die Berfhwörer fammeln können;
5. mit den Behörden gefhäftsmäßig und Torreft zu verfehren, in enge Freundſchaft
mit ihnen nicht zu treten, aber andrerfeitd, um nicht in ihren Handlungen eingeengt zu
werben, obne bejondere Notwendigkeit fie nicht zu behelligen und nicht zu intrigieren;
6. der Bevöfferung zu erflären, daB die Sintelligenz, die Reichen, die induftriellen
Kaffen, Banken und Yuden das Unglüd Nußlands, den Krieg mit den grimmigen Deutichen,
außnügen wollen, um Wirren zu ftiften, den Herricher der feldfiherrlihen Gewalt zu be⸗
rauben, die für daß einfache Bolt fo notivendig ift, und fie in die Hände einer unverant-
wortlihen Mehrheit von Neichgdumamitgliedern zu legen, auß denen aud die Minifter
genommen werden follen, um dann mit Hülfe erfaufter und unverantwortlicher Reichsduma⸗
mitglieder folhe Gefege zu erlaffen, wie e8 in Zranfreih, Amerifa und anderen parla-
mentarifchen Ländern gemadt wird. Diefed verbrecdheriiche Beginnen wird von der Mehrzahl
der Stadtdumen, Semftwos und Börfenbereinigungen unterftügt;
7. ben Herrfcher zu bitten: fefte, tätige und ala Mechte befannte Minifter und Minijter-
gebülfen zu ernennen, namentlich ala Minifter des Innern und des Verkehr: ferner um
ftarfen Schu der Armee und oberften Negierungegewalt gegen den Einfluß der linten
Sntriganten, insbeſondere Gutſchkows;
8. wenn die Wirren auf die Straße getragen werden, über das ganze
Land den Kriegszuſtand zu verhängen, einen feſten, entſchloſſenen Diktator zu er⸗
nennen, alle linken haupiſtädtiſchen Blätter zu ſchließen, in erſter Linie „Rußkoje Slowo“,
als das verbreitetſte, die Provinzialblätter zu konfiszieren und ſie in hoffnungsvolle Hände
zu legen.“
Sie ſehen, hier ſind alle Requiſiten vereint, die wir aus den Zeiten von
Herzenſtein und Jollos, aus den Attentaten gegen Witte her kennen. Wie
kann die Stimmung der „ruſſiſchen Geſellſchaft“ ſein, wenn ſie fieht, welche
dunkle Kräfte gegen fie ins Werk geſetzt werden?
Und es ſcheint faſt, als ob dieſe Geſellſchaft aufgehört habe, einen Aus—⸗
weg zu ſuchen. Eine Zeitlang konnte man es noch hören, daß ſo wenig nötig
ſei, um „aus dieſer Sackgaſſe herauszukommen, aus dieſen ſchweren Unſtimmig⸗
keiten zwiſchen Geſellſchaft und Regierung; dieſe drücken auf die Stimmung
im Lande und ſchaden der Sache des Krieges ...“ Da wurden wieder ganz
leiſe Namen wie Kriwoſcheĩn, Scherbatow, Samarin ausgeſprochen und Stolypins
Schwager A. B. Neidhardt, deſſen Seellung im Reichsrat nicht unwichtig iſt,
bot ſeine Dienſte an, um die „Ideen eines gemäßigten Konſervatismus“ zur
Geltung zu bringen.
Aber iſt nicht die Zeit dieſer Leute vorbei? Irgend jemand hat einmal
geſagt, daß man in Rußland alle Maßregeln einen Poſttag zu ſpät treffe.
Wenn Gutſchlow für einen Miniſterpoſten reif ſei, denke man an Kriwoſcheĩn.
wenn nur noch Miljulow die Lage retten könne, an Gutſchkow, wenn Tſcheidſe
für das Land reif ſei, dann werde ſicher Miljulow berufen, um es zu retten ...
— „Und die Arbeiter, die Chwoftow nad) Gaponfcher Methode lödern wollte?
Wie verhalten fie fich in diefen Zeiten der Not? Wie hat Plehanomws Aufruf gewirkt?
136 Auf dem toten Punft
— Die Ürbeiter find jetzt klüger als damals. Sie ſind ſchließlich
in die Kriegswiriſchaftskomitees gegangen, aber es ſind doch eigenartige Töne,
die man von dorther hört. Sie benutzen alle dieſe ſtaatlichen Einrichtungen,
an denen ſie mitarbeiten ſollen, für ihre eigene Organiſation, und
bringen damit auch andererſeits in die Kriegswirtſchafts⸗Organiſationen, die
gerade zur Ablenkung des Volkes von der Politik und zum poſitiven Arbeiten
erfunden worden ſind, einen rein politiſchen Zug.
Die Moslauer und Petersburger Arbeiterdelegierten haben ſich verſammelt.
Die Petersburger haben glatt erflärt, fie wären für die Zofung der Ber-
teidigung des Landes, für jenen fühen Blehanomwfchen Lodruf, nit zu
haben — Gie wifjen, die Petersburger Arbeiter waren immer revolutionär —,
beide Delegationen aber waren darin einig, daß man mit aller Madt auf
Ginbernfung eines allgemeinen Arbeiterfongreffes und auf 2er-
fammlungsfreiheit, Möglichkeit einer Ausiprade zwifchen Arbeitern und ihren
Delegierten dringen müffe. Diefe Forderungen merden jeht in jeder Sikung
des Kriegsfomitees vorgebradt werden. Gutfhlom hat neulih im Zentral-
fomitee fhon einen fehweren Stand gehabt, vorläufig gibt es noch den Aus-
weg, daß man ih „im Prinzip fympathifch“ den Forderungen der Arbeiter
gegenüberftellt und fie im übrigen an diejelbe Regierung verweift, gegen bie
fie vorgehen wollen. Aber mit der Zeit werden diefe Forderungen größeres
Gewicht erhalten, — wenn erft die ganze gefhhloffene Drganifation hinter den
Torbdernden fteht. Und auch die bürgerlichen Mitglieder ber Somiteeg werben
angeftedt werden. Schon jett hat fih das Gutihlomfhe Zentrallomitee unter
dem Eindrud diefer Verhandlungen auf das rein politische Gebiet begeben und
fid mit einer Nefolution, die von der Zenfur unterbrüdt wurde, über die
Notwendigkeit der baldigen Einberufung der Duma ausgeiprocden.
Inzwiſchen hat Herr Chmwoftom eine Enquete über Lage und Stimmung
der Provinz veranftalten laffen. Die Ergebniffe liegen dem Dtinifterrat vor. Die
nädjften Wochen werden uns zeigen, welche Folgerungen die Regierung aus
diefen Feltftellungen der Gouverneure zieht.
Denn das Dorf ift auch für den Ruffen in der Hauptitadt ein Nätfel, —
ein Rätfel, von dem die Regierung garnicht wünfcht, daß es geraten wird.
Bark hat verfucht in feiner großen Denkfchrift über bie ruffifche Wirtjchaft, in
ber alles rofa in rofenrot gemalt ift, die Lage de3 Dorfes als glänzend bin-
zuftellen. Die Ernte 1914 fet gut realifiert worden. — Aber über die Ernte
von 1915 fchweigt er fih aus. ingeweihte Leute finden das bezeichnend
und „Nußloje Slowo“ hat noch neulich folgendes gejagt:
„Wir ale willen, welde Periode unfinnigfter Lebensmittelteuerung
die Bevölferung fait aller großen Städte Rußlands zurzeit durchlebt.
Zugegeben, daß diefe Teuerung in beträdtlihem Maße von der Des-
organifation unferes Verlehrsmwefens abhängt, wir müffen aber immer-
bin mit der Tatſache rechnen, daß lebten Endes die Haupt-
Auf dem toten Punft 137
— — nn
rolle die Ergebniſſe der Ernte ſpielen. Wären die Reſultate der
Ernte glänzend, und im Lande noch beträchtliche Vorräte aus der Ernte
des vergangenen Jahres vorhanden, ſo würde die Spelulation natürlich
niemals die Preiſe ſo hinauftreiben können, wie dies moͤglich iſt, wenn
die Ernte ſchlecht war und Vorräte aus der vorhergehenden
Ernte nicht mehr vorhanden ſind.“
Feſt ſteht jedenfalls, daß die Ernte an Sommerkorn und Hafer miſerabel
geweſen iſt und daß auch für das kommende Jahr die große Gefahr droht,
daß keine Ausſaat für die Bauern vorhanden iſt. „Auch die diesjährige Herbſt⸗
ausſaat iſt infolge der Witterungsverhältniſſe und der Einwirkung des Krieges
ungünſtig verlaufen. Allein mit Roggen ſind, wie die „Nowoje Wremja“ feſtſtellt,
im Auguſt beiſpielsweiſe ein Drittel der Felder weniger bebaut worden als
gewöhnlich.“
Die Abrechnungen der Bauernagrarbank zeigen, daß es auch in anderen
Punkten auf dem Lande nicht gut beſtellt iſt. Der Drang der Wirte nach
Erwerb von Einzelgütern bat bedeutend nachgelaſſen und die Bank iſt ge⸗
zwungen, die Richtlinien ihrer Politik zu mildern, und mehr an Genoſſen⸗
ſchaften und Geſellſchaften zu verkaufen, als ſie das früher zu tun pflegte.
Der befannte Nationalölonom Bernatzky hat darauf aufmerkſam gemacht, daß
„die Ziffer des Deſizits auf die Zahlungen der Bauern an die Bauernbank
beſonders erſchreckende Dimenfionen angenommen hat. Statt 18,4 Mill. Rubel
fehlende Zahlungen im Jahre 1913 hat die Bauernbank 1914 — 33,7 Mill.
Rubel Einbuße gehabt, d. h. 52 Prozent Nichteingänge.“ Wenn man dieſe
Ziffer zuſammenhält mit dem Fallen der Durchſchnittspreiſe für die Deſſjatine
von 112 Rubeln auf 110 bis 107 Rubeln, ſo bekommt man ein recht ge⸗
trübtes Bild von dem gegenwärtigen Zuſtand des ruſſiſchen platten Landes.
Und wenn die Ausſaat nicht gut in die Erde gelommen iſt und die Saat
mangelt, ſo können auch die Kriegsgefangenen, die nach dem Innern Rußlands
zurückgeführt werden ſollen, ſchließlich nicht helfen.
Und fragen Sie mich ſchließlich nach den Konſequenzen alles deſſen, fragen
Sie mich danach, ob es nicht vernünftige Leute gibt, die in Rußland das alles
ſehen und auf die eine oder die andere Weiſe all dieſe Gefahren durch einen
großen Ruck vom Volk abwenden wollen, ſo muß ich Ihnen ſagen, daß nach
meinen Beobachtungen zwar das Faltum erlannt, aber der Schluß nicht gezogen
wird. Denn allzu feſt hat ſich dieſe „ruſſiſche Geſellſchaft“ in die Idee dieſes
Krieges hineinverbiſſen und diejenige, die davon loskämen, predigen bewußt
eine Politik der Verzweiflung. Die Karre iſt zu tief im Sumpf. Man fürchtet
zu viel zu erſchüttern, wenn man ſie jetzt mit einem Ruck herauszuziehen ver⸗
ſuchte. Sie kennen Menſchikows berühmten Artikel über „den Umbruch der
Geſchichte“, in dem er auf die unglückliche Finanzlage Rußlands, auf die ver—
mehrte Kinderſterblichkeit des Landes hingewieſen hat, die es bewirlkte, daß
während des Krieges ohne die militäriſchen Verluſte das Wachsſtum der
138 Auf dem toten Punft
Bevölkerung von 17,2 Prozent auf 15,7 Prozent zurüdging! Sein Schluß ift
derfelbe, den Purifchlewifch gezogen bat: wir müljen bdiefen Strieg weiter
führen — fonft find wir ganz verloren.
Daher auch die Aufregung der liberalen Sreife bei dem geringften Ge-
danken an einen Sonderfrieden, die uns fo fomifch anmutende Entrüftung über
die harmlojen Verfuche einer Petersburger Dame, ihre Ydeen über eine Iinderung
der ruffifhen Bolitif einigen leitenden Männern mitzuteilen.
Man Hat den Sinn für die Verhältniffe verloren, man zittert, man ift
nervös.
Und denkt man denn nicht an den Frieden?
— GBemwiß denlt man anihn. Man denkt nur an ihn, — aber man weiß
eben nit, wie man ihn fehließen fol, wenn man nicht jegt noch weiter lämpft.
Man figt zu tief in der Tinte. |
— Und die großen politifhen Ziele? IK babe Thon gefagt, daß man
nur no zu reiten fucht, wa8 zu retten ift. Yon der Stadt der Hagia Sophia
wird nicht mehr gefprohen. Bezeichnend aber fcheint mir die neulich in
der „Zürcher Boft“ von einem Nuffen geäußerte Meinung, „daß in Rußland die
Zahl derer wädft, die nad) Perfien und nad) dem Indifchen Dzean hinweifen“
und „daß die ruffifhe Regierung fi in allerlegter Zeit entfhloffen zu haben
iheint, diefen Weg zu gehen und ernfte militärifche Vorbereitungen trifft, um
Perfien zu befegen und mohl aud, um am Yndifden Ozean Fuß zu fafjen“
Wer Ohren but zu hören, der höre!
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Die Dienftpflicht in England
Zu chon vor einigen Wochen, ehe noch die Faffung der neuen Bill
befannt war, meldete der ftetS gut unterrichtete Londoner Sorre-
1 Ipondent de Mandefter Guardians, daß ihre Annahme im Unter-
bauje als filher gelten fünne. Cr fchähte die Oppofition auf nicht
2 mehr al8 140 Abgeordnete, obwohl er die Partei der irifchen
Nationaliften einrechnete. Seitdem haben die ren, da die grüne Infel von
der Wirkung des Gefehes ausgenommen tft, fi) Darauf befhränft, ihrer Oppofition
prinzipiell Ausdrud zu geben, ohne die Bill, die nur für Großbritannien
Geltung haben fol, weiter zu befämpfen. Die Gegner des Dienftzmanges find
fomit numerifh noch fhwächer geworden, wenn fie aud) in dem früheren Staats-
fefretär des Synnern einen Führer von unzweifelhafter Bedeutung gewonnen
haben. 3 war feine Frage mehr, daß die Bill! mit fehr großer Mehrheit
durchgehen würde. Freilich fcheint ihre Faffung verfhhiedene Abfhwädhungen
erhalten zu haben und die radilale „Daily News“ fpriht die Hoffnung aus,
daß fie überhaupt feine praftifche Bedeutung haben werde, zumal, wenn die
wieder eröffnete MWerbelfampagne Lord Derby3 auf. freiwilligem Wege die Zahl
von Relruten Tiefert, die Kitchener für notwendig hält. |
An ih tft die Bill nur ein fehr bejcheidener Anfang zur militärifchen
Dienftpflict. Ste gilt nur für die Dauer des Krieges und für Die Unverheirateten,
die fi der Werbefampagne Lord Derbys entzogen hatten. Tatſächlich Hatte
freilid eben Ion der Derbyfhhe MWerbefeldzug ein tiefes Loch in das Prinzip
der Freimilligfeit geriffen, denn alle denkbaren Formen moralifhen Zwanges
waren angewendet worden, um die Männer wehrfähigen Alters zu veranlaffen,
fi) zum Heere zu melden. Gleihmwohl rief diefer fo allmähliche Übergang zur
legalen Feftlegung des Prinzips des Etaatszwanges eine fehr ftarfe Oppofition
bervoor. Wenn fie im Parlament bald verjtummte, fo erhoben die Arbeiter-
organilationen ihre Stimme um fo lauter. Bor allem die großen Gewerlichafts-
verbände der Bergleute und Eifenbahner, die bisher die einzigen gemwefen find,
die fi} in corpore vernehmen ließen. Die heißblütigen Bergleute von Südmwales
tebeten fogar von einem politifhen Streil, und alle die, die aus Gemillens-
bedenfen (mie einjt unfere Dtennoniten) gegen die Dienftpflit find, haben fi
in einem Derein zufammengejchloffen. Aber den Gewifjensbedenken trägt die
BIN Rechnung, und die großen Gewerkfchaftsverbände werden ſchwerlich Gelegen⸗
heit finden, in einen Konflitt mit dem Gefege zu geraten, denn bereit im
- DRS
nt
140 | Die Dienftpfliht in England
Anfang des Krieges waren viel zu viel Bergleute und Cifenbahner angemworben
worden, jo daß man die Angehörigen diefer Berufe wohl fämtlich als unablömmlich
behandeln wird. 3 tft daber wohl möglid, daß feine neuen Konflikte für
die Regierung aus dem Gefege entftehen werden, und daß namentlich feine
große Bewegung eines paffiven Widerftandes herausfommen wird. ine parla-
mentarifde Schwähung würde die Regierung allerdings erfahren, wenn
die Mrbeiterpartei, die zu ihrer Generalverfammlung zufammengetreten ift,
bei dem früheren Beichluß der nationalen Arbeiterfonferenz verharrt, und
den Rüdtritt der drei Minifter Henderfon, Brace und RobertS verlangt. Dann
träte die Arbeiterpartei endgültig aus der Koalition aus, und diefe beftünde
nur nod) aus den beiden großen Parteien, Liberalen und Unioniften.
Ein zweifellos großer Verluft war für die Regierung und befonders für
den Premierminijter der Rüdtritt von Sir Yohn Simon. ALS diefer bei ber
Bildung des Koalitionsminifteriums das Amt des Lordfanzlerd, auf das er als
bisheriger Attorney-General von Rechts wegen Anspruch hatte, ablehnte und
id) zum Staat3fefretär des Innern machen ließ, wurde befannt, daß Asquith
ihn zu feinem dereinftigen Nachfolger als Führer der liberalen Partei beftimmt
hatte. rüber hatten abmechielnd Sir Edward Grey und Lloyd George als
die künftigen Parteiführer gegolten, aber der Krieg hat aud) alles dies geändert.
Grey bat vollends in den lebten Monaten ftarf abgemirtfchaftet, und Lloyd
George bat gerade in den entichiedenen liberalen Kreifen, deren Abgott er
früher gewejen war, nahezu alles Vertrauen eingebüßt. Einen Dann wie Simon
zu verlieren, zumal mit der Ausficht, damit der Oppofition einen Führer zu
geben, der ihr bisher fehlte, ift für die Negierung mißlich genug. Wnderfeits
fann eS faum überrafhen, daß fie aud) diefen Schlag überwunden bat. Denn
noch immer befteht feine Möglichkeit, eine andere Regierung zu bilden. Die
offizielle Oppofttion hörte auf zu beftehen, al die Untoniften eine Koalition
mit den Liberalen eingingen, und ihre Führer in das Kabinett eintraten. Was
fih feitdem an oppofitionelen Stimmen im Unterhaufe vernehmen Tick, beitand
aus einzelnen liberalen und unioniftiihen Abgeordneten, denen e8 untereinander
an Zufammenhang und Organifation fehlte und die feinen Führer bejaßen, der
gegebenenfalls mit der Bildung eines neuen Kabinett3 betraut werben fonnte.
Ein Teil der unioniftiihen Prefje bat fih zwar bemüht, Sir Edward arfon
auf das Piedeftal eines künftigen Premierminifters zu erheben, aber nur der
allerbefchräntteiten Parteimeinung lan folder Mangel an Sinn für Proportion
verziehen werden. Ba ift Sir John Simon ein Mann von ganz anderem
Kaliber. Freili, ob in abjehbarer Zeit Sir John eine Führerftellung einnehmen
oder fie au) nur anjtreben wird, wird von den Umftänden abhängen. Einit-
mweilen bleibt alle& bein alten, d. 5. die Koalitionsregierung, die im Grunde
eine Kombination Asquitb-Balfour ift -— man bdenft unwillfürlih an den
Premierminifter Balsquitd in dem Suffragettenftüd Bernard Shams — ijt
unerfegbar und jchwer zu bejeitigen. Das ändert daran nichts, daß fie innerlic)
A =
1
—
>
Die Dienftpfliht in England 141
nicht ftärfer wird, fondern ihre Kräfte mehr oder weniger langjam verbraudt.
Man braudt nur die Neden zu lefen, die Asquith feit den Zage, als er die
Koalition ankündigte, im Unterhaufe gehalten hat, um den Unterfhied gegen
fein früheres Auftreten zu ermeilen. Bon den Neden GreyS gilt basfelbe.
Freilih, die Erfolge des Foreign Office geben feinen Stoff für oratorifche
Slanzleiftungen. Grey ilt ein ftiller Mann geworden, und es ift wohl glaublich,
daß er, wie man fagt, amtSmüde ift und fi) fchon lange mit Rüdtrittswünfchen
trägt. Aber au er ift fchwer zu entbehren. Zwar hat man jegt in
Lord Robert Cecil einen Mann, der ba8 Foreign Office mit Gefchid und
Erfolg im Unterhaufe vertritt, fo daß man einen Peer zum Staatsfefretär
maden Tönnte, aber der Rüdtritt Greys, der vor allen anderen mit der Strieg3-
politif England3 identifiziert wird, würde in Baris einen allzu peinliden Eindrud
bervorrufen. So fchleppt fi das Kabinett durch die lUingunft der Zeit Hin,
an der inneren Unnatur der Koalition Tranlend, ein Kabinett unausgleichbarer
innerer Gegenfäge und emwiger Komproniiffe, ein Kabinett der langjanen und
widerſpruchsvollen Entſcheidungen. Man kann es ſchon glauben, daß in England
der Wunſch weit verbreitet iſt, von dieſem Miniſterium des Wirrwarrs (muddle)
erlöſt zu werden. Gäbe es eine verantwortliche Oppoſition und damit eine
alternative Regierung, ſo wäre das jetzige Kabinett längſt geſtürzt. Aber die
jüngſten Vorgänge haben deutlich gezeigt, daß eine viel größere Kriſis und ein
viel ſtärlerer Anſturm dazu gehören würde, um ein neues Miniſterium zur
Herrſchaft zu bringen. Im Dezember iſt ja viel von einem Kabinett Lloyd
George geſprochen worden. Aber ein neues Kabinett könnte nur durch einen
gewaltſamen Sturz des jebigen und auf den Trümmern der Koalition auf
gerichtet werden. Wenn Lloyd George ans Ruder küme, fo würde er fein
liberales und fein Koalitionsminifterium bilden, fondern ein unioniftifches. Gerade
von liberaler Seite ift da8 mit aller Deutlichleit ausgeiprodhen worden. Wohl
die meilten liberalen Minijter würden ablehnen, unter Lloyd George zu dienen,
no würde die große Mehrheit der Partei ihn als Führer anerkennen.
Aber aud) Unioniften wie Balfour werden fehwerlihd mitmachen. Dielleicht
würde eine ganz neue PBarteigruppierung entjtehen, aber jedenfalls erft auf den
Zrümmern der Koalition. Unmögli wäre eine foldde Entwidlung nicht, denn
einmal muß doch die Hückehr zu dem alten Syftem der Parteiregierung erfolgen,
und ob da8 erjt nach dem Kriege geihehen wird, fteht dahin. Vorläufig aber
find wir no nit fo weit, und die Tage des Koalitionskabinett3 find noch
nicht gezählt.
Was ift nun vom militärifehen Gefihhtspunlt als das Ergebnis der Dienft-
pflitbil zu erwarten? Man erinnert fih, daß beim Ausbruch des Krieges
England über ein Tleine8 Expeditionslorp8 von 160 000 Mann verfügte, das
für den Überfeedienft beftimmt war, und eine Territorialarmee, die nur zur
Zandesverteidigung verpflichtet war. Das war das Nefultat der Haldanejchen
Heeresteform, die, nach verjchiedenen mißglüdten Verfuchen des KabinettS Balfour,
142 Die Dienftpfliht in England
die Armeefrage nah dem volftändigen Zufammenbrudh ber militäriihen Dr-
ganifation im Burentriege gelöft hatte. Zwar hatte der verftorbene Lord Robert
zehn Jahre lang die Notwendigkeit eines großen Zandheeres gepredigt, aber er
fand kein Gehör. Ameifellos beftand ein flarfer innerer Widerfprud zwiichen
biefer britifden Wehrverfaffung und einer britifhen Kontinentalpolitit, wie fie
durch die balbamtliden Abmadungen der englifhen mit den belgifhen und
[päter mit den franzöflfchen Militärbehörden angebahnt war. Aber zugleich
beitand in ber damaligen PBolitil des Liberalen Kabinett$ eine Tendenz, fi aus
ber Bolitif des europäifchen Kontinents berauszuziehen, und obendrein ftanden
der Vermwirklihung von Lord Robert Ydeen im Frieden ungleich größere
Schwierigleiten gegenüber, als fpäter während des Krieges. ener Widerfprud)
zwiihen Webrverfaffung und Bolitit wurde alut, al England durd) feine Kriegs⸗
erflärung die Wiederaufnahme feiner Kontinentalpolitit aufs jehärfite betonte.
Die Wehrverfafjung mußte alfo vollftändig geändert werden. Das Erpeditions-
forp8 war nad) den erften Kämpfen in Frankreich) nur noch ein Bruchteil feiner
früheren Stärke. Hier febte nun Lord Kitchener8 Drganifation ein, und aud)
der Gegner barf fein Werk nicht verlleinern wollen. Er bat die heutige britiiche
Armee geichaffen, und zwar unter den allergrößten Schwierigfeiten, denn es
fehlte an allem, an Waffen, Munition, Kafernen, Uniformen, und vor allem
an Offizieren. Sein Werbefyitem hatte einen großen numerifhen Erfolg, und
bis in die legte Zeit ift England mit feinem freiwilligen Spftem ausgelommen.
Der Appell an den Patriotismus verfehlte feine Wirfung nicht, wenn aud
freilich vielfach mit den alergröbften Mitteln gearbeitet werden mußte. Aber
die heutige britifche Armee ift nach ihrer fozialen Zufammenfegung in demjelben
Sinne eine nationale Armee wie die des übrigen Europa, während bisher ihr
nationaler Charakter nur dur das Dffizterforps verkörpert war, wie in der
Armee Friedrihs des Großen. Die Engländer brauchten felbft einige Zeit, um
fi diefe Ummandelung zu vergegenwärtigen; anfänglich erregte e8 großes Auf-
fehen, wenn ein gewöhnlier „Zommy” in einem vornehmen Reftaurant oder
Hotel erfhien. Somohl die oberen als die unteren Klafjfen haben dem Werberufe
in großen Scharen Folge geleiftet, Dagegen fcheint von den Mittelflaffen ein ver-
bältnismäßig größerer Teil fih „gebrüdt”“ zu haben.
Welche Nachteile diefe improvifierte Armee haben möge — am meiften
fol das neue Difizierforps zu wünfcdhen übrig Iaflen, was aber bis zu einem
gewiffen Grade durch den Stellungsfrieg weniger fühlbar wird — die Drgani-
fation Kiichener8 ift geglüdt, und fie fit feit einer Anzahl von Monaten im
wefentlihen fertig. Bezwedt nun die neue PDienftpflichtbill eine weitere Der-
mebrung der Effektivftärle? Und tft eine foldhe überhaupt no möglih? Für
England beftehen gewilje Grenzen, über die hinaus es fein Heer nicht gut ver-
mehren Tann. England Hat fidh felbit und feine Verbündeten mit Krieggmaterial
zu verforgen, e8 bat den Strieg der gefamten Koalition zu finangteren, und e8
muß feine Staatsfinanzen durch feine Ausfuhrinduftrte folvent erhalten. 8
Die Dienftpflidt in England 143
darf alfo nicht einen fo großen Zeil feiner Bevöllerung in die Armee fteden,
daß es dadurch die Yähigleit verlöre, jene andern wichtigen Aufgaben zu er-
fülen. Lloyd George felbit hat, alS er noch Schaklanzler war, dies als erfter
formuliert. Im Iebter Zeit haben der neue Schaklanzler Me’Kenna und ber
Handelsminifter Runctman diefen Grundfat energifch betont. Es wurbe fogar
ohne Widerfprucy) von angefehenen Zeitungen gemeldet, daß fie mit ihrem
- Rüdtritt gedroht hätten, wenn das Kabinett nicht einen formellen Beihhluß gegen
die uferlofe Bermehrung der Armee fahte. Nach den Iekten Nachrichten fcheinen
fie mit diefer ihrer Forderung durhgedrungen zu fein, und dadurch erflärt fidh
au, daß fie im Kabinett geblieben find. Stitchener hat im Unterhaufe erklären
lafien, daß die Mannfhaften, die die Dienftpflichtbill verfpräche, genügten, um
„den Sieg zu fihern“. ES ift nicht ganz deutlich, ob diefe Grenze, die man
jest für die Heeresftärke gezogen hat, dem Beichluffe entipricht, den das Kabineit
bereit8 vor mehreren Monaten gefaßt hatte. Damals befchloß es, eine beftimmte
Anzahl von Divifionen aufzuftellen, und biefer Beichluß ift der franzöfifchen
Regierung mitgeteilt worden. E83 lag aljo zwar feine förmliche Verpflichtung
gegenüber Frankreich vor, jene Anzahl von Divifionen wirklich aufzuftellen, aber
bo etwas ſehr Aynliches, denn die Franzofen haben natürlich ihre eigenen
Pläne diefen Ausfichten gemäß eingeritet. ES ift nun nicht ganz deutlich, ob
die Forderung Me'Kennas und Runcimans darauf binausging, die Vermehrung
des Heeres nicht über jene Zahl von Divifionen zu vermehren, oder ob fie
diefe Zahl verringert willen wollten. Nach einigen Außerungen der „Zimes“
Iheint das lehte der Yall zu fein. ebenfalls fcheint das ganz Mar zu fein,
daß es fich bei der neuen Bill nicht um die Aufftellung neuer Truppeneinbeiten
bandelt, fondern lediglich um die Beichaffung von Erfat und Neferven. Es iſt
ja wiederholt darüber gellagt worden, daß gemwiflen Truppeneinheilen der nötige
Erfap fehle, und die Bildung der Neferven fcheint in der Tat ein fhwader
Punkt der Kitchenerfchen Drganifation zu fein. Was immer das zahlenmäßige
Ergebnis der neuen Aushebung auf Grund des neuen Gefehes fein wird, das
wird man annehmen dürfen, daß die neuen Mannſchaften nur bazu dienen
werden, die bereit3 beftehenden Divifionen aufzufülen. Und wenn ihre Zahl
dennoch nicht, wie Kitchener fo zuverfichtlich erflärt hat, „den Sieg fihert”, fo
wird die Regierung einen Schritt weiter auf bem fteinigen Wege zur allgemeinen
Wehrpflicht gehen müflen.
Der neue Sohn des Himmels
Don Erih von Salzmann
(Schluß)
Die fremden Bejagungstruppen ftanden no) an den verf&iedenften Punkten
der Provinz Tidhii. Wo man jedoch binfam, fand man fehon neben ihnen,
neuartig ganz in Schwarz gelleidet, chinefifche Truppen. Das waren die TZurban-
träger Yuanidilais. yhre Heidfame einfache Kopfbededung gab ihnen ben
Namen. Der dunkle Ernft ihrer Uniformen ftad merfwürdig [harf gegen die
legten bunten zerlumpten Überbleibfel der alten dinefifchen Armee ab. Pie
Leute fühlten fi al3 Diener ihres Herrn, fie waren ftol3 und zurüdhaltend,
ein ganz neuer Schlag Menihen unter den Chinefen. Die Yührer waren
Nuan treu ergeben. Sie wurden prompt bezahlt, fie plünderten nicht, fie
raudten fein Opium, fie bebrüdten das Boll nit, und — fie taten Dienft
von morgens bis abends. Wer fi von ihnen jchleht aufführte, dem flog
fhnell der Kopf herunter. Der große Herr in Zientfin fadelte nicht ange.
So wuchs Yuans Madt geradezu unheimlid an. Aber auch auf anderen
Gebieten hatte er von den Yremden gelernt. Bi8 zum Jahre 1902 hatte
Zientfin Stadt und den großen zu ihr gehörigen Bezirk eine internationale
proviforifhe Regierung verwaltet. Kein geringerer war ihr Herz und ihre
Seele gemwejen und hatte fie in geradezu genialer und vorbildlider Weife ein-
gerichtet, alS der jetige Chef des Generalftabes der deutichen Armee, General
ber Infanterie von Fallenhayn. Er ift nicht nur ein Meifter des Schwertes.
Er bat damals zum Staunen der Beteiligten gezeigt, daß er auch außerordent-
liche Fähigkeiten auf den Gebieten ziviler Verwaltung und Drganifation befigt.
Auf dem Ergebni$ der [hamlojen Mikmwirtihaft vieler Jahrhunderte, auf einer
innerli und äußerlich total verrotteten Verwaltung aufbauend, hatte Fallenhayn
e3 verfianden, in furzer Zeit einen neuen Keinen Mufterftaat zu jchaffen. Er
hatte den größten Teil einer verbrannten und zerfhoffenen Millionenftadt nieber-
gerifien und eine neue größere, modernen Anforderungen entiprehende Stadt
wieder aufgebaut. 3 Täpkt fih hier nicht aufzählen, was da alles in zwei
Jahren gefhaffen worden war. Niefenhaftes war entftanden, und neues Leben
blühte überall. Die Kafien waren gefüllt, und es war nicht [chwer für
Yuanfdilai, nun von neuem anzufangen. Yuan fann heute Yaltenhayn viel
danken, denn nur an Yallenhbayns Schöpfung anlnüpfend, war es ihm nun
Der neue Sohn des Bimmels 145
aud) jeinerfeitS möglich, mit al dem fürdhterlihen Wuft chinefifcher Überlieferung
rüdfichtslos zu bredien und modern zu wirtichaften. Sabre jegenzreichen
Schaffens vergingen auf diefe Weile. Yuan feitigte feine Pofition immer mehr.
Die Zahl feiner Anhänger wuchs ins Niefenhafte, den Machthabern in Peling
wurde der Dann unheimlid. Ging das fo weiter, fo war vorauszufeben,
daß er eines Tages den fowiefo wadeligen Thron ftürzen und fi felbit auf
den neu aufgerichteten jehen würde. Ein folder Fall wäre ja nicht der erfte
in der hinefiichen Gefchichte gemefen. So feste die Intrige ein. Die Wühl-
arbeit der um bie Haiferin-Witwe fitenden PBrinzenclique — durch Jahrhunderte
alte Erfahrung gewißigt wie feine andere Hoflamarilla — vermochte den
großen Mann nicht ganz zu ftürzen. Seine Amtsführung war unangreifbar.
Der Fuchs war zu fchlau gewefen, ih auch nur die geringfte Blöke zu geben.
@3 war nicht leicht, ihn zu befeitigen, aber e8 gelang do. Das Unerhörte
geihah. Yuan, der feines der großen Ktonlurrenzeramina auch nur als Iehter
zu beftehen vermocht hatte, wurde eines Tages gewürdigt, al8 Großfelretär
in den Pelinger Staatsrat berufen zu werden. Um ihm die Pille zu ver-
zudern, berief man zu gleicher Zeit feinen [härfften politiichen Gegner, den
erften Literaten des Reiches, den zugleich reaktionären und doc fortichritilich
gefinnten Bizelönig von Hulwang, Zihangtihitung, in den gleichen Staatsrat
nah Peling. Man ftellte auf diefe Weife mit einem Schlage die beiden
politiih mädhtigften Männer des Reiches Lalt, fperrte fie in den goldenen Käfig,
hette fie damit aufeinander und entlleidete fie jedenfall aller realen Madht-
mittel. Dem Yuan nahm man fein Heer, feine ureigenfte Schöpfung fort, und
übergab fie dem reaftionären mandfhurifhen Kriegsminifter Tiebliang. Durch
diefen Schlag f&haltete man auch diefen leteren jchwerwiegenden Yaltor glatt
aus. Das Heer zählte nicht mehr.
Zbeoretifch arbeiteten die beiden großen Männer in Peling ein umfaffendes
Neformprogramm für alle Gebiete der StaatSverwaltung und des Neiches aus.
Sole tbeoretifche . Ausarbeitungen machen fih in China ftetS wundervoll.
Sie find wie die Heeresbefehle Foffres. Wenn alles das einträte, was in ihnen
verfprocdhen wird, dann hätten wir bald das Paradies auf Erden. Sie wirken
auch wie Soffrefhe Ziraden, alles ift begeiftert, und hinterher iſt — nichts.
Die Wühlarbeit gegen Yuanfdhilai ruhte troßdem nie. Sein Sprecher bei
Hofe war der damals mädtigfte Mann des Neiches, der Senior des Taifer-
lichen Hauſes, Fluang, Prinz von Tihing. Wiederum vergingen zwei Sabre.
Die Alte auf dem Throne regierte nach probatem Mittel: Divide et impera.
Sie war Müger alS die meilten ihrer Zeitgenoffen und badjte im übrigen wahr-
iheinli: Nah mir die Sintflut. Mögen meine Nachfolger für fich felbft forgen.
1908 ftarb fie und mit ihr — auf heute noch nicht aufgeflärte Weife —
der Kaifer Kmangfü. Das Durcheinander ded Damals noch volllommen mittel-
alterliden Hofes war geradezu entfeglih. Ber Kampf der Prinzen und Hof-
parteien tobte, alle Mittel waren wieder einmal geredht. Die Alte hatte wohl
Stengboten I 1916 10
146 Der neue Sohn des Bimmels
weniger an das Wohl ihres Reiches gedacht, al8 an das ihrer eigenen Familie.
Gie ift aus dem Stamme Vehonala der Mandjhus und dachte, den Sproffen
diefe8 Stammes die Macht zuzumenden. Gie hatte Mare Bahn gemacht, indem
fie Kmwangfü aus dem Wege räumen ließ. Yhre Wahl führte den Enkel ihrer
letbliden Schweiter, den Sohn des Prinzen Tihun und der Tochter Yunglus
auf den Thron. Ein unmündiges Kind war damit der neue Sohn des Himmel.
Das Unglüd wurde geradezu beraufbefhmworen. Die Partei des Prinzen
Tihing und Yuanfhilais war Taltgeftellt, denn der Vater des Kaifer$ war der
Halbbruder Kmwangfüs, der feinerzeit gerade durch Yuanfdilais Verrat auf
dem Stnfelpalaft zu freublofem Dafein interniert worden war. Der Vater bes
Kaifers war zugleich ReichSverwefer, er ift auch in Deutichland wohlbelannt.
3 ift der Sühneprinz Tfehun, der im Jahre 1901 die Entjehuldigungen für
bie Ermordung des deutfchen Sefandten von Kettler in Potsdam vorzubringen
hatte. In feinem laum entzifferbaren Zeftament batte der fterbende Kwangfü
feinem Bruder Thun geboten: „NRädhe mid an Yuanfchilai!”
Für Beling gab e3 damals bange Monate des Wartend. Die Ein-
geweihten wußten, daß durch die Neubefegung der großen Staatsämter Yuans
Stunde geidhlagen hatte. Am Januar 1909 traf ihn der Bannftrahl der In-
gnade. Durd Taiferlihes Edit nahm der Neichsverweier ein Gefuh Yuans
um Entlaffung aus allen feinen Ämtern an. Zugleih wurde er angewiefen,
fein „Beinleiden” in feinem Heimatsorte in der Provinz Honan auszulurieren.
Man warf ihn einfach, wie einen läftigen Nichtötuer, hinaus. Das war der
Dank des mandfhurifhen Satferhaufes für Yuans viele dem Vaterlande ge-
leifteten Dienfte. Sein Hund hätte noch ein Stüd Brot von ihm genommen,
lein Straßenluli au) nur einen Kupferfäfch mehr für fein Leben gegeben. Auch
der alte Prinz Tiing fehlen ihn nicht retten zu Lönnen. Nur wenige Leute
von Yuans LKeibgarde blieben ihrem Herrn Ireu. Yuan floh nad) Zientfin und
ftieg dort .unerlannt im Hotel der Fremden ab. Der Bizelönig follte ihm
helfen, er war feine Kreatur. Der verfagte fi ihm. Dankbarleit ift in China
unbelannt. Der Chinefe ift der fchlimmfte Opporiunift uhd Mtaterialift. Alles
&ien verloren. Yuan reifte nad Peking zurüd. Er war ein gebrodener
Mann. Die Stadt war voller Gerüchte Drientaliſche Gropftädte haben im
ganz anderer Weife Augen und Ohren für die Gefchehniffe des Tages, wie
unfere Städte. Niemand Half dem Berlaffenen. Niemand kannte ihn mehr.
An einem trüben Januarmorgen ftand er fat allein auf dem Chienmen-Babndof
und beftieg einen nach Sübmelten gehenden Extrazug, um in feine Heimat zu
reifen. Nur zwei Leute fahen ihn dort. Der eine war fein Yreund Sunpautfdt,
bis dahin Gefandter in Berlin, und ein deutfher Yournalift, Dr. M. Krieger,
weldder dur Zufall Kenntnis von der Stunde ber Abreife befommen hatte.
Bis zur lekten Minute glaubte man allgemein, daß ein Attentat es gnädig
mit dem Geftürzten machen würde. Jedoch das Schidjal hatte Größeres mit
biefem Manne vor. 3 verfhonte ihn; er hatte Jahre Zeit, fi in feiner
Der neue Sohn des Himmels 147
Heimat zu fammeln. Ber Bollsmund fagte damals, er führe das Leben eines
einfahen Landmannes, der Gincinatti Chinas. Pod Yuan war nicht ftil.
Auch in diefer Zeit Tiefen die politifhen Fäden in feiner Hand zufammen.
Ständig gingen die Boten bin und ber. In Peling bielt unterdeijen jein
ältefter Sohn, Yuanloting, die Wacht für ihn.
Sin den Jahren bis zu feiner Verbannung babe id Yuan mehrfad in
Beling gefehen. Er war hagerer im Gefiht geworden. Die Haare fingen an,
leiht zu ergrauen, die Stirn hatte Falten befommen, nur die bezmwingenden
Augen brannten im alten Feuer. In feiner Kleidung war er oft merkwürdig
vermadläffigt. ALS er Peling verlafien hatte, fügte es fi, daß ich mit feinem
Lieblingsfohne Yuankoting fehr oft in Berührung fam. ch bin in biefer Zeit
viel in dem dem alten Yuan gehörenden Haufe nahe dem öftlihen Blumentor
der faiferliden Stadt gemefen. E38 ift einer jener großen aber doch nicht ſehr
weitläufigen Damen, der in feinem Innern zahlreiche, durch) Galerien verbundene
Häufer, Felfengärten und Heinere Höfe aufweilt, wo Yuanfdilai und feine
Familie, wenn fie in Beling weilten, wohnten. Der ältefte Sohn bes jegigen
Kaifers tft ein jehr intelligenter, wenn auch neroöfer Menfh. Er befitt eine
außerordentliche Kernbegier und hat fi) zu diefem Zmwede eine fehr umfangreiche
und gediegene Bibliotbel europäifher Schriftfteller zugelegt. Unter biefen
Werken fand ich viele unferer großen Militärfchriftfteler.. laujewig und
Moltle, fogar Friedrich der Große waren vertreten. Einem Chinefen fehlt aber
leider jeglide Grundlage zum Studium der Gedanlen diefer großen Gelfter.
Milttärifcheftrategifche Ausführungen find dem Chinefen genau fo fremd, wie ung
die Jrrwege und merkwürdigen Mittel orientalifher Politit. In meinen Unter-
baltungen mit dem jungen Yuan, die wir neben unjeren Spradjftudien oft führten,
fand ich daher ‚bald heraus, daß ihm die Auffaflung, die wir von Baterlands-
liebe und Hingabe unferes Beiten für das Baterland haben, fremd blieb.
Diefer Lieblingsfohn Yuanfchilais hatte fpäter das Unglüd, fich bei einem Sturz
mit dem Pferde einen fchweren Schädelbrudy zuguziehen, der fehr fchleht aus⸗
geheilt wurde. Am Winter 1913/1914 verfudte er — zu fpät allerdingg —
bier in Deutichland Heilung, eventuell duch Hirurgifhen Eingriff. Der drohende
Weltkrieg z0g ihn vorzeitig nach feiner Heimat zurüd. In der Zeit meines
Berfehrs mit ihm babe ich oft in feinem Haufe die Männer gefehen, die jest
wieder um Yuanfcilai figen und feine treueften Stüben find.
Die Zeit ging unterdefjen ihren Lauf. In den Jahren 1909, 1910 und
1911 mwirtfchaftete der fchwadhe Prinzregent volllommen auf Abbrud. Die
Zuftände bei Hofe fann man wohl ruhig al8 fchamlofe bezeichnen. Weiber,
befonder8 aber die Veit Ehinas, die Eunuchen, eine unglaublide Zahl ruchlofes
Gefindel von Hofbedienfteten, babgierige Prinzen und Beamte, und nicht zum
wenigften europätfhe Charlatane aller Nationen, fpielten eine gemiffe Rolle,
was in China gleichbedeutend ift mit fynellem Geldverdienen. Riefentonzeffionen
wurden an Unmwürdige verjchleudert, das Geld lag wirklich in Beling manchmal
10*
148 Der neue Sohn des Bimmels
auf der Straße. Die Weiberwirtichaft in der Stadt und au an vielen anderen
Bunkten des Reiches ftieg ind Unglaublide. Niemand fhien mehr an bie
Zukunft zu denken, nad) dem Prinzip: Lat uns leben und Iuftig fein, denn
morgen find wir tot. Der Knocdenmann ließ denn auch nicht Iange auf fi
warten. Die Eingeweibhten wußten es längjt, daß man in China auf einem
Bullan tanzte. Die Revolution ftand vor der Tür.
Ym Herbft 1911 brady fie aus und fand ein fhwades Gefhledht. Die
Mandſchus und ihr Anhang, die jämmerlihen Nahlommen großberziger Er-
oberer, wurden in wenigen Monaten binweggefegt. Mich felbft traf die Nad)-
richt des Ausbruch der Revolution im innerften Sumatra, im Hochgebirge, wo
ih Heilung von fhwerem Tropenfieber fuhte. Mit allen Möglichkeiten reifte
ih nad Norden. Mein Weg führte mic über Padang, die Norbipihe
Sumatras, nad Penang, Singapore, Hongkong und fchlieklih Schanghai. Als
dort unfer Dampfer morgens einlief, erlebten wir gerade den großen Augenblid,
al8 die hinefifhe Kriegsflotte das gelbe Taiferlide Dracdhenbanner nieber-
holte und zum fünfftreifigen Revolutionsbanner überging. Wir fahen Motor-
barfafjen an einzelne Kriegsfchiffe heranfahren. Einige Difiziere fliegen an Ded
der Kreuzer, und Eurz darauf fand der Flaggenmwechfel — ohne daß es zum
Kampf fam — ftatt. Die gejamte Flotte Chinas war damals, ebenfo wie nod)
gegenwärtig, ein Element, das die Negierenden nicht in ihre Berechnung einzu-
ftellen vermodhten. Heute dient fie dem und morgen jenem. Das Bünglein der
Mage hält der in der Hand, der am meijten zahlt. Ach fagte fchon einmal,
die Begriffe von Ehre und Vaterlandsliebe find in Deutfchland und dem fernen
Drient außerordentlich verfchieden. |
Sm Dezember 1911 war ich wiederum in Peling. Der Regent und bie
Leute um ihn waren wie bülflofe Kinder, als ob fie nie etmas von Volksrecht
und Bollswillen gehört hätten. Alle biefe Leute Yebten mit ihren Anfhanungen
no um zweihundert Jahre zurüd. Das Prinzip des Herrfchers war: „L’etat
c'est moi“, und al8 e8 nun anders fam, da verftanden fie nicht einmal wie
ihre großen Ahnen, mit Anftand in den Tod zu gehen. Das Bild, das der
berrihende Mandichuadel bot, war das denkbar Häglichfte und erbärmlichfte der
Well. Man fehrie nad dem Danne, den man drei Inappe Sabre vorher wie
einen [omugigen Kuli aus dem Haufe gejagt hatte. Der follte nun das
Baterland retten. — Yuanfhilai. — Und der große Dann fam aus feiner
Verbannung. Er ficherte fih Vollmadhten. Im befonderen verhandelte er erft
mit den Fremden, um das fiher zu ftellen, mas befanntlid) erftens, zweitens
und dritten? zum SKriegführen gehört, nämlid — Geld. Die Fremden
hatten Vertrauen zu diefem Manne und fagten ihm nur feiner Perfönlichkeit
wegen bie Gewährung der Anleihen zu, die er verlangte. Dann fhidte Yuan
das faiferlihe Heer gegen die Rebellen. Yu diefem Heere faß noch immer ein
Tunle feines Geiftes und Willens. Die Faiferlihe Armee flug die Rebellen
leiöt, wo fie au immer zufammentrafen. Yuan hatte viel Undant erlebt, er
Der neue Sohn des Bimmels 149
fannte feine augenblidlichen Herren, die Mandfhus. Die Boten gingen bin
und ber, und wie er mit dem Hofe verhandelte, jo verbandelte er auch mit ben
Nebellen, mit den Fremden in Beling und auch mit den vom englifchen General«
fonful geführten Fremden in Schanghai. Die Fremden waren nämlich auch ge-
teilt. Die Gruppe der Fremden in Peling, befonders die Diplomaten, wollten
die Oynaftie — nad) dem Mufter der Vorgänge vor einem halben Jahrhundert mäh-
rend der Taiping-Revolution — ftügen. Dem ganz entgegengefeht arbeitete bie
Schanghaier Großlaufmannfchaft, vertreten dur die Dandelöfammer und den
englifchen Generallonful Sir Frazer, der fi jo merkwürdig in ausgeiprochenen
Gegenjag zu feinem Gefandten in Peling fegte. Um da3 Maß voll zu machen,
fhrie die einflußreiche Gruppe der amerilanifhen Miffionare in Schanghai, nad)
dem probaten Mufter von „Moral und Humanität”“, nach Abhilfe der unerhörten
Mipftände. MWahrfcheinlich hat Tehtere8 am melften gewirkt, denn kurz darauf
war bie faiferlihde Sade nicht mehr zu halten. Der Bertraute Yuanfchilais,
ber zugleih Spezialgefandter in Schanghai war, um mit den Führern der
Aufftändifchen zu verhanteln, der vielgewandte und ausgelodhte Fuch8 Tangfhauyi
— felbftverftändlid ein amerifanifches rziehungsprodultt — ging glatt ins
republifanifche Lager über. Und das war der Beginn vom Ende. Die An-
leihen der Belinger Regierung fielen durh, und ohne Geld lann man feinen
Krieg führen.
Die Ereigniffe nahmen einen fchnellen Lauf. Yuans Heer demoralifterte
und verbrüberte fih bald mit den Aufitändifden. Der Laiferlide Hof verlor
vollfommen den Kopf und fonnte fih zu nichts mehr aufraffen. Schließlich
beiraute die nomjnell die Regierung führende SKaiferin-Witme Lunyü den
Yuanjdilai mit Generalvollmadt in jedem Sinne. Yuan hatte längjt im Ge-
beimen gehandelt. Nun konnte er offenes Spiel wagen. Yuanfdilai war mit
einem Schlage der Yührer des ganzen Nordens geworden. Langjam aber
fiher ftellte er nun den ganzen Hof Talt. Er beruhigte die Aufftändifchen und
verfprach ihnen goldene Berge. Auf gut hinefiih beißt das: er bezahlte ihre
Anführer, gab ihnen hohe Anftellungen, Zitel und Orden, und damit waren
fie, wenigftens vorerft, til.
Am Februar des Jahres 1912 erließ dann der junge Kaifer jene brei
berühmten im alt-fonfuztantfhen Stil gehaltenen formoollendeten Ebdilte, in
welchen er auf den Thron verzichtete. Yuanfcilat war damit auch Außerlic)
almädtig. Noch drohte jedoch der Süden, denn die Sunyatfen, Huangfhing
und Genofjen waren mit den unglaublid) hohen ihnen zuteil gewordenen Ab-
findungsfummen nod nicht zufrieden. Site wählten zwar Yuanjchilai zum
Präfidenten, forderten aber zugleich, daß er nad) der alten jüdlichen Hauptitadt
der legten nationaldhinefifchen Dynaftie, dem am Yangtfeftrom gelegenen Nantling
fomme, um dort den Eid als Präfident abzulegen. Die Füdfe im Süden
wollten Yuanfdilai damit aus dem Schuhe feiner Bajonette und des mauer-
umgürteten Peling berausloden, um feine Perfon tn die Hand zu bekommen.
150 | Der neue Sohn des Himmels
Das Ionnte Yuan niemals tun, denn dann wäre er verloren gewefen. Go
griff er zu einem verzweifelten Mittel.
Man führt das, was nun gefhah, oft auf ihn zurüd. Ermiefen ift fein
Anftoß zu den fehmweren Unruhen, die Ende Februar ganz Norbchina umtobten,
jedenfalls nit. Die politifche Konftellation aber muß um$ jeht, vier Jahre
nad) den Vorfällen, geradezu zwingen daran zu glauben, daß Yuans Partei
den Aufruhr anzettelte, um die Perfon des Präfidenten in der Hauptitabt
feftzubalten.
Am 29. Februar 1912 brad) in Peling — felbft allen Beobadhtern der
Lage unerwartet — eine große Soldatenrevolte aus. Die dritte Divifion der
Kerntruppen Yuans meuterte, erzwang den Eintritt in die Mandichuftadt Pelings
und plünbderte, fengte, zerihlug und verbrannte einen großen Teil der Stadt.
%h babe in diefer Schaltiahrsnadht ein fehr merfwürdiges Erlebnis gehabt, das
fi wohl lohnt, erzählt zu werden.
E3 war gegen elf Uhr Nachts. Der ganze öftliche Teil der Mandfchuren-
ftadt brannte Yichterloh.' Die Schüffe Trachten von allen Seiten. Die Gefandt-
ſchaftsſchutʒzwachen hatten das gefamte Gefandtfchaftspiertel abgeipertt. Das
Durcheinander und Elend unter den Chinefen war entfeblih. Ih Hatte mir
alles angefehen und war nad) der deutichen Gefandtichaft gegangen, um dem
Gefandten, Herrn von Harthaufen, meine Eindrüde zu erzählen. Dort traf ih
den Neferendar Wagner, einen Herrn der Gefandtfaft. Diefer bat im Namen
de8 Minifters Sunpautfht um einige Soldaten al Schub, um die an den
Sohn des Prinzen Ticjing verheiratete Tochter des Minifters zu retten. Der
im Innern der Stadt Tiegende riefige Palaft des Prinzen war bereit8 in großer
Gefahr, erftärmt und geplündert zu werden. Soldaten konnte Herr von Hart-
haufen nicht geben. Die fiedzig Mann unferer Schubwache genügten faum, um
die außerhalb des Gelandtfchaftsviertels Iebenden bdeutichen Frauen zu reiten.
So erbot id mich freiwillig, dem mir mohlbelannten und befreundeten Sunpautfchi
zu helfen. “ch ging nad) dem benachbarten Fremdenhotel. Dort traf ich ihn.
Nach kurzer Unterredung beihloß ih, mit einem Wagen nad dem Palaft zu
fahren und dort mein Heil zu verfuhhen. Nach langem Hin und Her erhielten
wir einen Wagen vom Hotel. Kein chinefifcher Pferdefnecht wäre um Millionen
zu bewegen gewefen, den Wagen durch die brennende Stadt zu fahren. So
jegte ich mich Furz entfcploffen auf den Bod und fuhr felbft. Hinten im Wagen
faß der Minifter Sun, übrigens ein fehr liebensmürbiger und uns Deutfchen
recht befreundeter Mann. Für einen anderen hätte ic) mein Leben nicht fo
ohne weiteres in die Schanze gefhjlagen. Die Fahrt ging log. Die fi} ftets
dur) ihre Brutalität auszeichnenden amerifanifhen Soldaten verweigerten mir
— ohne jeden Grund — die Durdfahrt an der amerilaniihen Gefandtichaft,
ihrien mid rüdjihtslos an und riffen mid) beinahe von Bod herunter. Gegen
wehrloje Leute find biefe amerifanifchen, in Norbchina tibel beleumbdeten
Helden immer tapfer gewefen. So mußte ich umfehren und durd) das ganze
— — —
ns
Der neue Sohn des Himmels 151
Sefandiihaftsviertel und die brennende Dftitabt fahren, um den Palaft zu
erreihen.. Wie gerufen fam mir ein Deutfher in den Weg, ein Herr Kraife
vom PBoftminifterium. Diefen fehte ich Hinten in den Wagen ald Schub bes
Minifter8 gegen allzufreche chinefifhe Soldaten. Dann ging es binein in da8.
Feuermeer. Das war nicht jo einfach, denn das Pferd ftreilte fortgefeht, und
alle paar Schritte ftarrte un3 ein blankes Bajonett entgegen. Wie ftetS im
Leben half aber auch, bier gut zureden. Manchmal gab c8 aud auf gut
Hinefifh Iharfe Worte und für das Pferd die Peiifhe. Nicht umfonft habe
ich fo manchen ftörrifchen Gaul über grobe Hinderniffe geritten. euer, Schießen,
Plünderer, Raub, — nichts Tonnte uns aufhalten. Um Mitternacht waren wir
an den Wachen des Palaftes. Go Tonnte id — allerdings zu einer etwas
merkwürdigen Stunde und Gelegenheit — die Belanntihaft des mädhtigften
Mannes des Reiches, des Prinzen Tſching, machen. Ich bradte dann die
Familie in Sicherheit in das Gefandtfchaftspiertel und befite als Dantlesgabe
bes Prinzen und zur Erinnerung unter anderem eine wunderbare fünffarbige
chineſiſche Vaſe, die mir ftetS ein befonders mwertvolle8 Andenten bleiben wird.
Yuan war an jenem Abend — im Auswärtigen Amt mit feinen Freunden
Sunpautfdi, den id) Stunden fpäter in unferer Gefandtfchaft traf, und Liangfhiyi
beim Abendbrot fitend — von der Meuterei überrafcht worden. Der Strom
der plünderungsläfternen Soldatesfa braufte an den Mauern des Auswärtigen
Amtes vorüber. Die Wachen hatten die Mauern befeht, die Mafchinengemwehre
waren in Stellung. Sedo fein Schuß fiel dort, troßdem e8 ein leichtes ge⸗
wejen wäre, das in engen Straßen eingejchachtelt liegende Auswärtige Amt zu
überrennen, auszuplündern und feine Bewohner zu töten. Augenjcheinlich
wollte man Yuan nidts tun.
Der Aufruhr nahm weit größere Dimenflonen an, als feine Anftifter
urjprüngli” wohl erwartet hatten. Die großen Städte Tientfin, Pautingfu
und viele andere Tleinere wurden geplündert und zum Zeil niedergebrannt.
Die Tatfadhen verhinderten den Präfidenten abzureifen. Niemals war feine
Unmwefenheit im Norden des Reiches dringender notwendig geworden als in
biefen Tagen. Der Henler befam nun Arbeit. Der alte Haudegen General
Kiangfweti wurde Kommandant von Peling. Er fuhr in feiner Glastutjche
berum, ließ am Morgen des 1. März an jedem der vielen Tore Pelings kurz
halten, und wenige Minuten darauf riefen fchon die Henkersfnedgte: „Schal Schal”
(Tötel Titel) Die Köpfe von Plünderern rollten im Staube. An allen großen
Straßenfreuzungen hingen die graufigen Wahrzeichen prompter chinefiicher “Suftiz
mit den Zöpfen an den Telegrapbenftangen. Außere und innere Mittel der
Bolitit und Landeshoheit im fernen Drient find anders wie bei uns daheim.
Manſchikai und die um ihn hatten ein gefchictes Spiel gefpielt. Und bod
weiß heute noch niemand in Dftaften: Hat Yuanfchilat nun diefe große Revolte
angezettelt oder nicht? Beweije dafür find nicht vorhanden.
Einige Monate fpäter.
152 Der neue Sohn des Eimmels
Es war im Frühjahr. Das Land Hatte fi) beruhigt. Der Präfident
leiftete den Eid auf die Verfaffung. Diefe Verfafjung war rein iheoretifch über-
nommen und diente nur dazu, den Sremden Sand in die Augen zu ftreuen.
Die Hinefifhen Machthaber haben fih in ihren Maßnahmen nie an Parlament,
öffentliche Meinung oder Zeitungsrummel gelehrt. Beſonders Yuanicilai ift
feinen Weg ruhig geradeaus gefchritten auf das eine Ziel Io8, daS er beute
erreicht hat. Er Tannte fein Hindernis.
Die Eidesleiftung gefhah unter Betfein aller derer, die zu jener Zeit an
der Staatsleitung teilnahmen. Auch die Nepräfentanten des Volles, ſowohl
der Mandihus und der Chinefen, al8 aud) der Mongolen, waren eingeladen.
Ih ftand bei der Zeremonie dicht neben dem PBräftdenten. Diefer fprad) nad)
ber Zeremonie einige freundliche Worte mit mir. Cr war fehr grau geworben.
Das Gefiht war wieder voll und rund, die Augen unverändert. Die Uniform,
die man ihm zuredhtgemadt hatte, faß ihm fchleht. Die alten Trachten der
hHinefifhen Großen waren viel würbiger und fhöner geweien. Yuanfchilai hat
feine gute Figur. Er ift fehr breit und unterfegt. Dazu paßt das alte weite
geſtickte Staatsgewand ſehr viel befer. Er ſah gut aus zu bdiefer Zeit und
Datte etwas Freundliches im Gefiht. Das abgeriffene, unvermittelte und laute
Laden Hang noch ebenfo merfwürdig wie damals, als ich ihn zum erften
Male fah.
Wieder vergingen Monate. Unruhe war ftändig im Reihe. Der Dann
an der Spite rang weiter um die Macht. Der Süden empörte fi ſchließlich
erneut gegen den Norden. Der uralte Gegenfat war noch nicht endgültig
überbrüdt. &8 fam zu neuen Nevolten, zu blutigen [hweren Kämpfen. Yuanjdilat
batte jedoch vorgeforgt.. Mehr und mehr hatte er es verftanden, mit feinen
Getreuen und den ihm duch did und dünn anhängenden Soldaten die ftrate-
giihen Punkte des weiten Neiches zu befeen. &8 gelang ihm, den Aufftand
in der Mongolei niederzufchlagen. Die Rufen, die mit dem mongolifdden Groß-
lama zufammen gegen Yuanfchilai intrigierten, wußte er jehr gejhidt zu be
friedigen.. Ymmer und immer mußte er lavieren, denn obwohl feine Soldaten
auf ihn fchmworen, fo faß boch der Geift der Revolution, ein Geift der udilziplin
in der Soldatesfa. Raub und PBlündern Iodte diefe Berufsfoldaten wie einft
die Söldner im lebten Drittel des Dreißigjährigen Krieges. Dft genug kam
e3 zu jchweren Iofalen Ausbrühen. Der Kaufmann hatte darunter zu leiden,
und der Handel lag in manden Zeilen des Landes gänzlich danieder. Aber
Yuans Macht ftieg. Sie wuchs leife und unmerkbar, faft unheimlid. Diefer
Mann fafzinierte allein mit feinem Namen die Gemüter. Dan fprad) in den
Herbergen, auf den Landftraßen und den Hafenftädten nur leife von ihm. 3
war faft gefährli, den Namen zu nennen. Wer mußte denn, ob nicht der
Horder und Spion in der Nähe war, der es dem Gemaltigen da binten im
Raiferpalaft in Peking hinterbradjtel Den berufsmäßigen VollSverderbern begann
der Boden unter den Füßen zu brennen. Shre Hinterleute, die Japaner, dachten
Der neue Sohn des Bimmels 153
nod einmal im Sommer 1913 einen großen Schlag zu führen. Die zweite
Revolution bradh aus.
Ih war im Nahre 1913 gerade aus der Mongolei gelommen, wo wieder
einmal Aufftand drohte. Man begann fi am mittleren Yangtfe zu fchlagen.
Ein weiteres revolutionäres Heer rüdte von Nanling unter japanifhen Be-
ratern längs der Tientfinpulaubahn vor, um dur) die Provinzen Siangfu und
Schantung ins Herz bes Reiches, die Provinz Tfchili, einzubrechen.
Yuanfdilat hidte feinen treueften Diener, den Feldmarfchall Fengkuotiehang,
mit erprobten Truppen entgegen. Mit dem Feldmarfhall zufammen operierte
der alte Zihangfün, eine der merfwärdigften Erfcheinungen des neuen China.
Der joeben ermordete Tihang war ein Herr aus eigenen Gnaden mit eigenem
Heer, der In Weitihantung faß und dem niemand — nicht einmal Yuanfdilai
— zuleibe konnte. Alle Barteien mußten mit ihm rechnen, da8 heißt in China: alle
Barteien bezahlten ihn. Zu diefem Heere reifte ich und erlebte dort das, was bie
Ehinefen „Schladten“ nennen. Eine große Komödie, bei welcher die Feldherren
Sieg und Niederlage wahrjhheinlich Längft vorher ausgemacht haben. Zumeilen —
fo fagt man — joll e8 bei foldden Ereigniffen au Tote und Vermundete
geben. Die Rebellen gingen zurüd.. Ich felbjt wechfelte die Heere — e3 ift
wahrhaftig fo —, da e3 mir bei den Nordtruppen zu langweilig wurde und
ging zum Nebellenheer über. Den Rüdzug des Iebteren machte ic) mit und
gelangte mit den Truppen nad) Nanling hinein. Bon da aus ging ih nad)
Schanghai. Dort erlebte ic) wie auf einem Zheater die Kämpfe um die Wufung-
Forts und bie große „Schladt” in der Nähe von Schanghai bei Kiangmwan.
Davon ein andermal. Ym Anflug nahm mich unfer tapferer Admiral Graf
Spee auf feinem ruhmbededten Flagefhiff Scharnhorit mit nad Zfingtau, von
wo aus ih nad Peking zurüdtehrte.
Es war Herbft geworden. Wiederum batte ich die Ehre, den Präfidenten
zu fehen. Sunpautfdht war mittlerweile Minifterpräfident und Minifter des
Äußeren geworden. Er blieb mir immer bderfelbe liebenswäürbige Freund und
Gönner. 9 fragte bei ihm an, ob ich dem Präfidenten vorgeftellt werben
könne, da ich beabfidhtigte, nad der Heimat zurüdzufehren. Meine Bitte wurde
mir fofort gewährt, und fo fah ich den großen Mann vor etwas mehr als
zwei Sahren in feinem Palaft, den ich ja aus der Zeit der Borermirren von
1900 ber genau fannte.e Yuan empfing mid) ganz allein, nur Sunpautict
war zugegen. Yuanfhilai trug ein einfaches rohfeidenes hineftfches Kleid. Er
fah gut gepflegt aus. Das Haar war ganz grau geworden. Der fonft jo
bufchige Schnurrbart war etwas dünner. Das Geficht zeigte nicht mehr die-
jelben gebieterifchen trogigen Züge. Ih Hatte den Eindrud, daß es weicher
geworben war. E3 hatte etwas Gemwinnende in feinem Ausdrud. Wieder waren
e8 die Augen, bie fofort feffelten. Wer diejes Geficht gejehen bat, der wird
e8 nicht vergefien. Wir unterhielten uns in volllommen freier Weife. Die
große Politit wurde nicht berührt, abjihtlich nit, denn es war ja eine Privat«
154 Der neue Sohn des Bimmels
audienz. Ach wollte die hohe Auszeichnung, die darin lag, daß er mich allein
und fofort auf meine Bitte bin empfangen hatte, nicht mißbrauden. Der
Präfident fchenkte mir, als ich mich verabfchiedete, fein großes Bild in der neuen
Paradeuniform.
Zwei Jahre find feitdem verfloffen. Mehr und mehr hat es Yuanidilai
verftanden, die Macht in feiner Hand zu zentralifieren. Der Weltkrieg ift für
China nicht eine derartige Duelle des Übels geworden, wie er e8 für das alte
- Europa tft. Die ftetS eiferfüchtigen Großmädte haben einen anderen Ab-
lenfungspunft für ihre Machtgelüfte belommen. China hatte Zeit zur Rube,
Zeit fih zu fammeln. Yuanfchilat hat diefe Zeit genugt. Nur feine alten
Feinde und Neider, die Japaner, bemühen fi) nad Kräften, feine Sreife zu
ftören. Den Japaneın ift nur daran gelegen, China zu fhwächen, China nicht
groß und einig werden zu laffen. 8 ift ein emwiges bdiplomatifches Ringen.
Die Antrige, Hab, Neid, find wohl nirgends fo tätig, wie dort draußen, in
der Maste des glatten Jächelnden Gefichtes, mit dem der Drientale auch noch
in den Tod gebt. Das Land — dur) eine grenzenlofe Mikmwirtfchaft erihöpft
und zerrüttet durch die Revolutionen — fehnt fi) nad Ruhe. China befinnt
fi auf die Grundlagen feiner Kraft, die im patriarchalifhen Syftem liegen.
E3 ift eine Naturnotwendigfeit, wie in leinem anderen Lande auf Erben, daß
diefes große Volk etwas befikt, woran e8 glauben fann, einen Dann, welder
dem ganzen Volle ein Bater if. Das Bolt hängt an dem Kult feiner Ahnen.
E3 glaubt an die Macht des Himmel! und der Erde. Das Boll fudht einen
Mittler zwifchen fi, . dem niederen Erbgeborenen und dem Überfinnlihen —
von dem es nichts weiß — dem Himmel. Wer Tönnte dies befier fein, als
ber Stärkite, ber zudem noch ein wahrer Sohn ber dhinefiichen Erde tft, den
das Land felbit hervorgebradit hat, der nit von fremdem Stamme ift —
Yuanfilail Die Herrihaft der Iandfremd gebliebenen Mandihus hatte das
Land fatt.
Yuanfdilat wird der neue Hoangtt, der Gelbe, jein. Er ift es in diejen
Tagen geworden. Wir Kinder des Mbendlandes nennen ihn einen neuen
Kaifer. Diefer Begriff ift den Dftafiaten weniger geläufig. Yür fie ift er eben
der Tientfe — der neue Sohn des Himmelß.
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2%
Wie fam $ranfreich zu Lothringen und dem Eljaß?
Don Profeflor Dr. Earl Srante
a thundertfiebzig war im Vertrag zu Merjen, der Deutichland
© und Frankreich im mefentlihen nad der Spradigrenze fhied*),
Lothringen, das ſeinen Namen von dem Karolinger Lothar dem
ji ER 4 Zweiten belommen batte, als fünftes Herzogtum an Deutfchland
a ie gefallen, desgleichen auch das Elfaß, das zum Herzogtum Schwaben
fam. Schon 959 ward Lothringen in die Herzogtümer Nieder- und Uber-
lotbringen zerlegt. Da aber erfteres fich fpäter in einer Reihe von reiche-
unmittelbaren Sleinftaaten auflöfte, fo ging fein Name verloren”*), und Dber-
Iothringen warb nun fhleddtweg Lothringen genannt. Seine Weftgrenze Tief
von der Duelle der Maas an zunächft zmifchen diefer und der Marne, dann
zwifchen Iebterer und der Aisne faft bis Mtezieres, die Nordgrenze ein wenig
füblih von Boutllon und nörblid) von Prüm bi8 Hammerftein bei Andernach,
die Dftgrenze zunächft am Rhein faft bis Rüdesheim, dann über den Hunsrüd
und die Vogejen bi8 etwas füdlih von der Mofelquelle, die Südgrenze von
biefem Bunft bis etwas nörbli der Saar- und der Mantquele. Demnad
umfaßte das Herzogtum Lolhringen im fpäteren Sinne (Oberlothringen oder
Herzogtum an der Mofel) das heutige deutfche und franzöfifcehe Lothringen, die
füdmweftlide Nheinpfalz bis Pirmafens, das füdliche Drittel der Nheinprovinz,
fowie da8 Herzogtum und das belgifhe Luremburg, abgejehen von dem nörd-
lihen Biertel. Aber die Hohenftaufen Jöften von Lothringen die Grafichaft
Zuremburg los und bas öftlich davon gelegene Gebiet, das zu Kurtrier lam;
im vierzehnten Jahrhundert waren au Met, Toul und Berdun und deren
Umgebung reidh’gunmittelbar geworben, fodaß Lothringens Macht jehr gefhmwächt
wor. Dazu lam, daß in diefem hochdeutfch fprechenden Lande der Abel feit
dem zwölften S$ahrhundert immer mehr die franzöfifhe Sprade annahm; fo
änderte er den hochdeutfhen Namen Lügelburg —= lleine Burg in die franzöfifche
*), Do am alles Land weftlich der Schelde an Frankreich, wiewohl vlämiſch, alſo nieder⸗
deutih, noch jet in Belgifch-Flandern durchweg und in dem franzöfiihen Flandern jowie Artrecht
(Artoiß) von 150000 Seelen geiproden wird, während fhon damals in Weftlothringen eine
Minderheit wallonifch oder franzöfifh [pradh. Berg. hier 74. Jahrg. Nr. 89 ©. 411.
“®) Bergleiche hier 74. Jahrgang der Grenzboten Nr. 6 ©. 171—172. „Die Stellung
Belgiend zum alten Neihe” von &. Bornhat.
156 Wie fam Srankreih zu Lothringen und dem Elfaß?
Horm Luremburg um. Sein Wunder, daß alles dies bei dem erjtarfenden
Frankreich Eroberungsgelüſte erweckte.
Die erſte Gelegenheit zu deren Befriedigung boten die deutſchen Religions⸗
kriege des ſechzehnten und fiebzehnten Jahrhunderts, in denen das katholiſche
Frankreich die Proteſtanten gegen den katholiſchen Kaiſer unterſtützte; denn dort
überwogen, anders als damals bei uns, die politiſchen die religiöſen Intereſſen.
1552 verbündete fi der franzöfifche König Heinrich der Zweite heimlich gegen
KRaifer Karl den Fünften mit dem Kurfürften Mori von Sachjfen, der jenem
geitattete, die Neichsftädte Me, Toul und Verdun mit Vorbehalt der Rechte
des Neichs zu befehen. Während nun ber Saifer von Morig angegriffen
wurde, eroberte der franzöfiihe König diefe drei Neichsftäbte und fügte fo
einen Zeil des weltlichen Zothringens zwar nicht rechtlich, aber tatfächlich zu
Frankreich.
Im dreißigjährigen Kriege bot Frankreich dem König von Schweden Hilfs⸗
gelder an, um ihn zum Kampf gegen den Kaiſer zu veranlaſſen. Auch Bern⸗
hard von Weimar zahlte es jährlich vier Millionen Franken, damit er für ſich
das Elſaß eroberte. Außerdem beteiligte ſich Frankreich von 1634 an mit einem
eigenen Heer am Krieg gegen den Kaiſer. Nach dem Tode Bernhards von
Weimar nahm es auch deſſen nur aus Deutſchen beſtehendes Heer in Sold,
um ſich die von dieſem im Elſaß gemachten Eroberungen anzueignen. Tat⸗
ſächlich erhielt Frankreich im Weſtfäliſchen Frieden 1648 für die den Proteſtanten
geleiſtete Hilfe etwa ein Viertel von dieſem deutſchen Lande, nämlich den
Sundgau und die Gegend um Hagenau ſowie die Landvogtei über zehn elſäſſiſche
Reichsſtädte und Reichsdörfer, während alle anderen reichſsunmittelbaren Gebiete
im Elſaß dem Reiche allein unterſtellt blieben. Außerdem wurden ihm die
Städte und Bistümer Metz, Toul und Verdun nun auch förmlich zugeſprochen.
Schon während des Krieges gegen Holland (1672—78) hatte Ludwig der
Vierzehnte die elfäffiichen Reicheftäbte Hagenau, Weißenburg, Landau, Uber
ebenheim, Roßheim, Münfter, Kaifersberg und Zürfheim befeten laffen, und
1679 trat das Deutfhe Reich im Frieden zu Nymmegey fämtlidhe zehn elfäffifche
Reichsftäbte und Neichspörfer an Frankreich ab, über die diefes jchon 1648 die
Landoogtei befommen hatte. Um die Befigungen Franfreihs in Lothringen
und Elfaß weiter zu vermehren, griff Ludwig nun zu dem Mittel der offen-
baren NRecdhtsverdrehfung und Verlegung des Weftfälifchen Friedens nicht bloß
dem Sinne, fondern auch dem Wortlaute nad. Er errichtete Reunionstammern,
bie feitzuftellen hatten, welche Gebiete zu irgendeiner Zeit zu den 1648 und
1679 an Frankreich gefallenen gehört hatten, und nahm fie dann gemaltjam
in Befig. Die gefamte NReichsritterfhaft des Elfaß zwang er zur Huldigung,
wiewohl im Weftfälifchen Frieden ausprädlich beftimmt war, daß die reich$-
unnıtttelbaren Herrf&haften, Abteien und Bistümer fomie die Reichsftadt Straß-
burg dem Reiche allein unterjtellt bleiben follten. Hinfichtlich diefer Stadt ließ
fi nicht einmal ein Scheingrund finden. Da erflärte Ludwig, dur den
Wie fam Frankreich zu Lothringen und dem Elfaß? 157
Triedensihluß von Münfter fei ihm das Elfah abgetreten, und durch den von
Nymmwegen der Beflb beftätigt worden, zu dem Elfaß aber gehöre Straßburg,
und fandte 1681 plößlich ein Heer gegen diefes, das vom Reiche im Stiche
gelafien, dem franzöfifhen Räuber feine Tore öffnete. Der den Pfälzer Raub-
frieg (1688— 97) beendende Friede zu Nysmijl fprad) Frankreich diefe Reunionen
im Elfaß fowie Saarlouis keineswegs zu; doch blieb es in deſſen Befit. Ab⸗
gejehen von einigen Heinen dem Neiche verbleibenden Enflaven: Müblhaujen,
Srafihaft Salm, Saarwerden, war diefem nun ganz Elfaß entrifjen.
Das Herzogtum Lothringen erlangte Ludwig der Fünfzehnte von Frankreich
durch betrügerifhen Schader. Der KHaifer Karl der Sechste hatte dur Die
pragmatifde Sanltion das Habsburger Hausgefeb dahin ungeändert, daß nad
feinem Zode die öfterreihifchen Erblande ungeteilt an fein einziges Kind Dtaria
Zherefia fallen folten. Frankreich erlannte 1738 die pragmatiihe Santtion
unter der Bedingung an, daß Maria Xherefind Gemahl, der Herzog von
Lotbringen, gegen Zoslana fein angeftammtes Herzogtum vertaufchte, welches
an Stanislaus Lesczinsti und nad) deifen Tode an feinen Schwiegerfohn
Ludivig den Fünfzehnten von Frankreich Tommen folte. Diefer aber unterftügte
trog feiner Anerlennung der pragmatifchen Canltion und des vollgogenen
Zaufches 1740—48 im dfterreihifchen Erbfolgelriege Karl Albrecht von Bayern
mit Heeresmadt gegen Maria Therefla, brach aljo den Bertrag; doch erbte er
gleichwohl 1766 nad feines Schwiegervater Tode Lothringen. Nur das Tleine
Kridingen verblieb Deutfchland als Enflave.
Da 1792 der Raifer Franz der Zweite von Frankreih die Wieder-
berftellung einer geordneten monardhifchen Regierung und aller lehensherrlichen
Rechte, welche deutfche Fürjten im Elfaß und in Lothringen befaßen, verlangte,
fo erflärte jenes den Krieg. An diefem eroberte es den Reft der Iinfärheinifchen
Gebiete Deutfhlands. Das war die erjte und einzige Eroberung, die e8 auf
deutfchem Boden ohne deutiche Hilfe in einem ehrlichen Kriege madte. 1795
willigte Preußen in dem Sonderfrieden zu Bafel, 1797 Öfterreich in dem zu
Sampo Formio und 1801 das Deutfche Reich in dem von Luneville in die
Abtretung des Linfen Nheinufers an Frankreich. Somit war nun ganz Ober⸗
Lothringen und Elſaß an dieſes gekommen.
Zwar wurden beide Länder ſchon 1814 im großen Befreiungskriege von
den deutſchen Waffen mwiedererobert, aber ihre Rüdgabe an Deutichland hinter-
trieben England und Rußland, unjere damaligen Berbündeten. m erjten
Barijer Frieden ward Frankreih auf die Grenzen vom 1. Sanuar 1792 be-
Ihräntt, aber nur im wejentliden, denn es bebielt die damaligen deutfchen
Enllaven in Lothringen und im Elfaß. Erjt 1815 mußte e8 im zweiten Parifer
Frieden menigftens Saarlouis und Saarbrüden mit Umgebung an Preußen
und Landau an Bayern abtreten. Bitter enttäufcht mar danıal3 das deutiche
Boll, das mindeitens die Wiedergemwinnung des im Kerne beutjch gebliebenen
Elfaffes und der Feftungen der Mofel und Maus erhofft hatte.
158 Wie Fam Stanfreih zu Lothringen und dem Elfaß?
Die Berwelfdung des Abels hatte ben Verluft Lothringens vorbereitet.
MWiewohl diefes 1815 bei Sranfreich verblieb, trat hier doc) im 19. Jahrhundert
eine jenem Borgange entgegengefebte Bewegung ein: es bildete fi in den
franzöftfh Ipredhenden wejftlothringiihden Städten infolge von Einwanderung
aus Deutfchland eine allmählich wachfende deutfchredende Minderheit. In Mep
beitand eine foldhe don vor 1870, und 1900 zählte Nancy etwa foviel deutfche
Einwohner wie Me 1870. Sicherlich ift das eine politiih in Rechnung zu
ſtellende Erſcheinung.
Doch auch in Frankreich blieb das Verlangen nach dem Beſitz des ganzen
linlken Rheinufers rege und war einer der Gründe des Krieges von 1870 und 71,
den Frankreich an Preußen eiklärt hatte. Wiederum erſtürmten deutſche
Truppen des Elſaß' und Lothringens Berge und Feſtungen, und wiederum
forderte das deutſche Volk die Einverleibung dieſer alten Reichslande in das
neu errichtete Deutſche Reiich. Doch es hatte vergeſſen, wie weit ſich einft
Lothringen nach Weſten erſtreckte, und daß Frankreich ſo lange ein friedlicher
Nachbar geweſen war, als die Argonnen und die Weſtoogeſen es von Deutſchland
ſchieden. Die deutſche Regierung hatte Bedenken, dieſem mehrere Millionen
verwelſchter Lothringer einzuverleiben, befürchtete auch eine Friedensvermittlung
durch England und Rußland bei längerer Verſchleppung der Friedensverhand⸗
lungen. Vom 1. und 2. Pariſer Frieden her wußte ſie aber, was dieſe für
Deutſchland zu bedeuten hatte. Daher ſtellte ſie hinſichtlich des abzutretenden
Gebietes äußerſt mäßige Friedensbedingungen, zu deren Grundlage ſie in erſter
Linie die Sprachgrenze und erſt in zweiter den Grenzſchutz machte. Bismarck
forderte daher zunächſt in der Friedensunterhandlung zu Verſailles ganz Elſaß
und das nordöſtliche deutſch ſprechende Lothringen, von dem daran ſtoßenden
mittleren, wo das Sranzöfifche herriähte, aber nur Me mit Umgebung. Sclieh-
ih fah er auch unter Moltfes Billigung von der überwiegend franzöfifch
redenden Südweftede des Elfaß mit Belfort ab. So hatte denn Frankreich
nur 14513 Quadratfilometer mit 1!/, Million Ginwohner an das Deutide
Neich abzutreten. Don diefen waren nur 200 000 franzöfifher Zunge. Den
Neutralen, die bieran Anftoß nehmen, ift zu ermwidern, daß TDeutiland in
Artois und Franzöfifch-Flandern faft ebenfoviel Niederbeutihe unter Frankreichs
Herrihaft und zwar gegen beren Willen ließ. CS hat daher nicht mehr fran-
zöftfehe Untertanen zu deutſchen gemadt, als ihm die Spradhgrenze aumwies.
Das 1871 Frankreich” wieder abgenommene Gebiet ift aber nur zum aller-
Heiniten Zeil von deffen eigenem Heere erobert worden, und zwar aud) dann
nur im Bunde mit deutfehen Fürften, zu einem größeren von deutjchen Zruppen;
einen anderen hat es betrügerifch erfchachert, die Hälfte teils mit, teils ohne
Scheingrund mitten im Frieden geraubt. Etwa zwei Drittel des und entriffenen
Lothringens und Elfaß’ gehören ihm jcht noch, und darin liegt die alte Hauptftadt von
jenem Herzogtum Nanzig (Nanzy), die alten Reichsftädte Toul und Berbun
fowie die neue ftarle Vogefenfefte Belfort. Anftatt aber für Deutichlands
Maͤrkiſche Reiter 159
Mäßigung beim Friedensichluß dankbar zu fein, bat Frantrei 43 Jahre lang
fih als gefränkte Unfchuld aufgefpielt, hat es die Zurücdinahme eines Drittels
von dem ung Entriffenen als himmeljchreiendes Unrecht bingeitellt, hat e3 dur
Yalldung der Geihhichte im Unterricht feine Yugend zu Nevandhefchreiern er-
zogen, indem e3 uns, die e8-während 31/, Jahrhunderte mit Raubfriegen
überzog, als ein Eroberervolf Tennzeichnete, hat es fi mit dem auf Europas
Unterjodung finnenden Rußland und dem die Freiheit der ‘Dieere bedrohenden
England verbündet, hat feine Preffe in der Zerftüdelung Deutfchlands mit der
Feder jelbit die diefer zwei anderen großen Welträuber überboten. Ohne beren
Schuld an dem jebigen Kriege verringern zu wollen, muß daher betont werben,
daß beffen erfte Urfache der Zeit nad Franfreihs Nevandeluft tft.
Märkiſche Reiter
Piſtole und Pallaſch und Lanze und Sporn,
Vier Hufe, die ſturmſchnell fliegen,
Die heil'ge Standarte als Führerin vorn,
Im Herzen nur Haß, in den Fäuſten nur Zorn ...
Was brauchen wir mehr noch zum ſiegen?
Blas auf zur Attade, hellſchmetterndes Horn!
Wir folgen dir willig dur Didiht und Dorn,
Mag’8 breden und beriten und biegen.
Der Feind fol uns doch unterliegen!
Was madt’s, ob wir Hölifh umbrüllt und umbrauft
Bon donnernden Schladhtengemwittern,
Db lüftern der Tod uns umgrinft und umgrauft,
Db Wetter und Wind uns die Wirbel zauft,
Granaten uns bagelnd umifplittern:
Solange noch trukig in nerviger Fauft
Die Lanze fi reckt und der Pallaſch ſauſt,
Soll keinem verzagendes Zittern
Die Luſt und die Laune verbittern!
Voll Ungeduld tänzelt mein Rappe und bäumt
Sich fröhlich im Sonnenglanze.
160 Märfifhe Reiter
€3 funfelt fein Auge, er wiehert und fchäumt
‘m blanfen Gebiffe, gar feftlich gezäumt,
Als ging’s zu Zumier oder Tanze.
Drum vorwärts Kam’raden! Nicht länger gefäumt |
Die Stunde ift da, die wir fehnend geträumt!
Schon rantt fi zu blühendem Kranze
Der Lorbeer um Lode und Lanze
Schon want unfrer Feinde gebredhliche Reid’,
Ein Häuflein verzweifelter Streiter!
Was nutt der Kanonen verftedtes Gejpei?
Die Lanzen gefällt und die Klingen freil
Nur vorwärts, der Himmel hilft weiter.
Und trifft uns die Kugel und bafcht uns das Blei,
Mir fterben mit röchelndem Hurrafchrei
Gelafjien und furdhtlos und beiter
Als deutiche, als märliihe Reiter... .
NRoderih Ley
Allen Manuflripten ift Borto Hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Nädfendung
nicht verbärgt werben laun.
Nachdruck ſanttlicher Aufſaͤtze nur mit ausdrücklicher Erlaubnis bes Berlags geftattet.
Berantwertlig: ber Herausgeber Beorg Cleinow in Berlin⸗VLichterfelde Weſt. — Manuſtriptſendungen und
Briefe werden erbeten unter der Abreſſe:
Un den Herausgeber der Grenzboten in Berlin⸗ Lichterfelde Weſt, Sternſtraße 86.
Bernfpreiger bes ae Amt Bichtesfelde 498, des Berlags und der Schriftleitung: Amt Sügom 6510.
Berlag: Berlag der Srengboten &. m. 5. $. in Berlin SW 11, Xempelhofer lfer 86a
Dind: „Der Neigäbste” ©. m. 5. 9. in Berlin SW 11, Deflauss Etrabe 88/37.
Dir Sitten die Freunde der x: x:
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das Abonnement zum I. Quartal 1916
erneuern zu wollen. — Beftellungen Derlag ber
nimmt jede Buchhandlung und jede — um.
Poftanftalt entgegen. Preis 6 M. Berlin SW ıı.
= |. DER En ee Sa
— —
— — —
nn — —
Aurch unſere Tagespreſſe ſind vielfach einzelne Fälle bekannt ge—
—Avworden, aus denen hervorgeht, wie von den neutralen Staaten
beſonders Holland als Werkzeug der engliſchen Aushungerungs—
politik benutzt wird. Es iſt daher vielleicht nicht ohne Intereſſe,
im einzelnen zu verfolgen, in welcher Weiſe dieſer engliſche Druck
ausgeübt worden iſt, und wie er immer ſchwerer auf Holland laſtet.
Was England vor allem anſtrebte war, die Durchfuhr von überſeeiſchen
Waren durch Holland nach Deutſchland ſo weit wie irgend möglich zu ver—
hindern. Dem ſtand jedoch entgegen, daß Holland feine Durchfuhrverbote er-
lafjen wollte, teil$, weil dadurch die Neutralität zu offenkundig verlegt worden
wäre, teil3, weil Holland durch die Rheinfchiffahrtsakte zur Geitattung der freien
Durhfuhr verpflichtet if. ES blieb alfo nur der Weg übrig, daß Holland Die
Durhfuhr überfeeifher Erzeugnifje zwar unbehelligt ließ, aber die Ausfuhr
berjelben verbot. Ein foldhes Ausfuhrverbot mußte dann der Natur der Sache
nad einfeitig gegen Deutijchland wirken, da Deutjchland im Gegenjag zu Eng-
land diefe Waren nicht felbjt über See beziehen konnte, jondern dafür auf die
Vermittlung neutraler Länder, insbejondere Hollands, angewiefen war. Daher
bat England immer wieder auf den Erlaß folder Ausfuhrverbote gedrungen,
und Holland hat eine große Menge derjelben ergeben lafjen. Nun ift allerdings
zu beadten, daß die niederländifchen Ausfuhrverbote fi nicht durchweg auf
überfeeifche Produfte beziehen (wie 3.8. Baummwolle, Olfaaten, Getreide ufw.),
fondern aud auf die eigenen Erzeugnifje Hollands (mie Butter, Käfe, Schweine-
fleifh), auf die Produkte des Hinterlandes, insbefondere Deutfchlands (mie Zint,
Salz, Kali, Kohlen, Teerfarben) und jchließli auf Kriegsbedarf (wie Pferde,
Automobile, Leder ufw.). ndeflen find die Verbote für überjeeifhe Produlte,
auf die fi die Abfperrungspolitif Englands vor allem richtet, bei weiten Die
zahlreihiten. In gemiffen Sinne find auch die anderen Berbote alle oder Doc)
Grenzboten I 1916 11
162 Holland und der englifhe Wirtfchaftsfrieg
beinahe alle auf England zurüdzuführen. Denn, wenn England den See-
verfehr ganz freigegeben hätte, fo würde Holland feine Grenzen vermutlich offen
gelafien haben, weil e8 damit rechnen Tonnte, feine Vorräte jederzeit auffüllen
zu Tönnen.
m Anfang des Srieges wurden faft nur folhe Ausfubrverbote erlafien,
die den Zwed hatten, die bolländifhe Mobilmahung zu fihern.. Das Gefek
vom 3. Auguft 1914, das die Grundlage für alle fpäter ergangenen Ausfuhr-
verbote bildet, war urjprüngli nur für Kriegsbedürfniffe berechnet, wenn diefe
auch nicht ausdrüdlich genannt waren. Sehr bald madte fi aber dann der
Einfluß Englands fühldar. Die daraufhin ergangenen Ausfuhrverbote hatten
mit der Mobilmadung nichts mehr zu tun, fondern waren ganz offenkundig
dazu beftimmt, im Dienfte des englifden MWirtfchaftsfrieges Deutfchland von
überfeeif den Erzeugniffen auszufchließen. rft fpäter traten daneben hin und
wieder aud) Ausfubrverbote auf, die deutfche oder holländifche Erzeugniffe be=
trafen. Doch blieben nach wie vor die überfeeifchen bei weitem im Übergewidt.
Sieht man von den Ausfuhrverboten des Auguft 1914 ab, bei denen, wie
erwähnt, da8 militärifche Antereffe Holands vor allem maßgebend war, fo
wurde unterfagt unter anderem:
im September 1914 die Ausfuhr von Baummwollgarn, Häuten, Schwefel-
fäure, Neis, Mais, allen Erzeugniffen aus Hafer, Weizen, Spelt, Roggen,
Gerfte, Buchweizen und Mais, von Leinfaat, anderen Olfaaten und Vlfuchen,
im Dltober 1914 von Kupfer, Schaffellen, Wolle, Wollgarn, verfchiedenen
MWollwaren, Yute und Yutemwaren, Säden, Leinengarn, Petroleum, Blei,
im November 1914 von weiteren Wollmaren, von Bleilegierungen, toben
Ralaobohnen, Ehilifalpeter, Gerbftoffen, Gerbertraften, Sped, Schmalz, Knochen,
PByrit, Gasöl, Benzin, Kupferlegierungen und jchwefelfaurem Ammonial,
im Dezember 1914 von wollenen Lappen und balbwollenen Waren,
im Yanuar 1915 von wollenen Deden, Vafeline, Guano, Superphosphat
Harz und Zerpentin,
im Februar 1915 von Kupfervitriol, Kupferoryd, Fahrradreifen und Rüböl,
im März 1915 von Kupferwaren, Lederwaren (Leder war von Anfang an
verboten), Fleifchlonferven, Kafaopafte, Kalaomafje, Bleiröhren, Gummiabfall,
im April 1915 von weicher Seife, Nidel und Nidelmaren, Robphosphaten,
im Juni 1915 von allen tierifden Fetten und Mifhungen davon mit
Pflanzenfetten, fowie von Rohbaummolle (deren Ausfuhr |chon früher verboten,
jedoch zeitweilig wieder gejtattet worden war),
im Juli 1915 von Schelad und Nußbaumbolz,
im September 1915 von Werggarm,
im Dftober 1915 von Zinn, allen Arten von Speifeölen unb Speifefetten
(einfhließlih Kalaobutter) fowie von Leinöl und Flachs,
im November 1915 von Zinnmwaren und Zinnlegterungen, feiter Seife,
Anttmon- und Flahsabfall,
4 ar rn |. *
Holland und der englifhde Wirtfchaftstrieg 163
im Dezember 1915 von Graphit, Glycerin und Türkifh Rotöl,
im Januar 1916 von Hanf, Baummwoll- und Leinenlumpen, Stearin.
Tajt alle diefe Ausfuhrverbote find, wie bemerkt, in ihrer Wirkung nur
gegen Deutfchland gerichtet. Die meiften betreffen Waren, die England fi)
jederzeit, Deutihland aber augenblidlih nur mit großen Schwierigleiten ver-
Ihaffen kann.
England bat fih aber nicht damit begnügt, Holland diefe Ausfuhrverbote
aufzuzwingen, fondern es überwacht aud deren Durdführung mit ftetS zu-
nehmender Schärfe.
Sp wurde am 25. September 1914 die ganze Rorb-Dftgrenze Holland3
vom Rhein bis zum Meer in Belagerungszuftand erflärtt. Diefe Maßnahme
hatte feine militärifden Gründe, fondern ledigli den Zwed, die Durdhfuhr
nah Deutfhhland zu erfehweren. Kurz, ebe das Verbot erging, war der da-
malige Handelsminifter, jebige Yinanzminifter Treub, in London gemejen.
Ende Dftober folgte dann eine Verfügung der bolländifhen Regierung,
worin die Bedingungen der Durchfuhr, die, wie erwähnt, vertragsmäßig frei-
zulaffen war, derart verflaufuliert wurden, daß von einer freien Durchfuhr,
die ohnehin fon fo gut wie aufgehört hatte, nur noch dem Namen nad) die
Nede fein Tonnte.
Der Hauptihlag Englands gegen den beutfhen Handel erfolgte dann im
November 1914 mittel8 der Gründung ber Nederlandfchen Dverzee Truft Mant-
{Happy (R.D.T.), die am 24. November 1914, im Haag errichtet wurde und
ihre Tätigkeit im Januar 1915 aufnahm. An der Spite der Gefellihaft fteht
Herr van Aalft, der Präfident der Nederlandfhen Handels Maatihappy. Gr.
fowohl wie feine Mitgründer find Niederländer und arbeiten, wie fie jagen
und — wie wir gerne annehmen wollen — aud) glauben, lediglih im bol-
ländifchen Intereffe. In Wirklichkeit wurde der N.D.T. fehr bald ein Werl.
zeug Englands, das ihn als Mittel zur Durchführung des englifhen Aus»,
hungerungsplanes zu benugen gedadte. An fi fchien die Gründung ganz
harmlos, wie e8 ja England — Meifter in Heuchelei jeder Art — überhaupt
verfteht, weitgreifende Abfichten mit einer unauffäligen und unfcheinbaren Form
zu umlleiden. Gngland erklärte lediglich, eS fei gerne bereit, Waren, die wirklich
für Holland beftimmt feien und dort verkauft werden follten, durchzulaſſen.
Nur fei es zu umftändlid, von jedem der vielen Befteller einzeln die Bapicre
nachzuprũfen. E83 fei daher erwünfct, eine Zwifcheninftanz zu jhaffen, Die biefe
Kontrolle übernehme und ber engliiden Regierung eine Gewähr dafür biete,
daß die Ware wirklih im Lande verbleibe. Die an diefe Zwifcheninftanz kon⸗
fignierten Güter werde England dann ohne weiteres durdhlaffen. Anfangs
wollte die Niederländifhe Negierung felbft fih dazu verjtehen, in gemifjen
Fällen diefe Bermittlerrolle zu fpielen und überfeeifhe Waren für Private in
&mpfang zu nehmen. Sie wäre aber dadurch früher oder jpäter in eine
A&ywierige Lage gegenüber ber englifchen Regierung gelommen und begrüßte
11*
164 _ Holland und der englifhe Wirtfchaftstrieg
baber die Gründung des N.D.T. als einen milllommenen Ausweg. Denn
eine private Gefellfchaft konnte fi) mehr von England bieten lafien, und das
Abhängigkeitsverhältnis trat nach außen nicht fo deutlich in die Ericheinung.
Hätte freilich die holländifche Regierung vorausgefehen, wie fidh die Dinge
entwideln würden, fo würde fie fi) doch vielleiht befonnen haben, einen fo
folgenfhweren Schritt zu tun. Der R.D.T. tft von Tag zu Tag mehr unter
englifhen Einfluß geraten und andererfeits in Holland immer mädjtiger ge»
worden. Der bolländifchen Regierung find die Zügel entglitten, fie ift längit
nicht mehr Herrin im eigenen Haufe, fondern die Beitimmung über Wohl und
Wehe des ganzen Üüberfeeifchen Handels und des größten Teils des Landhandels
liegt jebt in den Händen des N.D.T. oder, was dasjelbe jagen will, Englands.
Einen weiteren wichtigen Schritt zur Abfehliegung Deutfchlands tat England
Mitte April 1915, indem es den Niederländifchen Reedereien verbot, Erzeugniffe
Deutihlands oder jeiner Verbündeten zu verfhiffen, außer in ganz wenigen
von England ausdrüdlic zugeitandenen Ausnahmefällen. Hierdurch) wurde die
Ausfuhr aus Deutihland in vderfelben Weife Tabmgelegt, wie früher die
Einfuhr dorthin.
Sm Auguit 1915 wurden eine Reihe von Dlaßnahmen getroffen, die
bezwecten, Deutichland die Zufuhr von ett abzufchneiden. Die Ausfuhr von
Dien und Fetten aus Holland war damals nod) erlaubt, das Verbot erfolgte
erit im Dftober. Da die Fette aber faft alle über See kommen, mußten fie
an den N.D.T. lonfigniert werden, der die Gewähr dafür übernahm, daß fie
weder unverarbeitet, noch verarbeitet nach Deutfchland weiter ausgeführt wurden.
Um den R.D.T. diefe Kontrolle zu erleichtern, erließ die Holländifche Regierung
am 7. Auguft 1915 eine Verordnung, wonach alle diefe Ole bei der Ausfuhr
angemeldet werden mußten. Zugleich errichtete der N.D.T. eine befondere
Abtellung für efbare Fette und Dle. Hierdurh wurde die Ausfuhr nach
„Deutihland fo gut wie unmöglich gemadt, während England nad wie vor
nit nur die Robjtoffe beziehen fonnte, fondern auch die daraus in Holland
bergeitellte Margarine erbielt. |
Ym Zufammenhang damit ftand die gleichfalls im Auguft von dver®.D.T.
eingejegte Kommilfion zur Beaufjihtigung des SKoprahandeld. SKopra ift ein
wichtiges Produft von Holändiich-Indien, das in Holland größtenteils zu
Margarine verarbeitet wird. England befchränfte aber ohne weiteres dieſe
Ausfuhr nah Holland auf ein beitimmtes Kontingent und verbot den niedere
ländifhden Schhiffabrtsgefelliaften, darüber hinaus Kopra nad Holland zu ver-
[hiffen. Ebenfo wurde dem N.D.T. unterfagt, mehr als biefes Duantum an
ih Tonfignieren zu laffen. Ähnlich wie mit Kopra wurde aud) mit anderen
folonialen Erzeugniffen verfahren, 3. 3. mit Tapiola und Gummi. Holland.
bat aljo kein Verfügungsrecht mehr über die Erzeugniffe feiner eigenen Stolonien,
fondern ift für deren Bezug auf die Gnade Englands angemwiefen, das fie ihm
nur noch in bejähränlten Dofen zumißt. Nur Tabak, Kaffee und Ehinarinde
Holland und der englifhe Wirtfchaftskrieg 165
läßt England — bis jegt noch — unbehelligt aus Niederländifch-ndien nad
Holland dur, und diefe Produkte dürfen daher einftweilen mit englifcher
Erlaubnis von Holland aud) nad Deutfchland ausgeführt werden. Diefe Aus-
nabhmejtellung des bolländifchen Kaffees gab im Dftober 1915 Anlaß zu dem
fogenannten Kralatau-Zwifchenfal. Der Dampfer „Sralatau”, der mit Kaffee
aus Niederländifh-Indten nad Holland unterwegs war, wurde in England
angehalten, weil der Verdacht beftand, daß es fi in Wirklichkeit um Brafil-
laffee handele, der in Java nur umgeladen worden fei. Schließlich) wurde das
Schiff freigelaffen, aber nur unter der Bedingung, daß der Kaffee an den
N.D.T. Tonfigniert werde, d.h. alfo, daß er in Holland bleiben müßte. Der
N.D.T. erriätete darauf eine befondere Kommiffion, um allen aus Nieder-
ländifch-ndien eingeführten Kaffee auf feine Herkunft zu unterfuchen.
Mie rüdfichtslos England die holländifhen Kolonialprodulte behandelte,
zeigte fih ferner auch in der Zinnangelegenheit, die gleichfalls im Dftober 1915
fpielte. Die bolländiihe Regierung hatte im Austaufh gegen Anilinfarben
mehrere bundert Blöde Bankazinn nad) Deutichland verfauft. E3 handelte fich
um NRegierungszinn, d.h. um Ware, die nicht an ven N.D.T. Ionfigniert war,
fondern die dem Staat gehörte, fhon feit längerer Zeit in Holland mar, und
über die die holländifche Regierung daher völlig frei verfügen fonnte. Trogdem
mifhte id England Hinein, indem es einfach) den Dampfer „Rindjani“ mit
einer neuen Zinnladung fefthielt und erft freigab, nachdem Holland ein Ausfuhr
verbot für Zinn erlaffen Hatte. In Zukunft läbt England auch das Zinn,
ebenfo wie die meiften anderen bolländifchen Kolonialprodufte, nur noch in
genau abgemefjenen, dem bolländifchen eigenen Bedarf entipreddenden Mengen
nad Holland hinein.
Alle diefe Nachgiebigleit Hollands genügte England noch nit. In der
engliiden Brefie tauchte immer von neuem die Behauptung auf, daß Holland
den Schmuggel nad) Deutihland begünftige. In Holland felbft machte fi das
befannte deutfchfeindfiche Hebblatt „Zelegraaf”, das gänzlich unter englifchem
Einfluß ftebt, zum Anwalt diefer Beihuldigungen und Iieß feinen QTag vorbei-
gehen, ohne in feinen Spalten Fälle von angeblidem Schmuggel ans Licht zu
ziehen und ftrenge Maßnahmen dagegen zu verlangen. Geftügt hierauf feßte
England bei der holländifhen Regierung im November 1915 einen Gefeh-
entwurf Durch, der die Lagerung und die Beförderung von Waren im Grenz-
gebiet ftarken Beihhränkungen und einer fharfen Aufficht unterwarf. Das Gefep,
das am 10. Januar 1916 in Kraft getreten ift, zieht gewiffermaßen innerhalb
Hollands eine zweite Grenzlinie.e Die zmwilchen diefer und ber eigentlichen
Staatsgrenze lebenden Einwohner erhalten nur foviel Waren, wie fie felbft
unbedingt nötig haben, damit fie nicht in die Verfuhung fommen, etwas davon
an Deutichland abzugeben. Diefelbe Tendenz verfolgte eine königliche Ver⸗
ordnung vom 4. Dezember 1915, durch die der in Belagerungszuftand befind-
lie Streifen längs der deutjdd-holländifchen Grenze erheblich verbreitert wurbe.
166 Bolland und der englifhe Wirtfhaftsfrieg
Mar hierin fhon ein Eingriff Englands in die innere holländifhhe Ver-
waltung deutlich erfennbar, fo trat Dies noch) offenkundiger in der Häutefrage hervor,
bie gleichfalls Ende des Jahres auftaudte. Anfang Dezember 1915 ftellte bie
bolländifche Regierung an die holländifchen Lederfabrifanten plöglid) das Anfinnen,
fie follten den Schlädtern 100 000 Häute von in Holland gejchladhtetem Nindvieh
ablaufen. Wenn fie e8 nicht tun, fo beftehe die Gefahr, daß die überfeeifhe Zufuhr
von Häuten, Leder und Gerbitoffen abgefchnitten werde. Daß England hinter
biefem ungewöhnlichen Vorgehen ftand, und dadurch die Ausfuhr der Häute nach
Deutichland verhindern wollte, wurde von der holländifchen Regierung direkt
angedeutet. Der Fal zeigt befonders Mar, wie England feine Seemadt dazu
auszunußen fucht, nicht nur den Handel mit überfeeifhen Einfuhrwaren, fondern
auf dem Ummege über diefe auch den Handel mit den eigenen Erzeugnijjen
Hollands in feine Gewalt zu belommen. 3 ijt daher Teineswegs unwahr-
icheinlich, daß es fpäter feine Hand in gleicher Weije auch nod) auf andere
Produlte Hollands legen wird.
Die vorftehende Zufammtenftellung macht auf Vollftändigkeit feinen Anſpruch,
auch befchräntt fie fih auf den Warenvertehr. ES jet daher nebenher darauf
bingewiefen, daß England neuerdings auch die Zufuhr von Gold aus den
Vereinigten Staaten, das nicht an den N. O. T. konſigniert war, abgefähnitien
bat und daß auch der PBoft- und Baffagierverfehr ähnlihen unberedtigten
Eingriffen ausgefebt war und immer mehr ausgefett wird. Qirogdem unterwirft
fi das bolländifche Volk, das doc früher auf feine Freiheit und Unabhängig-
feit jo ganz befonders ftolz war, diefen fortgefegten Pladereien und Demütigungen
ohne weiteres. Dabei erntet es nicht einmal den Danf der Alliierten. In
der franzöfifchen fomohl wie in der englifchen Preile wird den Holländern immer
wieder der Borwurf gemadit, daß fie Deutichland begünftigten und es wird von
ihnen verlangt, fie follten den Wünfchen Englands noch weiter entgegenfommen.
Mt Doch fogar derN.D.T., Englands getreuer Diener, im englifchen Unterhaus
angegriffen worden. Demgegenüber bleibt Holland dabei, der englifhen Anmaßung
ftet8 von neuem nachzugeben, und eine Grenze für diefe Nachgiebigfeit ift über-
haupt nicht abzufehen. Daß Holland fih in einer fchwierigen Lage befindet,
iit ja ohne weiteres zuzugeben. Cinen Bruch mit England muß e8 ohne Zweifel
zu vermeiden fuchen. immerhin hätte e3 vermutlich, wenn es von Anfang an
feinen Standpunft energifch vertreten hätte, wenn nicht einen gänzlich freien
Berlehr zur See, fo doch immerhin eine beffere Stellung einnehmen fönnen,
als diejenige, in die es fich jegt gedrängt fieht. Nachdem man fich aber einmal
auf die fchtefe Bahn der bedingungslofen Nachgiebigleit begeben hat, und inS-
befondere, naddem man den N.DO.%. bat fo groß werden laffen, daß er
geradezu die Rolle eines Staates im Staate fpielt, wird e8 für Holland immer
jhmwerer, eine feite Haltung einzunehmen und weitere Zumutungen Englands
zurüdzumeifen. Die Furt vor England fheint alle anderen Erwägungen und
Gefühle aufzumiegen. &3 ift nicht nur die Beforgnis, daß England eines Tages
Die Sufunft des Dölkerrechts 167
die überfeeiihe Zufuhr von Robftoffen und Lebensmitteln abfehneiden Tönnte,
fondern vor allem die Angft für die Kolonien, die England fon einmal vor
hundert Sabren im Befite gehabt bat, und die jebt außer von England, aud
noch von Sapan bedroht find. Hat doch der „Xelegraaf”, der häufig das
ansipriht, was fi) andere Blätter nicht zu jagen getrauen, fich nicht gefcheut,
feinerzeit der bolländifchen Regierung ganz offen mit der Befehung Javas durd)
die Sapaner zu drohen, falls die Ausfuhr von Zinn nad) Deutichland nicht
fofort eingeftellt werde.
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N ] STugper G.&Ü
N en PIE
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Die Sufunft des Dölferrechts
Don Dr. jur. Julius $Sriedrich, Profeffor an den Hölner Bochfchulen
TAIer Weltkrieg hat die Menfchheit vor neue, bis dahin nicht ge-
N Weannte, gewaltige Aufgaben geftelt. Es wettelfern in Theorie
und Praxis ale Berufe, Nationalölonomen und Finanzleute,
Naturwiflenfhaftler, Techniker und Kaufleute, Theologen und
Pädagogen, diefen Aufgaben gerecht zu werden. Auch den Juriften
ift in Sriegs- und Sriegänotgefegen, in der inneren, namentlich der wirtjchaft-
lihen Verwaltung und in der Verwaltung der befebten feindlichen Gebiete Tein
Hein Stüd Arbeit zugefallen. Nur ein Zweig der Nedtswilfenihaft fheint
beifeite zu ftehen, ja feheint faft feine Eriftenzberechtigung verloren zu haben:
Die Wiffenfchaft vom Völferreht. Der Bonner Hiftorifer Schulte hat Fürzlic)
geäußert: Das Wölferrecht ift der QTummelplah gelehrter Konftrultionen, die in
der Praxis unmöglich find. Und Bismard hat einmal gefagt: In der au$-
wärtigen Bolitit befolge ich feine Grundfäße, fondern ich tue von Fall zu Fall,
was mir richtig feheint; und ein andermal: Mit juriftiichen Theorien läßt fi)
feine auswärtige PBolitit treiben. Der Mann der Wifjenfhaft, der Piltorifer,
und der Mann der Praxis, der Staatsmann, haben damit dem Böllerrecht als
praltiſcher Wiſſenſchaft das Todesurteil geſprochen. Hat die entſetzliche Praxis
des Weltkrieges dies Todesurteil vollſtreckk? War es ein Wahn, in dem wir
lebten, als wir im Völlkerrecht etwas als wirkſam anſahen, das nicht wirkſam
geweſen iſt? Haben wir mit dem Völkerrecht etwas als vorhanden angenommen,
das nicht vorhanden war? Ja und nein. Das, was wir Völkerrecht nannten,
war wirkſame Wirklichkeit; aber es war kein „Völker“⸗Recht und es war kein
Voölker⸗, Recht“ im ſtrengen Sinne der „Jurisprudenz“. Was war es denn?
Iſt es noch heute? Wird es in Zukunft ſein? Das ſind die Fragen, die wir
uns ſtellen wollen.
168 Die Zufunft des Dölferrects
Es war kein „Völker“⸗Recht. Das bemeift feine Gefhichtee Das Wöller-
recht hat eine kurze Geſchichte. Kaum 800 Jahre ift e8 alt, wenn wir von.
den primitiven Anfängen des Gefandtichaftsrechts, des Kriegsgefangenen- und
Brertragsrehts in der Römerzeit und im Mittelalter abfehen. Hugo Grotius
und der Weitfälifhe Frieden haben es geihhaffen. Hugo Grotius in feinem
Mare liberum, Die Freiheit des Meeres, und in feinem berühmteren Werke
De jure belli ac pacis, YBom Recht des Krieges und des Friedens. Für ihn
war das Völlerredht das Net, „quod inter populos aut populorum rectores
intercedit“, das Recht, welches zwiichen den Völkern und deren Herridern
gilt. Daher ftammt der Name „Völlerret“. ES war für ihn in erfter Linie
„Böller"-Necht, in zweiter Linte Völlerrecht vermittelndes Herrſcherrecht. Der
Art nad war es ihm teils Naturrecht und göttliches Recht, teils menfichliche
Sitte (mores) und menfhlier Gebrauh (iura tacito pacto introducta).
Berträge (federa, pactiones, conditiones) erfannte er nicht al8 Völferredhts-
quellen an. Der Weitfälifhe Frieden bat diefe Gedanken erftmalig praftiih
ausgebaut, zugleihd aber aud fon die Reinheit der Konftruftion verlafien.
Er hat die „Freiheit des Meeres“ übernommen, aber auch die deutichen Zerri-
torien als Staaten, als Wölkerreditsfubjelte anerlannt und damit einer Ent-
widlung den Weg gebahnt, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts abgefchlofien
tft: Im Jahre 1797 Tonnte Kant in feinen Metaphyfifchen Anfangsgründen der
Nectslehre vorfhlagen, den Namen „Völlferret” dur „Stantenredht” zu er-
fegen.. Und in der Tat fft das Völkerrecht bis dahin immer Staatenrecht
geweien und ift e8 geblieben bis auf den beutigen Tag. 3 war und ift fein
Net zwifhen den Völkern, fondern zwifhen den Staaten, ein zmwilchenftaat-
lies Nedt. Und als die Stantsgewalt mit der Herrichergewalt volllommen
zufammenfiel, al8 die Herrfäher fagen durften: l’etat c'est moi oder — was
dasfelbe bedeutet —: Ich bin der erfte Diener des Staates, allerdings der
erite, wie e8 Friedrich der Große gemeint bat, als das Preupifche Allgemeine
Landredt die Fülle der Nedte und Pflichten, des Staates in dem OSerhaupt
des Stantes vereinigte, da wurde das Völkerrecht zum Herrſcherrecht, zum
Diplomatenredt. Das Völkerrecht hatte die Völker vergeffen. Auch die Stände
wurben, wo fie noch beftanden, nur zugezogen, wenn die Sache etwas Toftete,
und man nicht durch die reichägejehlide Bemwilligungspflicht der Stände, wie
fie der Jüngfte Neihsabichied von 1654 feflgejegt hatte, gededt war. Erft die
Aufflärer Rouffeau, Wolff und andere, und die franzöfiide Revolution haben
ja die Bedeutung der Individuen, aus denen fi) der Staat zufammenfett, für
das Staatsganze unterftrihen. Das war ja auch der Hauptgrund für den
BZufammenbrud des unter Friedbrid Wilhelm I. und Friedrih dem Großen in
ftraffer Beamten- und Dffizterszucht fo mächtig empor geblühten Preußen, daß
man etwas vergefien hatte in der Drganifation von Staat und Gemeinde, von
Heer und Verwaltung: das Boll. Erft das 19. Jahrhundert hat ja Vollsheer
und Selbftverwaltung der Gemeinden, VBolfsvertretung und VBollsreht in Preußen
* 2 ut * =
% > RE ERLERNTE Sb rn ee n
Die Zukunft des Dölferrechts 169
— — — — — —
geſchaffen. Aber das Völkerrecht hat man wiederum dabei vergeſſen; es blieb,
was es geweſen war: Herrſcherrecht, Diplomatenrecht. Denn was die konſti⸗
tutionellen Verfaſſungen des 19. Jahrhunderts über völlerrechtliche Vertretung
und völlerrechtlichen Vertragsſchluß enthalten, iſt innerſtaatliches Verfaſſungs⸗
und Verwaltungsrecht, Recht der Grundlagen der auswärtigen Verwaltung,
Staatsrecht, kein Völlerrecht.
Das Völkerrecht haben alſo die Völker nicht geſchaffen. Es war aber
auch nicht für ſie beſtimmt. Die es handhabten und fortbildeten, waren
wiederum die Herrſcher, die Diplomaten. In ſeltenen — und nicht den
wichtigſten — Faͤllen wurden auch die Parlamente, aber ohne das Recht der
Initiative und der Abänderung, zugezogen und die wichtigeren Normen wurden
meiſt Jahre lang vor ihnen mehr oder weniger geheim gehalten, — aus
Gründen der auswärtigen Politik. Deshalb iſt — nach Anſicht Gneiſts und
Labands, anderer Anſicht ſind E. Meier, Iellinel, Zorn, Schoen — die Mit-
wirkung der Parlamente bei völferrechtlihen Verträgen lediglich „Itaatsrecht-
Iider“ und nicht „völlerrectlicher" Art. Die auswärtige Bolitit beforgten ja
die Herrfcher, die Diplomaten.
Damit haben wir den Übergang zur zweiten Thefe gewonnen: Tas
jogenannte Völlerreht war und tft auch fein WVölfer- „Necht“ im ftrengen Sinne
der „Surisprudenz“. Nicht, weil es feine Zmangs-, feine Crekutionsinftanz
für das Völferrecht gibt; denn der phyfildhe, der natürlihe Zwang ift Tein
Wefenskriterium des Rechts, die meiften Necdhtsnormen werden vielmehr frei-
willig anerlannt oder au unfreiwillig anerkannt, alfo rein pfychifch erzmungen.
Und es gibt auch RecdhtSnormen ohne die Möglichkeit der Zwangsvollitredung, —
die übrigens ftetS nur für die Verwirklichung ſubjektiver Anſprüche da ift, nicht
zur Sicherung der objeliiven Necdtsordnnng. Auch nicht deshalb, weil ein
ftaatsähnliches Gebilde über Staaten begrifflih unmöglich jei; denn der Bundes-
ftaat ift ein folches, fogar ein Staat3gebilde, ein Staatenftaat.e. Auch nit
beshalb, weil das Völlerreht „das Wichtigfte nicht regele”, nämlich die Ver-
bältnifje, die fih auf die Ehre, die Eriftenz und die Lebensintereflen der Staaten
beziehen; denn das Net fol und Tann nicht alle menfclichen Verhältnifje
regeln, und jene Verbältniffe könnten auch völferrechtlich bis zu einem gemifien
Grade geregelt werden. ndlic) auch nicht deshalb, weil das Völkerrecht für
den einzelnen jelbitändigen Kulturftaat nur infofern und infoweit bindend ift,
als er e8 anerlannt, durch feinen Herrſcher „ratifiziert” hat; denn die Anerfennung
der Reditönormen ift der lebte Verpflichtungsgrund allen menſchlichen Rechts,
und es gibt auch, im Bundesftaatsrecht Normen, die nur durch) die Anerlennung
einzelner Öliedftanten abänderungsfähig find. — Sondern au3 ganz anderen
Sründen.
Das fogenannte Völferreht tft fein Necht im Sinne der ftrengen „urise
prubenz“ — einmal deshalb, weil das „Recht“ begrifflih zu beftimmen tft
als die von Herriher und Volk einer beitimmten Denfchengemeinihaft aner-
n
170 Die Zufunft des Dölferrecdhts
fannte Wortformel zur Regelung der wirtichaftlihen und fonftigen Macht.
verhältniffe der Menfchen diefer Gemeinfhaft, e8 aber weder einen Völlerredht3-
berrfcher no auch ein WVölferrechtSvolf gibt, fondern nur die ideell zufammen-
gefaßte Mehrheit ftantliher Herricher und ftaatliher Völfer, — die jedod alle
rehhtlih „in“ den Staaten ftehen, nicht „über“ ihnen. Deshalb ift auch die
Gemeinfhaft der Wölferrechtsftanten Leine „Menichengemeinfhaft” im jtrengen
Sinne des „Rechts“, feine Nechtsgemeinfchaft, fondern eine tatfächlihe Kultur-
gemeinfhaft. Ale Berfuche, ihr mit „juriftiihen” Gemeinfchaftslategorien
beizulommen, find als mißglüdt anzufehen. Sie ift fein Staat oder Bundes-
ftaat oder ftaatsähnliches Gebilde; denn fie ift weder grumdgefeblih nod)
gewohnbeitsrehtlih nah Art einer DVerfaffung zufammengehalten. Sie tft
überhaupt feine juriftiiche Perfon, fein Verein, feine Genofjenfchaft, feine Gefell-
ichaft im Sinne des GStaatsredhts; denn fie hat Fein DVertretungsorgan nad)
innen und außen, feinen Borftand. Sie ift aud) fein Staatenbund oder fonftiger
völferrechtliher Verband aus demfelben Grunde. Dan Lönnte fie allenfalls
eine völferreht3politifche Korporation auf gleichfam genoffenjchaftlicder Grundlage
nennen, obwohl fie aud) als folche Teine rechtlich umjchriebenen Yunktionen hat. —
Wir müffen daher jagen: Das von ihr durch allmählicde Anerkennung jeitens
der einzelnen SKulturftaaten in Staatengebräudhen und Staatenverträgen ge-
Ihaffene WVölferredht ift mithin auch fein „Necht” im ftrengen Sinne der
„Surisprudenz“.
Das DVöllerredt war und blieb ein Necht nicht über, fondern zwifchen
den Staaten, jodaß die einfeitige Aufhebung einer Vertragsbeftimmung aud)
den oder die Vertragsgegner ermädhtigte, von der Norm abzugeben, und man
heute noch in gewillem Sinne berechtigt wäre, das Vertragsrecht als joldde8 —
als Völferrecdtsquelle — mit Hugo Grotius überhaupt nicht anzuerfennen. Zumal
die „clausula rebus sic stantibus“, d. i. die Klaufel, daß eine vertragliche
Rechtsnorm nur folange gelte, als die tatfächlihen Vorausfegungen, die zu
ihrer Schaffung geführt haben, noch vorhanden find, oder fih nicht wefentlich
geändert haben, in der Praxis eine viel weitere interpretation erfährt als in
ber Theorie, — und das Alles bezieht fiy nicht nur auf fpezielles, d. i. von
einzelnen Staaten zur Regelung einzelner Rechtsverhältnifje gejchaffenes Recht,
fondern aud auf allgemeines und umfaflendes Völkerrecht, wie z. B. die beiden
Haager Friedensablommen von 1899 und 1907. Diefe gelten, wie wir aus
den Erfahrungen des Weltkriegs heraus feftftellen müfjen, nicht fomweit und
weil fie vereinbart find, fondern weil fie vielfach Tängft durch Gebräuche
anerfanntes Gemohnbeitsrecht vertraglich feftgelegt haben, und diefes gilt nad
wie vor, ob e& darin oder ob nicht, ob es Mar und vollftändig oder unvoll-
ftändig und mangelhaft darin enthalten ift, ob e8 von einzelnen oder von
vielen oder von allen Völferrecitsftaaten anerkannt, ratifiziert worden ift (die
Anwendung der „Allbeteiligungsklaufel” — die fogleich zu erwähnen ift — auf
den Weltkrieg 3. B. würde zu ganz unmöglichen Folgerungen führen)... Aud
Die Sufunft des Dölferredhts 171
m m nn
diefe allgemeines Völferreht enthaltenden völferredtlicden Verträge haben als
Böllerreitsquellen nur fehr relativen und mehr biftorifhen Beweiswert als
juriftifde Bedeutung.
Überall im Völferredjt fehen wir außerdem ein Vorherrfchen politifcher
Zmwede über die juriftifhe Grundlegung, einen Erfenntnisgrund und eine Er-
fenntnisweife, die wir nicht mehr nur als „urisprudenz”, fondern aud) und
überwiegend als „Nechtöpolitif“ anzufprechen beredtigt find. Das Völkerrecht
teilt in diefer Hinfiht das Schidfal des Kolontalrehts8 und des Verbredhen3-
befämpfungsredt3, die ebenfalls überwiegend rechtspolitiiden Charalter tragen.
Hier wie dort handelt eS fich weniger um rechtliche Bindungen und umfafjende
Feftlegungen von langer Dauer (Kobdififationen), wie das etwa im Zivilrecht
oder im Strafredit im engeren Sinne mwünfdhenswert tft, fondern um freiere,
mweitherzigere, leichter abänderbare, den jemweiligen Kulturbedärfnifien anpaßbare
Bindungen, wie fie etwa das Vermwaltungsredht im Gegenfag zum Verfafjungs3-
recht aufmweift. Freilich auf fefter allgemeiner Grundlage des Necht3 und mit
feft beftimmten allgemeinen Zielen. |
Der Überwiegend „rechtspolitifche” Charakter des Wölferreht8 muß aud)
aus dem Grunde mehr als feither unterftrichen werben, weil bie meiften Völfer-
rechtler ihn nicht anerkennen. Damit find wir bei den fogenannten „Qölfer:
rechtstheorien” angelangt, nnd müffen fie furz ftreifen, um zu ihnen Stellung
nehmen zu lönnen. Diefe Theorien wollen das Völkerrecht zu dem „Net“ in
Beziehung jeen, meift mit dem Unterziel, den „juriftifden“ Charafter des
Völlerrechts darzutun.
Man unterſcheidet „dualiſtiſche“ und „moniſtiſche“ Völlerrechtstheorien, je
nachdem man Völkerrecht und Staatsrecht (dieſes im denkbar weiteſten Sinne
als das vom einzelnen Staate für ihn ſelbſt geſchaffene Recht, alſo alles inner:
ſtaatliche Recht) in zwei verſchiedene Rechtskreiſe verlegt, von denen keiner den
andern deckt, oder man ſie in einem einzigen oder in mehreren konzentriſchen
Kreiſen unterzubringen verſucht. Innerhalb der dualiſtiſchen Völkerrechtstheorien
ſind diejenigen hervorzuheben, die Völkerrecht und Staatsrecht als „qualitativ“
untereinander verſchieden anſehen und die beiden Rechtsarten deshalb in ver—⸗
ſchiedene Ebenen verlegen. Man kann ſie ſich dadurch veranſchaulichen, daß
man fi) den Staat auf der unierften Stufe einer fünfteiligen Stufenfolge vor-
ftelt. Dann fteht über ihm auf der zweiten Stufe das auch ihm übergeordnete
Staatsredit, auf der dritten das DBölferredht, auf der vierten der ethilche
$mperativ und auf der fünften und oberjten Stufe das Gebot des Glaubens,
die Religion. Gehen wir die Stufen von unten nad) oben, fo erfcheint die
Staats- und Herrfcheridee als einzige Nechtsquelle, als allein treibende Kraft,
die außerhalb ihrer felbft und über fi) binaus das Staatsreht und durd
diefes hindurch vermittel® des Verfafjungsreht8 durch weitere Abjtraktion in
höherer Ebene das Völferredht fchafft, diefes wiederum in höherer Ebene zur
Völkerethit und zum Völlerfrieden verallgemeinert, um im Glauben und in der
172 Die Zufunft des Dölferredts
Staatsreligion das Werk zu Irönen. Alfo ein allmählicher Auskryitallifierungs-
prozeß, ein Auslefeverfahren, ein Menfchenwerl, um das Redt bis in den
Bereich des Göttlichen zu heben, — ein Werk des Staates. Ind gehen wir
umgelehrt die Stufen von oben nach unten, fo fehen wir jene andere Theorie
entitehen, der das göttliche, daS geoffenbarte Necht die Duelle allen Rechts ift,
das fih auh in menschlicher Ethil und im natürlichen, d. i. der Menjchheit
gemäßen Nette, dem Naturredht, von dem das Völkerrecht ein Teil ift, noch
wiederfpiegelt, das aus dem Völkerrecht das Stantsrecht hervorgehen läßt und
mittels biefes8 den Staat felber, der auf folche Weile ebenfalls feinen göttlichen
Urfprung nachgemwiefen erhält. Die ganze Reihe — entweder von oben nad)
unten oder von unten nach oben — finden wir in ber NaturrechtSpbilofophie
des fiebzehnten und neunzehnten Yabrhunderts, erftere aud) in der orthodor-
katholiſchen NRedtsphilofophie von heute. Teile der Reihe find in der neueften
weltlichen Rechtsphilofophie zu finden. Für Laffon, E. %. Beder und Berolz-
heimer 3. B. it das Völferrecht fein „Recht“ im ftrengen Sinne, fteht alfo auf
„höherer“ Stufe. Nach Pohl iſt das Völkerrecht durch Abftraltion aus dem
national⸗internationalen Recht gewonnen worden. Krabbe erlklaͤrt die ganze
Staatsperſönlichkeit aus dem Völkerrecht, ordnet dieſes dem Staatsrecht über.
läßt das Staatsrecht ganz in dem (freilich von dieſem „delegierten“) Völlerrecht
aufgehen. Anderſeits ſtreicht Zorn (und ähnlich Fricker) die Völkerrechtsſtufe
vollſtändig und läßt die Völkerrechtsverträge nur moraliſch binden. Fur ihn
hört mit dem Staatsrecht die Rechtsſphäre überhaupt auf, ſodaß das ſogenannte
Völkerrecht, ſoweit es als „Recht“ erſcheint und angeſehen werden kann, mit
dem Staatsrecht zuſammenfällt. Man kann daher ſeine Theorie als einen Kreis
darſtellen, in deſſen Zentrum das Staatsrecht ſteht, und innerhalb deſſen
Peripherie ſich das Völlerrecht als „Recht“ befindet. Ihm ſtehen Leoni und
Meyer nahe, die einen Widerſpruch im Staatswillen (welcher das Völlerrecht
und das Staatsrecht geſchaffen hat) als unmöglich empfinden und deshalb beide
zuſammenfallen laſſen. Dann verpflichtet der völlerrechtliche Vertrag rechtlich
höchſtens zum Erlaß eines Staatsgeſetzes, wie es auch ſchon Gneiſt, E. Meier
und Laband angenommen haben, die deshalb bei Staatsverträgen die ſtaats⸗
rechtliche Bindung von der völlerrechtlichen unterſcheiden mußten; Ethik und
Glauben ſtehen hier ganz außerhalb des Kreiſes der Rechtsſphäre.
Damit find wir ſchon in die Gruppe der moniſtiſchen Theorien eingetreten.
Ein Übergangsſtadium bildet Triepel, der Völkerrecht und Staatsrecht zwar als
zwei gleichzeitig nebeneinander in Geltung befindliche Normenkomplexe anfieht,
als zwei Rechtskreiſe, „die ſich höchſtens berühren“, ſie aber doch in eine Ebene
verlegt. Und verwandt mit der Triepelſchen und der Zornſchen Theorie iſt die
Theorie von Walter Jellinek und Kelſen, daß die völkerrechtlichen Staats⸗
verträge „Staatswille kraft Ermächtigung oder Verweiſung“ ſeien, ſo daß die
beiden Rechtskreiſe ſich ſchneiden, aber nicht vollkommen decken, — wobei nur
zu befürchten iſt, daß das gemeinſchaftliche Gebiet des (materiellen, nicht for⸗
Die Sufunft des Dölkerredts 173
mellen) Staats- und Völferreht8 fo groß wird, daß wir uns dem einen Sreife
3orns nähern, wo, wie wir fahen, das Völkerrecht” im Staatsrechte, oder,
wie wir e8 oben an der Stufenfolge bei der Theorie Krabbes andeuteten, wo
das GStaatsredht im Völferrechte aufgeht.
Die eigentlid — und fonfequent — moniftifhen Theorien find nit nur
burdjaus auf eine Ebene zu verlegen, fondern auch in einen Kreis oder in
mehrere lonzentrifcde reife. — Die ältefte der eigentlichen moniftifchen Theorien
ftammt von dem NRecdtsphilofophen Chriftian de Wolff, demjelben, vdeijen
Institutiones juris naturae et gentium von 1754 auf das Preußifche AL-
gemeine Landredit fo großen Einfluß gewonnen haben. Sie ift piuchologifch
begründet. Wie das Stantsrecht die Nechtsüberzeugung der einzelnen Staaten,
fo ftelt das Völlferreht — quantitativ — die Nechtsüberzeugung der Staaten-
gemeinfchaft dar, die er deshalb eine civitas maxima nennt. Das Völferrecht
wird jo zum „gemeinfamen“ Recht der Staaten, da8 von jedem einzelnen Staat
ber Gemeinfhaft „gewollt und gefollt“ werden fol. Die Theorie wird mit
ähnlicher Begründung von Kohler, Ullmann, Heilborn, v. Lilzt, v. Holtendorff,
Bergbohm, Niemeyer, E. Kaufmann, Huber, Fleifchniann, Zitelmann und Herrnritt
vertreten. Hier fteht der Staat alS Hauptredhtsquelle im Zentrun dreier (bei
Wolff zweier —; denn bei den-Neueren ift no) das Bundesftanisreht als
weiterer Nechtsfreis binzugelommen) FZonzentrifher SKreife, die als „Recht“,
„Bundesftaatsreht” und „Wöllerrecht” zu bezeichnen find. — Wenn aber der
Staatswille fi ändert? Wie fol er dann ohne Vorbehalt in der Lage fein, auf
Bundesftaatsreht und Völkerrecht einzumirfen, das er mit geihaffen bat? Gr
bleibt gebunden, bis die übrigen beteiligten Bölferrechtöftanten ihn löfen. —
Abweichend hiervon Tonftruiert deshalb eine andere Theorie das „Recht“, und
zwar das ftaatliche Verfafjungsreht, alS einzige Quelle für die Eniftehung des
Staates felber, der auswärtigen Verwaltung des Staates und des Völferredhts,
die ebenjo viele Fonzentrifche Kreife um das Zentrum „Recht“ bilden. Nur die
eigene Rechtsordnung wird als Ausgangspunkt auch der freiwilligen Völferredht3-
bindung angejehen. Der Staat „ift“ nur, jagt dieje Theorie, durch feine Ver-
fafjung, Tann alfo au) nur wollen, was fie erlaubt. _ Go neueftens Verdroß,
ähnlich aber fhon Georg Yellinel, Lammafdh, Seligmann und — al3 andere
möglide Berfion — auch Seljen. Der Staat fann dann aud) Dritten, außer-
balb feines Nechts- und Machibereihs Stehenden in feiner Verfaffung erlauben,
mit Wirkung für ihn Völkerrecht zu fegen. Das ift aber ein gar zu formeller
Standpunlt, mehr verwaltungs- als verfafjungsrechtliher Art und kann fi) Do
nur auf den Vertragsihluß und feine Folgen beziehen, nicht auch auf den Ber-
tragsbrud) und feine Folgen (joweit diefer völferrechtlich erlaubt ift), der lediglich
völferredhtlich bedingt fein kann, nicht verfaſſungsrechtlich.
Die Bölferrechtstheorien befriedigen alle nicht recht. Das Recht erſcheint
bier allzu formaliſtiſch als Filigranarbeit von Begriffen und wird der Wirklichkeit
des Völlerrechts nicht gerecht. Ich ſchlage daher einen anderen Ausgangspunkt vor.
174 Die Sufunft des Dölferredts
- — nn ge er ne — — — — — — —
— — — — — — — — — — — — — —— — — G G— — — — — — = =
Nicht nur der Staat fhafft Recht, fondern jede Menſchengemeinſchaft kann
e3 produzieren, die Herrfher und Voll und eine Organifation dafür bat. Ge-
länge es, der Kulturgemeinfchaft der Völferrechtsftaaten eine Nechtsorganifation
zu geben und darin die Nechtäbegriffe Herrfher und Voll Wirklichleit werden
zu laffen, fo wäre das Völferrecht „Recht“ im ftrengen Sinne der Yurisprudenz
geworden. Da aber zurzeit noch) Herrfher und Volk fowie die Drganifation
(die man fih ja nah Art eines Weltbundesftaates oder -ftaatenbundes wohl
vorftellen fönnte) lediglich der dee nach erijtieren, fann von überftaatlihem
Völkerrecht nicht Die Rede fein, fondern höchftens von zwifchenftaatlidem. Das,
was wir meift „zwifchenftaatliches” Recht nennen, das fogenannte internationale
Bermwaltungs-, Straf-, Privat- und Prozekredt ift nun dDurdaus nur gemein-
fames oder in der Hauptjadhe übereinftimmendes oder Rüdfiht nehmendes
Staatsreht (im weiteften Sinne). 3 gibt aber ein „zwifchenftaatlihes” Recht,
das viele zu unrecht Staatsredht nennen, obwohl es nicht fraft ftaatlider An-
erfennung gilt, fondern dem Staate gegenüber allenfalls für ftaatlidh geduldetes
Net angefehen werden Tann: da8 von der Fatholiihen Weltlicche gefchaffene
fatholifche Kirchenrecht. Diefes zwifchenftaatliche ARecht ift auch nicht deshalb
ftaatliches Recht, weil der Staat heute die Grenzen zwifchen Staat und Kirche
beftimmt. Man könnte es ein „Recht zwilchen den Völkern” nennen, das dod)
nicht ftaatliches Net geworden ift, — daS einzige „Völferreht“ im Sinne des
Hugo Grotius, welches die Völferrechtsentwidlung überdauert hat.
Wir wollen alles ftaatlide und nichtftaatlihe Net unter einem Gefidt3-
punft zufammenfaffen, den germanifhen Gedanken von der grundjäglichen
Einartigkeit allen (öffentlichen und privaten) Rechts, auch des Völkerrechts (der
Zulunft) zugrunde legen.
Das pofitive, d. i. jeweils innerhalb einer organifierten Menjchengemeinichaft
von Herriher und Bol anerkannte Recht Tann einmal aus fi) felbft, in feinem
biitoriiden Zufammenhange oder rein dogmatiich erfakt, erforiht und an«
gewandt werden. Bas ift der Erlenntnisgrund und die Erlenntnisweife der
„Surisprudenz”. Es Tann aber aud) in fonfrete Zwedzufammenhänge gebracht
und fo erforjcht, feitgeftellt und gehandhabt werden; das ift „Rechtspolitik“. Und
e3 fann endlich in einem Weltanfchauungszufammendhange erlannt und theoretifch
und praftifceh durforfcht und feitgehalten werden. Das ift der Standpunlt der
„Rehtsphilofophie". Stellt man fi nun diefe drei Methoden als Tonzentrifche
Kreife vor, deren Mittelpunkt das Recht ift, fo wird die Rechtsphilofophie zum
Mapitab für NRechtspolitit, Yurisprudenz und Net — oder diefes für jene
drei Methoden der Necdtsforfchung, je nachdem ich das im Zentrum der drei
tonzentriihen Kreife ftehende Net in diefe oder diefe in das Recht hineiu-
projiziere. Außerhalb der jo dargeitellten Gejamtrechtsiphäre aber berührt fid
der äußerjte Kreis (der NRechtsphilofophie) mit anderen — überſtaatlichen —
Weltanfhauungsmwerten (äfthetiihen, ethifchen, religiöfen Charakters) und anderen
abjoluten Mapftäben, wie fie Naturwiffenfhaft und Technik liefern (3. B. den
Die Sufunft des Dölferredts 175
—
—
Naturgeſetzen). Dann wird das Recht als machtverteilendes und Verletzungen
der Machtverteilung ausgleichendes Prinzip zur „Gerechtigkeit“ im Sinne des
Ariſtoteles. — Und das Völkerrecht? — Es findet ſeine Stelle mehr im zweiten
als im erſten Kreiſe; es iſt mehr Rechtspolitik als Juriſterei. Die Völkerrechts⸗
praxis iſt überwiegend Rechtspolitik, das Völkerrecht ſelbſt nur dann „Recht“
im ſtrengen Sinne der, Jurisprudenz“, wenn man die herrſchaftliche Organiſation
fingiert, falls man nicht die ideelle Einheit der ſtaatlichen Herrſcher (und Völker)
als Erſatz gelten laſſen will. Es iſt dann ein auf der gleichſam genoſſenſchaft⸗
lichen Grundlage der Kulturgemeinſchaft der Völkerrechtsſtaaten durch gegenſeitige
Bindung im Wege der ausdrücklichen oder ſtillſchweigenden Anerkennung als
gemeinſame und für notwendig erachtete Rechtsüberzeugung erwachſenes „Recht“
in denlbar freieſtem Sinne der Jurisprudenz, das die Ausũübung von Hoheits⸗-
rechten der Völkerrechtsſtaaten zum Gegenſtande hat und das nur pſychiſch oder
im Wege der Selbſthilfe erzwungen werden kann. —
Was gilt vom Völkerrecht noch heute? Was hat im Völlerkrieg bis jetzt
gegolten? Man könnte auch fragen: Was haben fie aus dem bis zum Böller-
kriege von uns al3 geltend angenommenen Völferrehte gemaht? Denn was
bis zum Auguft 1914 an Böllerrecht als geltend angenommen wurde, willen
wir. E38 fohien eine ftetige Fortentwidlung des WVöllerrehts zu fein, im Sinne
fortichreitender Kultur, der fi fortentwidelnden Wöllerfriedensidee, der Ver⸗
menſchlichung des Krieges, der Vervollkommnung des Menſchengeſchlechts.
Humanifierungsverträge für das Kriegsrecht begegnen uns ſchon im 18. Jahr⸗
hundert. Der Pariſer Vertrag von 1856 ſprach ſchon von Vermittlung völker⸗
rechtlicher Streitigkeiten, und die Seerechtsdeklaration vom ſelben Jahre regelte
das Neutralitäts- und das Seekriegsrecht. Das Nationalitätenprinzip führte —
neben manchen Auswüchſen — zur Befreiung Griechenlands, zur Einigung
Italiens und ſterreichs, zur Gründung des Deutſchen Reiches. Milde und
Menſchlichkeit waren die Motive, welche die Genfer Konvention 1864, das
Verbot der Dum⸗Dum⸗Geſchoſſe 1868, die Anerkennung der Verbindlichkeit
internationaler Verträge 1871, die Bekämpfung des Sklavenhandels 1890, die
Friedensidee auf den Hager Konferenzen 1899 und 1907 gezeitigt haben. Die
Genfer Konvention war 1906 erneuert, 1907 auf den Seekrieg ausgedehnt,
das internationale Verwaltungs⸗, Privat- und Tropenrecht weiter ausgebaut
worden, die Londoner Seekriegserklärung von 1909 ſchien der Ratifikation nahe,
ſchon träumte man von einem Welt⸗Oberpriſengericht, von einem obligatoriſchen
Weltſchiedsgericht, — da brach der Weltkrieg aus und hat gleich in ſeinen
Anfängen ſcheinbar einen völligen Zuſammenbruch der Völlerrechtsidee gebracht.
Neutralität, Meeresfreiheit, Beſchränkung des Landkrieges auf die Heeres—
ſtreitkräfte und die Staatsgebiete, des Seekriegs auf die Kriegführenden, Genfer
Konvention und andere internationale Vertragsberedungen ſchienen tote Buch—⸗
ſtaben geworden zu ſein. Deutſchland und ſeine Verbündeten, ängſtlich bemüht,
ihren kriegsrechtlichen Verpflichtungen, auch dem Feinde gegenüber und in den
176 Die Sufunft des Dölferredhts
von uns befegten Gebieten, nachzulommen, mußte erfennen, daß feine zehn
großen und fleinen Gegner anders dachten. ES mußte erfahren, daß das Wort
de8 Hugo Grotius „bellum est duellum pacis causa“, der Krieg it ein
ehrenvoller Kampf um des Friedens willen, verwandelt war in dem Schwur:
„bellum est instrumentum delendi ac diruendi causa“, der Srieg ift ein
Mittel, zu zerftören und zu vernichten, — zu zerftören und zu vernichten die
deutfche wirtfchaftlie und politifche Macht, Das deutfche Anfehen und den deutidhen
Kredit in der Welt, den Erfolg deutfcher Arbeit und berechtigten deutſchen
Entmwidlungsftrebens. Wir mußten erfahren, daß jedes Mittel des Haffes, der
Leidenſchaft, der Verleumdung, ja der Aushungerung friedlicher Bürger, recht
Ihien, um zu jenen Zielen zu gelangen. Daß das Völkerrecht abfichtlich gebeugt,
verdreht, entjtellt, in fein Gegenteil interpretiert wurde, um fi vor der Welt
zu rechtfertigen. — Aber daß man dies tat, daß man filh auf angebliches Völfer-
re&t berief, daß man dem Gegner Völlerrehtsbrud auf Völlerrehtsbrud —
mit Recht oder Unreht — vorwarf, beweift eben, wie tief der Böllerrechts-
gedante bereit3 in der Menichheit Wurzel gefaßt bat, wie feit man von der
Notwendigkeit internationaler Bindung überzeugt ift, wie man von ihr das Heil
der Zulunft erwartet. Und die fraffeften Ausmüchfe des nationalen Egoismus
und des Völferhafjes bemweifen eben in ihrer Kraßheit jedem, der fehen Tann,
daß die Vergeltung der Vergeltung und die Vergeltung der Vergeltung ber
Vergeltung zum Srieg aller gegen alle führen muß, zum Menſchenchaos. —
Aber Funlen von Vernunft und allgemeiner Menfchenliebe glimmen nody in der
erfalteten Ajche des Menfchenhafjes unferer Feinde, wie uns die Beobadhtung
der Kriegderflärungsnormen, des Bündnisrehts (außer italien), des Ent»
Ihädigungsrehts, der Kriegsgefangenenaustaufd, die Stimmen ber ruhig und
unparteiiih gebliebenen Neutralität, die allmählich wiederlebrenden $ormen
internationalen Verfehrs- und Sanitätsrecht8 bemeifen. Aber viel ift es nicht,
was beobadtet wurde und beobaditet wird. Don dem ftolgen Gebäude des
Völlerrehts find nur die Grundmauern ftehen geblieben.
Lohnt es fi noch, darauf wieder zu bauen? Was wirb das Völlerrecht
ber Zufunft fein? Borjehung fpielen ift auch in der Völkerrechtspolitik zwecklos,
weil unmöglid, und Prophezeien ein undankbares Geſchäft. Wir müffen uns
darauf befchränten, die Hauptmängel und »Jhmächen des heutigen Böllerredhts
aufzuzeigen und Ziel und gangbare Wege der Reform ins Auge zu faflen.
Der treformbebürftigfte Hauptmangel des Völferrehts ift wohl der, daß
nidt einmal feine Grundlagen, fein „Allgemeiner Teil”, irgendwo eindeutig
niedergelegt find. Die Magna Charta des Völferrechts tft ungefchriebenes Recht.
Wo allgemeine Völferrechtsfäge in Verträgen gelegentlich erwähnt find, ift dies
eher zu bedauern, als zu begrüßen. Denn felten gefchteht e8 in ganz un«
mißverftänblicher Weife; und wir haben gefehen und erfahren, daß der völfer-
rechtlihe Vertrag noch heute die Furzlebigfte, veränderlichfte und deshalb
unfiherfte aller Völferredhtsquellen if. Den Stürmen des Weltkriegs getroßt
Die Sufunft des Dölkerredhts 177
haben faft nur Zeile der „mores populorum“, der „jura pacto tacito intro-
ducta“. Hugo Grotius hat recht behalten. — Die BVöllerredhtsgebräuche gilt
es deshalb neu zu jammeln, zu formen, feitzulegen. Auch muß das Bölfer-
recht mehr „allgemeines” Gemwohnheitsrecht als „Ipezielles" Vertragsrecht werden.
Freilich geht die gewohnheitsrechtliche Entwicklung im Völkerrecht langſamer von
ſtatten, als im Staatsrecht im weiteſten Sinne. Was hier Jahre und Jahr⸗
zehnte, ſind dort Jahrhunderte.
Von Einzelheiten iſt hervorzuheben: Die „elausula rebus sic stantibus“
darf nicht aus dem ſtaatlichen Zivilrecht oder aus dem ſtaatlichen Verwaltungs⸗
recht, ſondern muß ans jenen BölferrechtSgebräuchen autbentifch interpretiert
werden. Ferner kann zwar die Verfügung über Ehre, Exiſtenz und Lebens⸗
intereſſen der Staaten ſelbſt nach wie vor nicht völkerrechtlich geregelt werden,
wohl aber kann und muß die „Klauſel“ von der Ehre, der Exiſtenz und den
Lebensintereſſen der Staaten in einer Weiſe formuliert werden, daß ſie nicht
mehr als Vorwand dienen kann, jeden Angriffs⸗ oder Präventivkrieg zu recht⸗
fertigen; der einzelne Kriegsfall müßte zwecks (ſofortiger) Feſtſtellung der Vor⸗
ausſetzungen der Klauſel einer internationalen Kommiſſion, einer Spruchbehörde,
— keinem obligatoriſchen Schiedsgericht — zur Prüfung und den beteiligten
Volksvertretungen zur Würdigung und Entſchließung vorgelegt werden. Die
„Allbeteiligungsklauſel“ (Zitelmann), d. i. die Klauſel, daß im Kriege ein
Völlkerrechtsſatz nur dann anwendbar ſei, wenn ſämtliche am Kriege beteiligten
Staaten ihn anerkannt, ratifiziert haben — eine Klauſel, deren Anwendung
im Völkerkrieg, wie geſagt, zu den unglaublichſten Konſequenzen führen würde —
muß hinter der ſtärleren Geltung des Gewohnheitsrechtes zurückſtehen, wo ſie
ſich in Verträgen findet. — Die „Klauſel von der Geltung des früheren Rechts“,
d. i. der Satz, daß die Völkerrechtsſtaaten an die frühere Formulierung einer
Völkerrechtsmaterie ſolange gebunden ſeien, bis ſie der neuen Formulierung
zugeſtimmt haben, muß im Sinne einer klareren und engeren Bindung der
früheren Vertragsſtaaten umgeändert werden. — Die „Neutralität“ muß neu
umſchrieben werden, damit die Berufung auf einen „Rechtsſatz“ für neutrale
Geſchütz⸗, Geſchoß⸗ und Geldlieferungen an Kriegsführende nicht den Umfang
aunehmen kann, den ſie im Weltkrieg angenommen hat. — Das internationale
Verfahren in Verwaltungs⸗- und Prozeßſachen iſt zu reformieren — und vieles
andere. An das freilich, was viele für das Wichtigſte halten: die Möglichkeit
einer allgemeinen Abrüſtung, glaube ich nicht; neque quies gentium sine
armis — fagt Tacitus (Hift. IV).
Aber alle diefe mehr oder weniger formaliftifhen und juriftifhen Dinge
müflen zurüdtreten hinter das eine große redtpolitifhe Ziel des Völferrechts
der Zukunft: den Bölferfrieden. Er war ja auch feither fhon das Ziel oder
wenigftens ein Ziel der Völlerrehtsentwidlung. Erleichterung der internationalen
wirtichaftlichen, rechtlichen und ſonſtigen Verlehrsmoͤglichkeiten, Vermenſchlichung
des Kriegs und Völlerfrieve waren — Tann man jagen — bie Hauptzwede”
Grengboten 1 1916 12 /
x
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V.
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178 Die Zufunft des Dölferredhts
der bisherigen völferredtlihden Bindung. Sie waren aber allzufehr zufammen-
gehalten von dem Gedanfen der völferreditlihen Staatenberedhtigung, des
nationalen Egoismus, und häufig feineswegs diltiert von univerfaler Dienfchen-
und Lebensweisheit.. Nur, wo der nationale Egoismus vereinbar fchten mit
dem Egoismus der anderen, lam es zu einem Kompromiß. Das Böllerrecht
der Zulunft fan aber nur erftehen und fich entwideln mit einer ftarfen Dofis
von nationalem Altruismus. Wenn England, Rußland und Frankreich, vielleicht
au Stalten, dabei nidht mitmachen wollen, müffen fie eben in die zweite
Stellung, die Stellung des „sacro egoismo“, zurüdgebrängt werden. — E8
gibt außer dem Völlerrecht auch eine Völkerpfliht. Diefe gilt es zu erkennen.
Es gilt das DVölfergewiffen zu weden und zu verfeinern. So lange nod
Diplomaten vom Schlage eines Safonow, Sonnino, Asquith, Grey, Ehurdill
und Delcafie das Völferredt machen und handhaben, folange das Bölfer-
gemwiffen ihrer Völfer no nit in die Wagfchale fällt, wenn es fi um eine
Entioließung handelt: Krieg oder Nichtkrieg, Sein oder Nichtfein, folange gibt
es wohl für folde Staaten Völler- und Staatenmadt, aber lein Völferredit.
Dem, was fie fo nennen, fehlt der Tategorifchde Nechtsimperativ, fehlt das etbifche
Mintinum, fehlt die das Völkerrecht zu tragen allein befähigte Völferethit, fehlt
das Völkergewiſſen. —
Der Staat iſt aber nur ein formeller Rechtszuſtand, ſeine Materie iſt
Herrſcher und Volkl. Das Voll, der Volksmann, das Volksheer, die Volls⸗
vertretung verlörpern es ſo gut, wie der Herrſcher und ſeine Organe, — das
Völkergewiſſen. Man ſollte auch jenen die Geheimniſſe der auswärtigen Politik,
ſoweit ſie Völkerrechtsnormen ſchafft, nicht in dem Maße vorenthalten, wie
ſeither. Der Berliner Hiſtoriker Meinecke hat zwar umgekehrt Frankreich als
warnendes Beiſpiel von Volkskontrolle internationaler Abmachungen hingeſtellt.
Allein das franzöfiſche Volk läßt ſich auch in der Politik nur ſchwer mit dem
deutſchen vergleichen, und die Deputiertenkammer iſt keiñe freie Vertretung bes
Volks in unſerem Sinne, ſondern ein Werkzeug in der Hand einer kleinen
kapitaliſtiſchen Intereſſentengruppe. Jedenfalls hat nichts dem deutſchen Namen
im Weltkrieg mehr genützt, mehr Anerkennung verſchafft — nach innen und
nach außen — als die Wahrhaftigkeit der deutſchen Kriegsberichte. Der Welt⸗
krieg hat fich hier als der große Erzieher zur offenen Intereſſenvertretung be⸗
wahrt, die trotzdem vorfichtig, klug, im beſten Sinne „diplomatiſch“ ſein kann. —
Das zwiſchen den Staaten geradezu ungeheuerlich gewordene Völkermißtrauen
muß mehr und mehr verſchwinden, — wie es zwiſchen uns und Frankreich
ſchon einmal nahezu verſchwunden war und lediglich durch Englands Raͤnke
wieder in ſein Gegenteil verwandelt wurde —, muß mehr und mehr einer
internationalen Politik gegenſeitigen Vertrauens, gegenſeitiger Achtung Plat
machen.
Das Völkerrecht muß wieder an den Ausgangspunkt anknüpfen, den im
fiebzehnten Jahrhundert Hugo Grotius geſchaffen hat. Nicht als ob wir uns
Die Sufunft des Dölferredts 179
— — —
——
damit um Jahrhunderte in der Kulturentwicklung zurückſchraubten. Inzwiſchen
iſt der heutige konſtitutionelle Staat entſtanden, der den abſoluten Staat ab⸗
gelöft hat. Beide hat Hugo Grotius noch nicht gekannt. Aber hätte er ſie
auch gelannt, er hätte ſein Völlerrecht doch nicht anders definiert als das „jus,
quod inter populos aut populorum rectores intercedit“. Und haͤtte noch
mehr Nachdruck auf das Recht der Völker gelegt, als auf ein das Völlerrecht
vermittelnde Herrſcher⸗ und Diplomatenrecht. Jetzt, da wir in faſt allen Kultur⸗
ftaaten ein organifiertes Staatsvolk, einen organiſierten Vollswillen haben, den
die Vollsvertretung darſtellt, jetzt, da ſich die Vollsheere bewährt haben, wo
ſie beſtehen und herbeigeſehnt werden, wo ſie noch nicht beſtehen, jetzt, da an
der Juſtiz und in der Verwaltung das Volk in breitem Maße beteiligt iſt, da
ein Vollsrecht die feſteſte Stütze der Staaten im Innern zu werden beginnt,
jehyt ſcheint es an der Zeit zu ſein, auch der Völker des Völlerrechts zu ge⸗
denken. Denn auch die kraftvolle und ſegensreiche Fortentwicklung des Völker⸗
rechts ſeit der Wende des neunzehnten Jahrhunderts bis zum Weltkriege hatte —
zum dritten Male in der Weltgeſchichte — die Völker vergeſſen.
DOhne daß aber den Völlern der ihnen gebührende Rang beim Zuſtande⸗
kommen und bei der Handhabung der Völkerrechtsnormen zugeſprochen wird,
ehe das Staatenrecht, das Herrſcherrecht, das Diplomatenrecht zum „Völker“⸗Recht
im vollen Sinne des Begriffs geworden iſt, kann auch das Völker⸗, Recht“ der
Zukunft nicht erſtehen. Nicht als ob damit ein neuer Gegenſatz zwiſchen
Herrſcher und Volk im einzelnen Staate heraufbeſchworen würde, im Gegenteil:
die neue Entwidlung wird eine völlige Einigung der traditionell-autoritären,
der im beiten Sinne „tonjervativen”, und ber freier gerichteten, da8 Recht der
Individuen, die den Staat bilden, mehr betonenden, wahrhaft „Liberalen“
Kräfte im Stante herbeiführen. 8 wird Wirklichkeit werden, was Bismard
einmal zum Ausdrud brachte, als er im Reichstage fagte: Ich verbitte mir
diefe Monopolifierung des Wortes „Boll“; ich gehöre auch zum Boll, und
Seine Majeität der Kaifer au. — Sn biefem freieften und fchönften Sinne
fol das Vollsganze an der Entwidlung des VölferrehtS teilnehmen und fo bie
Entftehung eines „Völfer“-Nechtes erft ermögliden. Wenn nicht alles täufcht,
wird die wunderbare militärifche, politifche und wirtichaftliche Einigkeit, Die das
Deutſche Reich Ichon jebt als Außerlich aller Welt erfennbare Yrudt des Welt.
friege8 errungen bat, auch bei der Bildung des Völlerrecht8 der Zukunft aller
Melt voranleuchten. Es wird der Welt den Frieden diktieren, nicht wie ein
Gäfar, Diktator oder Imperator, der den Sieg davongetragen bat, fondern als
Friedensmacht, die den ftarfen Friedenswillen dur die Tat fund tun und der
Welt zur Verfügung ftellen will, — ein lebendiges Beifptel allen Völkern!
„Bellum est duellum pacis causa“ und „exempla docent non verba“ wird
feine Zofung fein. Wie e8 in freiwilliger Selbftbindung als „Boll“ im neuen
und erhabenen Sinne in die Erfeheinung treten wird, fo wird e8 aud durd
jein Beifpiel der Völkerrechtswelt ein Bild des fi) den anderen Völlern gegen-
12”
180 König Nifola von Montenegro und feine Politik
über freiwillig bindenden Kulturftaates der Zulunft fein. Dann wird fi) die
Freiheit des Volls- und Staatsganzen, die in fultureller Nugbarmadung aller
materiellen und geijtigen Güter der Menjchheit für das Ganze beiteht, zur
Böller-Freiheit erweitern, und ein Schritt weiter auf dem Wege der Menjähheit
gegangen fein.
„Noch blendet uns der neue Tag”. — Die Vorfehung aber, die uns im
Völlerkrieg das Schwert geführt hat, wird uns aud) Hammer und Meibel in
die Hand geben, das Völferreht der Zukunft aufe und auszubauen. Noch
ftehen die Grundmauern des Völferreht3; der Weltkrieg hat fie nicht zerftört,
im Gegenteil: er hat fie neu gefeitigt.
3b möchte das Völkerrecht einer gewaltigen Eiche vergleichen, unter deren
fhübendem Blätterdadh die Völfer des Erbball$ ruhig und fiher wohnen oder
wohnen follten. Gar arg zerzauft worden find im Völferfriege Blätter und
Alte. Wir aber denfen an das ftolze Horazwort: Exagitant frondes immoto
stipite ventus. Mag der Sturmmwind die Blätter zerzaufen, — der Stamm
bleibt unbemegt.
König Nifola von Montenegro und feine Politit
Don Spiridion Bopcevic
Montenegro, verbunden mit ber rätfelhaften Flucht des Königs
Nitola*) nach Frankreih. Nicht ald ob dies in militärifcher Be⸗
ziehung viel bedeutet hätte. Die 40 000 Montenegriner fpielten
n im Weltkrieg feine Rolle und aud) die 100 000 Öfterreicher, welche
jest für andere Zmede frei werden, kommen angeficht3 der vielen Millionen,
die unter Waffen ftehen, nicht allzu fehr in Betradht. Die Bedeutung des Er-
eigniffes liegt nur auf politifhem Gebiete Denn wenn König Nilola feine
Zuftimmung zum Niederlegen der Waffen gab, ftatt fih nad Albanien zurüd«
zuziehen und dort den nutlofen Kampf meiterzuführen — fo wie dies die ftet8
*) So heißt der König und nit, wie alle deutihen Zeitungen mit unverftändlider
Hartnädigkeit fchreiben, „Nikita — ein Wort, da8 garnicht® bedeutet und auf einem bereit®
vor einem halben Yahrhundert in ein Wiener Blatt eingefhlihenen Drudfehler berubt. AH
babe da8 fhon vor mehr ald 40 Kahren in Wiener Blättern und dann in meinem Erftlingd-
werte „Montenegro und die Montenegriner” erklärt und damals hatte e8 auch den Erfolg,
daß alle Wiener Blätter „Nikola“ oder „Rilolaus“ fchrieben. Daß jegt wieder jener läcdherlidhe
Name auftritt und nit audzurotten ift, erfcheint unverftändlid. Aber Tatjade ift, daß ich
fogar in Zeitungen, welche meine diesbezüglide durch die „DktadeKorreipondenz” an viele
Yundert Blätter übermittelte Aufklärung abdrudten, in derjelden Nummer den alten Sehler fand!
König Aifola von Montenegro und feine Politif 181
törit gemwefene ferbifhe Regierung ihrem Heere zumutet — fo zeigt dies
deutlih, daß er jede Hoffnung aufgegeben hat, der Vierverband werde fliegen.
Wenn er trogdem nadträglih die Flucht ergriff und von Frankreih aus
glauben machen will, daß Montenegro fi nicht unterworfen habe, fondern den
Kampf weiterführen werde, fo erklärt fi dies aus feinem Charalter, der e3
ftetS liebte, zwei Eifen im euer zu haben. Daß man dabei leicht zwilchen
zwei Stühlen auf dem Boden zu figen fommen lann, fcheint dem alten Machiavellt
nicht Har geworden zu fein. Seine Schlaubeit ift nämlich mehr eine Bauern-
fhlauheit. Diefe Bemerkung führt naturgemäß zur Unterfuhung der bisherigen
PVolitif des Königs.
Nitola wurde am 7. Dftober 1841 zu Niegufht geboren und folgte nad
Ermordung feines Vorgängers und Dheims Danilo als Fürft in der Regierung.
Bis dahin war er teils in Trieft bei meiner Muhme Marianna, teils in Paris
erzogen worden. ALS er am 14. Auguft 1860 zum Fürften ausgerufen wurbe,
war feine Ausbildung noch lange nicht vollendet.
Gleich im erſten Jahre feiner Regierung fah er fich in fehwierige politifche
Berhältniffe verfegt, weil 1861 in der Herzegowina ber Aufftand des Lufa
Bulalovitf) ausbrad), den die Montenegriner nach Kräften unterftübten, obgleich
der Fürft unter dem Drude Ofterreichd amtlich Neutralität angeordnet hatte.
Weil aber die Pforte filh nicht täufchen ließ, kam e8 1862 zum Irieg mit
Montenegro, wobei der Fürft dem von drei Seiten mit faft 100 000 Mann
anrüdenden DOmer Bafcha nur 17000 Mann mit zehn Gefchügen entgegenitellen
fonnte. Dur fünf Monate leifteten die Montenegriner Widerftand, wobei fie
in acht Feldſchlachten und ſechzig Gefechten fiegreich blieben, namentlich bei
Zagaratih, wo 50000 Türken von nur 12000 Montenegrinern eine ver-
nidhtende Niederlage erlitten, und bei Koloti. Endlih, nadhdem die Türken
don 40 000 Dann eingebüßt hatten, gelang es Dmer PBaflha vom Sfutarijee
ber bis Nijela zu dringen, worauf das erfchöpfte Montenegro den ungünftigen
Srieden von Cetinje abfchloß, defjen harte Beftimmungen aber nie zur Aus-
führung gelangten.
Diefer Krieg bildete Nikolas Lehrjahtre.e Er erlannte, daß Montenegro
allein und obendrein ohne genügende Vorbereitung unmöglich die türkijchen
Serben befreien könne. Denn deren Befreiung hatte fich der junge Fürft von
vornherein in den Kopf gefeht. Cr fagte mir nämlich 1875 wörtlih: „Ich
fage dir, alle Serben muß und werde ih no vom Zürkenjoch befreien und
wenn darüber mein Schädel in Trümmer gehen follte!“
Zunächſt ſah fich alfo der Fürft nach Bundesgenoffen um. Fürft Michail
von Serbien fand fich fofort bereit, aber man bedurfte au einer Groß-
madt. Die nädftliegende wäre Dfterreich gemwefen, befonders weil Nifolas Vor⸗
gänger fi mehr auf Vfterreih und Frankreid) als auf Rußland geftüst hatte.
Aber Napoleon und Alexander der Zweite verftanden filh zu jährliden Hilfs-
geldern und das gab vorläufig den Ausichlag.
182 König Nikola von Montenegro und feine Politif
So lam das Jahr 1866 heran. ALS der Krieg taliens und Preußens
gegen Dfterreich unvermeidlich erfehien, trat die ttalienifche Negierung mit Nilola
in Unterhandlungen. Ste flug ihm eine gemeinfame Eroberung der Bocche
di Battaro vor: zu Land durd) die Diontenegriner, zuc See durch die italienifche
Flotte. Zu dieſem Zwecke zog auch ſchon Stalien in Taranto die Ylotte und
in Barletta eine Heine Landungstruppe zufammen. Als man in Wien davon
Wind befam, beeilte man fi, den Kreishauptmann von Kotor („Cattaro”),
Koportiäitih, nach Getinje zu fenden, um den Yürften zur Neutralität zu be-
wegen. Die Verhandlungen wurben feitens Montenegro im Mai 1866 vom
Großherzog Mirko (Vater des Fürften Nikola) und Nilolas Gebeimfdhreiber
Jovan Sundetſchitſch geführt. Mau einigte fich fchlieklih dahin, daß Fürft
Nikola verfprady, nicht nur neutral zu bleiben, fondern fogar im Falle eines
Angriffs der Staliener auf die Bocche diefe zu verteidigen, wogegen Üfterreich
fich verpflichtete, für „ewige“ Zeiten ein Jahrgeld von 20000 Gulden zu zahlen
und alle montenegrinifhen Flüchtlinge — namentlich die Verwandten des Yürften
— aus Dalmatien, mo fie gegen Nikola Ränle fohmiedeten, zu entfernen. ALS
dies in Stalien befannt wurde, verzichtele man auf den Angriff gegen die
Boche und richtete ihn lieber gegen Lifja.
Das erfte felbitändige politiiche Auftreten des Fürften war aljo ein wirklich
Huges und ber Vorteil, den er aus dem freundfchaftlichen Verhältniffe zu Diter-
reich 309, hätte ihn darüber belehren können, daß es für Montenegro befjer war,
das nahbeliegende Gute zu erfaffen, ftatt in die Yerne (nah Moslau) zu
fhweifen. Aber leider übermog fpäter feine Habfucht und er bielt fih an dem,
der ihn befler zahlte. Und das war leider Rußland!
Im Yahre 1869 trat abermals eine kigliche Frage an Nikola heran: bie
Boccheſen hatten die Waffen ergriffen, um ihre vertraggmäßigen Vorrechte zu ver-
teibigen, die von der Wiener Regierung unter Berufung auf die verfaffungs-
mäßig gleihen Pflichten aller Untertanen aufgehoben worden waren. Nach
dem Wortlaut ded Vertrags, durch den Montenegro die von ihm eroberte
Boche 1814 freiwillig und ohne Entfhädigung an Vfterreich abgetreten hatte,
bieß e8 aber ausdrädlih, daß im Falle der Aufhebung der Vorrechte der
Bochhefen, diefe wieder an Montenegro zu fallen hätten. Nikola hätte alfo
jegt Gelegenheit gehabt, diefe Bertragsbejtinmungen geltend zu machen. Daß
er e3 nicht tat, war die Folge eines Winfes aus St. Petersburg, daß jebt nicht
bie Zeit fei, einen großen Krieg zu entfeffeln. Denn e8 war anzunehmen, daß
Dfterreih die Bocdhe nicht freiwillig herausgeben würde und an Gewalt war
nur dann zu benlen, wenn Rußland belfend zur Seite ftand. Gortſchakow
wollte aber damals feinen Krieg. So ging alfo die Gefahr vorüber, um fo
mehr, als Dfterreih ohnehin nach zweimonatlichen fruchtlofen Kämpfen mit den
Bochhefen den Frieden von Knezlac ſchloß, in welchem die Vorrechte der Boccheſen
weiter anerkannt blieben.
Das gute Verhältnis des Fürſten zu Äſterreich war aber den Ruſſen ein
König Xifola von Montenegro und feine Politik 183
Dorn im Auge und anfangs der fiebziger Yahte trat eine Spannung zwifchen
St. Petersburg und Getinje ein, die fo arg wurde, daß Nikola, als er behufs
Ausföhnung perfönlich zum Zaren fommen wollte und deshalb anfrug, ob fein
Beiuc, willlommen wäre, die fühle Antwort erhielt: „Jeder mit einen regel-
rechten Paß verfehene anftändige Menich darf nad) Rußland kommen“.
Yun jene Zeit dürfte es fallen, daß Nilola der öfterreichifcehen Regierung
den Borjhlag machte, fie möge ihm die Bocche abtreten, wogegen er filh an-
Beilhig made, in der Herzegomwina einen folden Aufftand bervorzurufen, daß
er Vfterreich Gelegenheit biete, Bosnien und die Herzegowina zu befegen. Ich
glaube nämlid, daß diefer Vorichlag es war, der die erwähnte Verftimmung
zwifchen Rußland und Montenegro bewirkt hatte, trogdem Lfterreih auf ben
Borichlag nicht eingegangen war. Aber fhon der Rorfchlag an fih wirft auf
den Fürften Rilola ein eigentümliches Lit. Yür ein Linfengericht wäre er
fofort bereit gewejen, alle von ihm fonft fo bochgepriefenen Ziele preiszugeben.
Sp benahm er fi übrigens immer!
Das fehnfüchtigfte nächfte Ziel der Montenegrineer war die Erwerbung
eines Hafens gemejen, der ihnen ungehinderte Verbindung mit der Außenwelt
ermöglicht hätte. Nikola batte deshalb fehon 1866 mit der Pforte Unter-
bandlungen angelnüpft (mahricheinlicd während des öjterreichiichen Krieges, um
einer Einiprache feitens Ofterreich3 vorzubeugen), die tatfächlich dazu führten, daß
die Pforte den Heinen an Ofterreich ftoßenden Hafen Spitfh an Montenegro
abtrat. Da legten fidh aber England und Frankreich ins Mittel, melde — in
Unfenntmis der wirklichen Beichaffenheit diejes „Hafens“, der höchftens für
Filherbarlen geeignet ift — dagegen Einipradde erhoben, weil fie fürchteten, der
Hafen könnte dann — ruffiihde Flottenftation werden! Um alfo menigjtens
auf Ummegen mit der Außenwelt in Verbindung zu treten, ließ Nikola einen
Dampfer am Scutari-See bauen und dafür einen Landeplap in Rijela an-
legen. 8 war allerdings nur eine Art Dampfbarkaffe von höchftens 20 Tonnen,
aber dafür fonnte fie durch die Bojana bis zum Meer fahren. Als fie dies
aber verfuchte und dabei natürlich durch türfifches Gebiet fahren mußte, legten
die Türken Verwahrung gegen den Gebrauch der montenegrinifchen Flagge ein,
die bisher unbelannt gemefen fei. Aber Nikola verjtand es fo gefchict zu ver-
handeln, daß er die Anerkennung feiner Slagge durchfegte. Er erreichte dies
dadurch, daß er den Türken Freundichaft heuchelte, indem er ihnen vorfpiegelte,
daß nur feine Untertanen jo unrubige Köpfe feien, er aber verjtehe es, fie im
Zaum zu halten, und wenn die Türkei ihm Kleine Gefälligfeiten erweifen wollte,
fo verpflichte er fih, die Montenegriner ftet3 zurüdzubalten. Diefes Spiel fonnte
er dank der türkifchen Leichtgläubigfeit bis zu feiner Kriegserklärung fortſetzen!
Wie wenig gewiffenhaft er fidh dabei der Türkei gegenüber benahm, zeigt
folgender Vorfall: in den fechziger Sahren hatte Nikola die auf türkifchem
Gebiet Iiegenden, aber ftrittigen Weidepläge von Velje Brdo für eine Million
Viofter an die Türkei verlauft. Weil dies in Montenegro böjes Blut machte
184 König Nikola von Montenegro und feine Politif
und die Montenegriner erflärten, daß fie ohne die MWeidepläbe ihr Vieh nicht
ernähren Tönnten, nam Nilola fie 1870 gemütlid) wieder in Beil. Das
wollten fi die Türken natürlih nicht gefallen Taffen und fie fehlugen Lärm.
Und was war das Endet... Die Türken zahlten, um den „guten Freund”
in Getinje nicht zu verfchnupfen und feine Stellung gegenüber feinen Unter-
tanen nicht zu erjchättern, abermald eine Million Piafter und — ließen die
Weideplätze in montenegriniihen Händen Diefes feltfiame Geihäft fand
natürlich den größten Beifall feitens der braven Montenegriner und feit jener
Zeit galt ihnen ihr Fürft als die Krone aller Geriebenheit!
| Ende 1874 wurden 22 waffenlos auf den Markt nad) Podgorica fommende
Montenegriner ohne Anlaß von fanatifden Türken ermordet. Dies führte faft
zum Kriegsausbruh. Aber Montenegro war damals noch nicht gerüftet. Es
befaß nur 16 gezogene Gebirgsgeihhüke, 10000 ruffiide Krnla-Hinterlader,
einige taufend öfterreichiiche Werndl- und Wänzel-Gemwehre, fonft nur Vorder-
lade. Das genügte nicht zur Bewaffnung aller Montenegriner. Deshalb
begann Nikola fid mit Rußland behufs Einfuhr von Waffen zu verftändigen,
doch war eine foldde ohne Zustimmung Dfterreich8 und der Türkei unmöglich, weil
Montenegro vom Meere'abgefchnitten war. Da dadite Nikola an eine Aufftacdhlung
der Herzegominer, die längft mit dem ZTürfenjodh unzufrieden waren und von
denen die NRechtgläubigen den Anflug an Montenogro, die Katholifen jenen
an Üfterreih wünfhten. Aus legterem Grunde machte fi Nikola die Reife
des Kaifers Yranz Yofef nad Dalmatien zunuge, um den Herzegominern weis-
zumachen, daß auch Dfterreich den Aufftand wünfde, und fo erhob fi bald
darauf die Herzegowina, indem fie — öÖfterreihifhe Fahnen aufpflanzte.. Db
der Führer Ljubibratitfch dies im Einverftändnis mit Ofterreich tat, wie Nikola
behauptete, bleibt unflar. Xatfache ift aber, daß der Fürft Sorge trug, daß
Liubibratitiö befeitigt und an feine Stelle Pelo Pavlovitih zum Yührer der
Aufftändifchen gewählt wurde, der ganz fein Gefhöpf war. Allerdings war er
wirfiih ein Außerft tüchtiger Führer, der fih an ber Spike der 7000 Herzego-
winer im Krieg von 1876/78 unfterblicden Ruhm erwarb, aber fpäter von
Nikola ebenfo undankbar behandelt wurde, wie fo viele andere, die ihm große
Dienfte geleiftet hatten, fo daß er gefräntt nad) Bosnien auswanderte und
Dfterreicher wurde, — ein Beifpiel, dem viele andere Unzufriedene in den
aßtziger Jahrer folgten, darunter der reichite Mann Montenegros, der Minifter
Maſcho Vrbica.
Als der Aufſtand im beſten Gange war, lud Nikola den Fürſten Milan
ein, mit ihm gemeinſam der Türkei den Krieg zu erklären, um Bosnien und
die Herzegowina zu befreien. Milan ging wohl darauf ein, traute aber dem
geriebenen Fuchs der Schwarzen Berge ſo wenig, daß er zur Bedingung machte,
erft müßte ſich Montenegro im Krieg befinden. Nikola wollte davon nichts
wiſſen, weil er ſeinerſeits Milan auch nicht traute. Rußland mahnte ab, weil
es mit ſeinen Rüſtungen noch lange nicht fertig ſei, aber Nikola erkannte bald,
König Nikola ven Montenegro und feine Politif 185
Daß er die Geifter, die er gerufen Hatte, nicht mehr Ioswerden Tonnte. Cr
begann alfo Unterhandlungen mit den Mirediten, deren Sendling mir fagte,
er hätte als Lohn für das Mitwirken am Aufitand vollitändige Unabhängigkeit
und Herrfhaft über die anderen Norbalbanefen, fowie eine bedeutende Summe
Geldes verlangt, welch lettere der Fürft — geizig und babfüchtig wie immer! —
nicht zugeftehen wollte. Auch 5 Häuptlinge der Hoti, die nach Cetinje ge-
fommen waren und fi) erboten hatten, mit Montenegro gemeinfame Sache zu
madıen, wenn fie Geld und Waffen erhielten, murden abgemiefen. Auf meinen
diesbezüglichen Vorhalt fagte mir der. Fürft, er traue den Albanefen nicht; fie
fönnten daS Geld nehmen und dann die erhaltenen Waffen gegen ihn Tehren.
&o fam e8,' daß dann im Krieg von 1876/78 die Maljiforen auf Seite der Türken
gegen Montenegro fämpften. Und das alles, weil Nilola nicht mit Gelb beraus-
rüden wollte; denn fein Grundfaß war immer: „Nehmen ift feliger als Geben!“
Um Milan zum Mittun zu bewegen, mwühlte Nilola in Serbien gegen ihn
und ließ ihn für fein Leben fürchten. Dennoch Eonnten fild die beiden Fürften
no) nicht einigen, als im Frühjahr 1876 im Bulgarien der Aufftand aus-
brach, der von den Türken niedergefchlagen murbe.
Fest erit am es zmwifchen den beiden Fürften zur Einigung und Nikola
verpflichtete ih, fofor nach der ferbifchen Kriegserflärung die jeinige folgen zu
ofen. Um aber die Türken einzulullen, verficherte er ihnen, er werde neutral
bleiben, jofern fie ihm einige Kleine Grenzabtretungen madten. Im Vertrauen
darauf ließen die Türken die Herzegowina unbefegt, jo daß es Nilola ein
Leichtes geweien wäre, binnen vier Tagen in Moftar zu fein. Statt dem ver-
trödelte er zwanzig Tage zur Zurücdlegung einer Strede, die er beim Rüdzug in
drei Zagen zurüdlegtel Dadurch) wurde der Angriffsfrieg zu einem Ber-
teidigungsfrieg, der zwar den Montenegrinern unfterbliden Ruhm eintrug,
aber nicht die erhoffte Eroberung der Herzegowina. Die Schuld trug Fürft
Nifola allein, denn feine ftrategifche Unfähigfeit überjtieg alle Grenzen und
die Stege famen nur auf Nedinung der monienegriniihen Zapferfeit und der
glänzenden Eigenfchaften mehrerer montenegriniiher Bojvoden.
Nach) dem Krieg brach für Montenegro eine neue Ära an. Das fon
früher mit fpärlichen Mitteln begonnene Kulturwert wurde jeht mit größeren
fortgejegt, aber das koftete Geld und der Fürft, ftatt die ihm zufließenden
Gelder zum Beten deB Landes zu verwenden, behielt fehr viel für fi. Seine
Gegner werfen ihm fogar vor, er habe 1878 die herzegomwinifchen Aufftändifchen
für etlide Millionen (man nannte mir die Summe, doc) habe ich fie vergefjen)
an Öfterreih verlauftl. Wenn etwas daran ift, dürfte es vielleicht fo zu
erflären fein, daß LOfterreih dem Fürften eine Entihädigungsjumme zahlte,
wogegen diefer fich mit der Heinen Grenzregulierung in der Herzegowina begnügte
und feinen Einfluß verwendete, daß ſich die Herzegowiner der öſterreichiſchen
Herrſchaft fügten und daß er dann dieſe Summe er ſich behielt. Ahnlich
fieht ihm derlei allerdings.
186 König Xifola von Montenegro und feine Politif u
Das nädfte Jahrzehnt nad) dem Kriege war für Montenegro ein jehr
trauriges. ine fürdterliche Willtürmwirtfhaft riß ein. Der Fürft herrjchte als
unumfchränkter Tyrann, beutete das Volt aus und ließ feine Günftlinge derart
wirtihaften, daß viele anftändige Elemente e8 vorzogen, ihrem Waterlande den
Rüden zu lehren. Einige fuchten in Bosnien Zuflucht und wurden Dfterreicher,
andere wanderten nach Amerila aus. Berfhmörungen wurden angezettelt und
entdeckt, die Kerfer füllten fih mit Schuldigen und Unfuldigen. Wie des Fürjten
Gegner mir mitteilten, verwendete er verfchiedene elende Subjelte ald „agents
provocateurs“, indem er dur fie jene Unzufriedenen, die ihm gefährlich
i&hienen, gegen die er aber nicht vorgehen Tonnte, ins Garn loden und dann der
Berihwörung anflagen und unfehäblich machen ließ. Da mir dies aud) von Leuten
unanfechtbarer Nechtlichkeit (3. B. Garafhanin und Horvatopitich) beftätigt wurde,
muß e8 wahr fein. Die Auswanderung aus Montenegro nahın [&hließlidh einen
folden Umfang an, daß eine völlige Entvölferung drohte. Bon kaum einer
Viertel Million waren über 50000 ausgewandertl Dazu verarmte das Bolt
vollftändig, während der Fürft zum mehrfahen Milltonär wurde. Das hatte
aber auf feinen Geiz feinen Einfluß. Er machte fich nichts daraus, feine
nächften Verwandten übers Dhr zu hauen. Seinem Eidam, dem König Peter
von Serbien, fehuldet er heute noch nicht nur die Mitgift, die er felbit feiner
älteiten Tochter Zorka ausgefegt hatte, fondern auch jene 100000 Rubel, die
ihm der Zar zur Erhöhung der Mitgift gefpendet Hatte! Er behielt nämlich
beide Summen für fi, mas Peter Karagjorgjeviti für immer verfchnupfte.
Sogar in Kleinigfeiten zeigte fich feine Habfudt. ALS der Bladika (Biſchof)
von Montenegro ein prächtiges Pferd zum Gefchen! erhielt, fagte ihm der Fürft:
„Was braudft du als Bilchof ein Pferd! Übendrein ein fo fhönes! Wo
bo der Heiland felbft nur auf einer Efelin geritten ift! Das Tann ich felbit
viel befjer brauchen!” Sprads, fhwang fih aufs NRoß und verfhwand damit
zum Schmerz de8 armen Dlabifa. Überhaupt Tonnte man nicht vorfictig
genug gegen ihn fein. ALS ich feine militärifche Unfähigkeit und feine fonftigen
ichledten Seiten in meinem Erftlingswerle, fowie in meinem breibändigen
„zurlo-montenegriniihen Krieg 1876/78" in der fehärfften Weife gegetßelt
hatte, fuchte er 1879 Annäherung, indem er mir durch Brbica die Stelle eines
montenegrinifhen Minifterrefidenten an den europäifchen Höfen antrug, fofern
ih die öfterreihifhe Staatsbürgerjchaft mit der montenegriniien vertaufche und
dann nad Getinje zurüdlehre, um alles zu befpreden. Weil ih nicht traute,
verlangte ich von ihm die Hinterlegung von 100000 ©ulden in Wien, bie
meiner Schweiter zuzufallen hätten, falls Nikola entweder feine Zufage nicht
balte oder mir in Montenegro ein Unglüd zuftoße. Das lehnte Nikola „als
gegen feine Monarchenwürbe verftoßend” ab und ich wußte nun, was id) Davon
zu balten hatte. Nikola war eben ftet$ bereit, alle mit denen er zu tun hatte,
übers Ohr zu bauen.
Dies zeigte fich auch in feiner zwifchen Ofterreich und Rußland fhwanfenden
König Yifola von Montenegro und feine Politif 187
—
Politik. Üfterreich gegenüber verfucdhte er diefelbe Nole zu fptelen, die er bis
1876 der Pforte gegenüber gefpielt hatte. Cr beucdhelte Freundfchaft für
Dfterreih und Verehrung für den Raifer, deffen koftbare Gefchenfe er ftetS gern
annahm. In Wirklichleit aber war er Koftgänger Ruklands. Dies nüßte er
aus, um fich zu bereichern, indem er das aus Rußland zur Verteilung an die
Dungernden Montenegriner gefandte Getreide diefen nicht fchenlte, wie bie
Spender verlangt hatten, fondern es ihnen zu hoben Breifen verfauftel Auch
fonft wanderten zahlreihe aus Rußland für das Volk gelommene Geld- und
fonftige Sendungen in feine Tafhe. Dadurch fanf fein Anfehen im Bolte
ganz bedeutend. .
Nußland hielt ih ihn feit der Zeit, da Alexander ‚der Dritte ihn als
„einzigen Freund“ bezeichnet hatte, warn. Der heutige Zar Nilolaj der Zweite
war als Kronprinz in Nilolas Tochter Selena ganz verliebt und wollte fie
durchaus heiraten. Alexander der Dritte legte fein Veto ein, weil es ihm
demätigend erjchien, daß der Gefarevitfh mit der Tochter eines Tleinen Fürften
vorlieb nehmen jollte. So gab man denn Sfelena dem Kronprinzen von Stalien
zur rau, der weniger anfpruchsvoll war. Dies bradte ein neues Leitmotiv
in das europäifche Konzert. talten hatte längft die Abficht, an feinem öfter-
reihifehen Bundesgenoffen zu gegebener Zeit Verrat zu üben und dazu bedurfte
e3 der montenegrinifchen Mithilfe, weil es fonft nicht auf die Adria-Herrichaft
rechnen Fonnte. Nilola hatte allerdings nicht die Abficht Jtallen fi) am öftlihen
Adria-Ufer feftjegen zu laffen, fondern er wollte nur nad) alter Gewohnheit
jeinen italienifhen Eidam gleichfalls übers Dhr hauen, d. h. ihn nur ausnüßen.
Da aber die Italiener geradefo berechnend find, wie Nilola, famen die beiden
bald übereinander und Rußland hatte viel zu tun, zu befehwichtigen und aus-
zugleihen, denn auch Rußland war von Jtaliens Abfiht, die Treue zu breden,
unterrichtet und batte fie in Rechnung gezogen.
m Frühjahr 1912 gelang es der ruffiihen Diplomatie zwifchen Serbien
und Bulgarien einen Geheimvertrag zuftande zu bringen. Griechenland und
Rumänien lehnten den Beitritt zu einem folden Bunde ab und Montenegro
fheint nad alter Methode eine ausmweichende Antwort gegeben zu baben.
MWahrjcheinlich wollte Nilola (der mittlerweile 1910 zum König vorgerüdt war)
fein Mittun von den erften Erfolgen im Krieg abhängig machen. Venizelos
erhielt durch die von Nukland ausgeftredten Fühler die dee zum Ballanbund.
Er ftellte den Serben, Bulgaren und Montenegrinern vor, daß es am beiten
wäre, ohne Mittun einer Großmadt die Drientfrage endgültig zu löfen, wozu
man ftarf genug fei. Das unmöglid Scheinende wurde zur Tat. Dem fchlauen
Benizelos gelang es wirklich alle vier Staaten zum Baltanbund zu einigen.
m Bundesvertrag war feitgefegt worden, daß Bulgarien einhundertund-
zwanzigtaufend Mann zur Unterftübung der Serben nad) Dtaledonien entjenden
folle. m Wirklichkeit fandte e8 aber nur zmanzigtaufend, weil es feine Hauptmadht
lieber gegen Adrianopel bzw. Konftantinopel verwendete. Im Gegenteil, als e3
188 König NXifola von Montenegro und feine Politif
außerftande war, Abrianopel zu bezwingen, erbat e8 von Serbien Hilfe und
diejes fandte den General Stefanomwitich mit achtzigtaufend Dann, die die Feftung
zum Yal braten. Diefe Umkehrung der Hilfeleiftung wurde von den Serben
zum Anlaß genommen, als Entfhädigung die größere Hälfte von Makedonien
zu fordern. Weil Bulgarien dies nicht gelten lafien wollte, brach der zweite
Balfantrieg 1913 aus, in dem die Montenegriner au) gegen die Bulgaren
Tämpften.
Rußland fuchte den neuen Ballanbund für feine Zwede auszunügen. 8 war
nämlich zwifchen Serbien und Griechenland ein Bündnis abgefchloffen worden, das
feine Spige gegen Bulgarien richtete und dem Rumänien infofern al$ ftiller Zeil.
nehmer beitrat, al3 e3 verficherte, e8 werde gleichfalls, wenn aud) ohne Vertrag, die
Waffen gegen Bulgarien Tehren, wenn dieſes Miene machen jollte, ben
Qufarefter Vertrag zu verlegen. Nubland wußte dies und bewog Montenegro
zu einem Sondervertrag mit Serbien, durch den fich jeder der beiden Staaten
verpflichtete dem anderen beizuftehen, falls er von Ofterreich angegriffen werden
follte. MS dann 1914 Dfterreih an Serbien den Krieg erflärte, faß Nikola
in der Yale; denn er war jeher gegen ben Krieg, von dem er nichtS Gutes
erwartete und er flo fih nur wegen bes beftehenden Vertrags an Serbien
an, führte aber den Srieg ziemlich läffig. Uffenbar hoffte er, auf diefe Weile
zwifdhen Scyla und Eharybdis lavieren zu Lönnen. Aber er hatte fidd getäujcht,
und nach der Niederwerfung Serbiens fam an ihn die Feihe.
Gallieni
Aus meinem Briefwechfel mit dem franzöfifchen Kriegsminiſter
Don Rudolf Wagner
Be 5 war zwar im mejentlien nur ein Tolonialpolitifcher Gedanken
| g x austaufd, der mir die Gelegenheit zu näheren freundlien Be»
0 ziehungen zu General Gallieni, dem damaligen Gouverneur von
Hd 9 A NMadagaslar und nachherigen Korpskommandeur von Lyon ver⸗
u Ihaffte.e Aber als mir jüngft feine zahlreichen Briefe, die aus
den ‘jahren 1900—1907 ftammen, wieder einmal in bie Hände fielen, babe
id doc fo mandherlei Bemerkungen darin gefunden, die uns einen Blid in die
Gedanfengänge unferes jebigen vornehmften Feindes tun laſſen. Ich Tann
Herrn Profefjor Dr. M. %. Wolff (Grenzboten, Heft 2) nur beiftimmen, wenn er
den Kriegsminifter Gallieni alS eine der wenigen felbjtändigen Berjönlichleiten des
gegenwärtigen franzöfiichen KabinettS bezeichnet. Er ift — 3. 3. im Segenfat
zu dem Nur-Militär Yoffre — entfejieden eine politiiche Berfönlichkeit, die fich
nicht |cheut, der befannten franzöfifchen Großfprecherei und dem Bureaufratismus
zu Leibe zu gehen und feine Anfichten unverblümt auszufpreden. Aus
mandherlei fritifhen Berygrlungen in feinen Briefen an mich geht dies un-
zweifelhaft hervor. Außerdem aus feiner praftifden Bolitil, die dem Vermwal«
tungSapparat auf Madagasfar im Gegenfa zu mandherlei Verordnungen vom
Grünen Tiſch, über die er gelegentlich Hagte, etwas wirtichaftliches Denken ein-
zuhaudden verjudhte.
3 möchte gleich vorausfchiden — weil mir dies viele Worte erfpart —
daß Gallieni an mich deutfch fehrieb, und zwar ein recht anftändiges Deutich.
Und das Bemerfenswertefte tft, daß er diefes Deutfch nicht in der lateinifchen
Schrift des Franzojen, fondern in beutfchen Buchftaben fchrieb. Das ift für
einen tomanijhen Ausländer feine Kleinigkeit. Man merkt feinen Briefen an,
daß es ihm entfchieden Freude machte, mit einem beutfchen Publiziften feine
Gedanlen über die und jene Folonialpolitifchen Fragen auszutaufhen. Er las
offenbar eine Reihe beuticher Zeitungen und Zeitfhriften, 3. 3. finde ich bie
„Kölnifche Zeitung”, das „Militär-Wochenblatt“, die „Deutfche Kolonialzeitung“
und aridere wiederholt zitiert. Seine folonialpolitif hen, manchmal febr treffenden,
mandmal auch einfeitig franzöfifchen Urteile intereffieren hier weniger. Dagegen
fiel mir auf, daß feine Abneigung und fein Mibtrauen gegen die Engländer,
190 Gallieni
die jüngft befanntlich in feinem Sriegsrat in Paris zutage traten, au) aus
feinen Briefen an mich deutlich herauszulefen find. Er ftand ber englijchen
Kolonialpolitit entfehteden weniger jyınpatbifch gegenüber wie der beutfchen, die
er mit freundlichem Snterefje verfolgte.
Eine Äußerung Gallienis nur möchte ich wörtlich anführen, weil fie aufs
militärifch-politifehe Gebiet herüberfpielt und nach verfchiedenen Seiten Schlüfie
auf die politifhen Anfchauungen des gegenwärtigen franzöfifden Kriegsminifters
zuläßt. Der betreffende Brief ftammt vom März 1904, aus der Zeit des
großen Aufftandes in Südmeft. Er fchreibt darin: „ch verfolge meinerfeits
mit Aufmerlfamleit die Fortfchritte der deutihen Kolontalentwidlung. Die fehr
eingehenden Artilel des ‚Milttär-MWochenblatts’ Halten mich auf dem Laufenden,
was die Ereigniffe im Damaralande und die verfchiedenen Zufälle des Herero-
aufftandes betrifft. Ich fehe mit Vergnügen, daß biefer Aufftand zu Ende zu
fein fcheint und die$ wegen der Gejchiclichleit und der Entieidungskraft, mit
welcher die militärifhen und politifchen Maßregeln getroffen worden find, und
aud dan? der fchönen Eigenfchaften des deutfchen Soldaten, der von Anfang
der Operationen an foviel Diut und Ausdauer gezeigt hat.
Erlauben Sie mir hinzuzufügen, daß meiner Anfiht nach Ihre Regierung
gut täte, fobald als möglich eine Kolonialarmee zu fchaffen. Diefe, durch forg-
fältig refrutierte europätfhe Formationen eingefaßt, müßte aus zahlreichen
Eingeborenentruppen bejtehen, welche allein fähig find, lange einem tropifchen
Klima zu widerftehen und ihre Rafjegenoffen mit Erfolg zu befämpfen.“ &s
folgen dann Einzelheiten, die bier außer Betracht bleiben Lönnen.
| Aus diefen Äußerungen Galienis geht m. €. zweierlei hervor. Zunädjit
fann man aus ihnen unzweifelhaft freundliche Gefinnungen gegenüber Deutich-
Iand herauslefen. Dies beftätigen mir gelegentliche Außerungen in anderen
Briefen, die die Vorteile eines Tolontalen Zufammengehens mit uns andenten.
- Aber au), wenn man die beifälligen Äußerungen über die Beendigung des
Hereroaufftandes, über unfere militärijch-politifhde Energie und die Tüchtigkeit
des deutichen Soldaten als franzöfifche Höflichkeiten einjchäht, jo bleibt Doch bie
ZTatfadhe beftehen, daß Gallient (was er fpäter aud) direft äußerte), Teinen Sinn
für die englifche Politif hatte, die die Aufftändifchen in Süomelt als kriegsführende
Macht anerlannte und auf Ummwegen begünftigte, ftatt im SInterefie einer
tolontalpolitiiden Gemeinbürgfhaft der Europäer und im nadhbarlichen Snterefie
eine rajhe Niederwerfung des Aufftands zu wünfdhen. Für Gallient als
ebrlihen Kolonialmann war der Krieg in Südweft eben felbftverftändlich ein
Eingeborenenaufftand und nichts anderes.
Aus dem zweiten Teil feiner Äußerungen geht ferner deutlich hervor, daß
ein Kampf zwilchen Franzofen und Deutfhen in Afrifa außerhalb feiner
Gedanken lag, denn fonft würbe er uns nicht die Schaffung einer Kolonialarmee
empfohlen haben. Hätten wir bdiefe Kolonialarınee gehabt, fo wäre mohl
mandes anders gelommen.
—
⸗
Gallieni 191
Es iſt doch Mar, daß Gallieni als franzöftfcher Dffizier zweifellos im
Gedanken an die Möglichkeit eines fpäteren Krieges mit Deutichland groß ge-
worden if. Er nahm aber offenbar als felbftverftändlih an, dab in einem
folden Krieg die Kolonien im Hinblid auf die gemeinfamen SYntereffen der
weißen Raffe gegenüber den Eingeborenen aus dem Spiel bleiben müßten. Ein
im Kolonialdienft grau gemordener Offizier wie Gallieni Tennt zu gut bie
Schädlichleit folder Kämpfe: er weiß, daß das Schidfal der Kolonien auf den
beimifhen Schlachtfeldern entjchteden wird und daß es daher finnlos tif, Die
fower erlauften Kulturerrungenihaften draußen und das Anfehen der weißen
Raſſe bei den Eingeborenen aufs Spiel zu fehen.
Bei aller Herzlichkeit felbft eines langjährigen Gedanfenaustaufcdhes mit
Deutihen brauchen wir uns aber feineswegs einzubilben, daß Gallieni etwa
deutichfreundlich im politifchen Sinne genannt werden Tann. Er denit in feiner
jegigen Stellung jchwerlid daran, ung irgend etwas zu erfparen, und wird im
Gegenteil alles daran fehen, uns zu fhaden und uns niederzuzmingen. Er ift
unfer Feind, ‚und ein energifcher und geiftig hochitehender dazu, und wenn wir,
wie wir zuverfichtlich hoffen, der Franzofen endgültig Herr werden, jo hat dies
fiherlih nit an Gallieni gelegen. Aber darüber hinaus wird auch eines
Tages die Zeit fommen, dba man über den Frieden reden wird, da auf beiden
Seiten Männer gefucht fein werden, die nicht finnlofe Hafler find, fondern in
verftändnisvoller Würdigung des Gegners die Dinge zu mwägen verftehen. Da
Iönnen wir wohl annehmen, foweit dabei der gegenwärtige franzöfiiche Kriegs-
minifter in Betracht fommt, daß fi) mit einem Manne, der fidh fo fehr bemüht
bat, in deutfches Wefen einzubringen, daß er Deutfch fogar mit deutichen Buch-
ftaben fchreibt, eine8 Tages auch deutih reden läßt.
Dioniere
Wir Eopfen und hbämmern in Gruben und Gräben
Und fohlagen die Bogen der Brüden fo ftolz
In Stein und in Holz
Uber Schludhten und Grfinde
Trogß brüllender Schlünde.
Wir ebnen den Weg für Menfhen und Ziere,
Für den Mari der Kanonen,
Und will man uns ehren, und will man uns lohnen,
Gereiht ung das Wort zur berrlichiten Ziere:
„But gemadt, Pioniere!’
Wir Ichaffen in unterirdiihen Tiefen
Und fchaufeln, in Not und Gefahren vereint,
Das Grab für den Feind.
Seht, wir fitten die Stollen,
Meil wir vorwärts wollen,
Nicht mit Kall oder Lehm — nein, getreu dem Paniere,
Unter Schmerzen
Mit dem dampfenden Blut unfrer jungen Herzen,
Und fragte uns jemand, was uns dazu führe,
60 fagen wir nur:
„Wir find Pioniere!‘
Wir bahnen den Weg für die, die uns folgen.
Aus Wirfal und Naht und Sturmesgebraus
Führt ein Weg hinaus,
Der muß unfer werden:
Zum Frieden auf Erden.
Und hoffen wir, daß alle Not fi} verliere,
Alles Leid und Haffen,
So wollen wir do den Glauben nicht Iafien, 2
Daß die Wahrheit dereint in der Welt triumpbiere:
„Sie find do Pioniere!‘
Don Werner Peter Larfen
Allen Manuftripten ift Borto hinzuzufügen, ba andernfalls bei Ablehnung eine Rädienbung
nicht verbürgt werden Tann.
Nachdruck ſamtlicher Aufſaͤze nur mit anusprädiicher Erlaubnis bed Berlags geftattet.
Berantweortli: der Herausgeber Georg Eleinomw tn Berlin- Lichterfelde Weit. — Wanuftriptiendungen und
Briete werben erbeten unter der Adreſſe:
Un den Herausgeber ber Srenaboten in Berlin - Kichterfelde We, Eternftrate 56.
Berufpuodher des Heranscebers: Amt Bichterfeide 498, bes Berlags und der Schriftleitung: Amt Kkyemw E50.
Berlag: Berlag der Grenzboten &. m. B. 9. in Berlin SW 11, Zempelbojer Ufer 85a
Drul: „Der NReidyöbote" ©. u. 5. 9. in Berlin SW 11, Defianer Straße 38,37.
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Die amerikaniſche Organiſation in China
EFeitdem ſich in den Vereinigten Staaten der Entſchluß, die Be—
TR hinderung der weltwirtichaftlichen Betätigung Deutfchlands für die
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REN 1 Eroberung der deutfehen Gejchäftsbeziehungen zu den aufnahnıe-
ER fähigiten Märkten der Erde auszunugen, zu einem forgfältig durch.
= gearbeiteten Feldzugsplane verdichtet hat, Fönnen wir beobachten,
daß fih außer Lateinamerifa und Rupland vor allem China der Yebhafteiten
Liebeswerbungen de3 rührigen Nanteegeiftes erfreut. Bon einer Welle freund-
Ihaftliher Gefühle der über Japans gemalttätigen Egoismus tief empörten
Chinejen für die Vereinigten Staaten getragen, bemühen fi) amerifanifhe Ka-
pitalien und Unternehmungen angelegentlichjt um die Förderung der wirtfchaft-
Iihen Wiedergeburt der ältejten und volfreichiten aller Iebenden Nationen, welche
jegt al3 eine der legten endlich darangeht, ihre gewaltigen natürlichen Hilfs-
quellen zu entwideln. BiS zum Beginn des großen europäifchen Krieges waren
die Vereinigten Staaten nur mit act Prozent an Chinas Einfuhr beteiligt.
Ein genial organifierter Angriff der dur) daS „Bureau of Foreign and
Domestic Commerce“ gejhidt und nahprüdlich unterftügten und vor allem
zuverläffig unterrichteten, durch die außerordentliche Gelegenheit mächtig auf-
gejtahelten Unternehmungsluft der amerifanifhen Großfinanz, der amerifanifchen
Gropßinduftrie, des Großhandel und der Technik fol nun durch ein Vorzugs-
tet der Bereinigten Staaten auf die Verforgung des größten gefchlofjenen
Kundenkreifes der Erde gekrönt werben.
Eine glänzend angelegte, höcdjt wirkungsvolle Propaganda Härte die
amerifanijhe Gejchäftswelt zunädhjt über die allgemeinen Ausfichten und Voraus:
jegungen für eine Förderung des Handels zwilden Amerifa und Ehina auf.
Sn den erften Jahren des neuen Jahrhunderts waren die amerilanifchen Handels-
interefjen in China noch jehr gering. Seitdem wirkten mehrere bedeutungsvolle
Umftände zufammen, um Amerifas Einfluß im Rei der Mitte zu fteigern.
Die Erwerbung der Philippinen Ientte die Aufmerkfamkeit der Vereinigten
Örenzboten I 1916 13
Er N
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194 Die amerifanifche Organifation in China
Staaten auf den pazififchen Dften und diejenige Chinas auf den amerilanifchen
Weiten. Der Bau des Panamalanals regte mächtig zur Beichäftigung mit ben
Möglichkeiten an, die fi dem Ausbreitungsprange des amerikanischen Handels
ienfeitS des Stillen Ozeans boten. Die erfte Aborbnung von Geichäftsleuten,
welche im Auftrag der Vereinigten Handelstammern der amerikanischen Pacific-
tüfte vor ein paar Jahren nah China fuhr, hatte, obwohl fie freundliche Auf-
nahme fand, nicht viel Bofitives mit nach Haufe bringen Tönnen. Die Weftküfte
der Vereinigten Staaten tft felbft noch fehr wenig induftrialifiert. Außer Bau-
holz, Mehl, eingemacdten Früchten und Heineren Artileln vermochte fie dem
chineſiſchen Marlte zunächft noch nicht viel zu bieten. Der fam als Abfahgebiet
in erfter Reihe für die Induftrieerzeugniffe in Betracht, die vorwiegend der
Diten der Staaten bervorbradte. Befaken aber New York und Pittsburg erft
einmal im Kanal eine direfte Verbindung mit dem Bacific, dann bot fich nicht
nur dem Verlangen der amerilanifchen Fabrifanten nad) ausländifhen Märkten
das Neid der Mitte als ein fait unbegrenzt aufnahmefähiger Abnehmer dar,
die billige Arbeit aus Europa Tonnte auch leicht und ohne nennenswerte Koften
nach der Weftlüfte Amerila® weitergeleitet werden ‚und dort neue SYnduftrie-
zentren begründen helfen, denen dann China fozufagen vor der Türe lag.
Mit diefer billigen Arbeit aus Europa, das heißt aus Deutfhland, wird
im Zufammenbang mit den Plänen für die Gewinnung des Hineftichen Marktes
von den Strategen des amerilanifgen Erpanfionsfeldzuges neuerdings geradezu
gerechnet. Auf einer Konferenz, die im vorigen November in Pittsburg ftatt-
fand, meinte ein Regierungsvertreter ganz felbitverftändlich: „Nach dem Striege
findet die deutfehe Erportinduftrie alle Türen zugefchlagen. Ihre tüchtigften
Arbeiter werden in Maffen zu uns berüberflommen. Wir werden fie nad) dem
Weiten jchaffen, und fie werden uns dort in neuen amerilaniſchen Induſtrie⸗
zentren jene Artikel herftellen helfen, mit denen ihr Vaterland einft fo erfolg.
rei den Wettbewerb auf dem Chinamarkt aufgenommen hat”.
Die „Chamber of Commerce of the United States of Amerika‘, der
„National Foreign Trade Council“, die „American Asiatic Association“,
die neuerdings gegründeten Außenhandellomitees zahlreicher amerilanifcher Han-
belsfammern, gewaltige großfapitaliftifche Unternehmungen wie die American
International Corporation und die American Industrial Corporation, bie
Regierungsagenturen zur Förderung des Handels, die ihr Betätigungsfelb be-
ftändig erweitern und ausbauen, die Konfular- und Handelsattadhes, die um-
ermädliid und wahrhaft erfinderifh neue Mittel und MWege entdeden, das
Bureau of Foreign and Domestic Commerce, die Austunftsbureaus Der
größten Banfen — alles arbeitet, wie eleftrifiert von dem nenen Antrieb zur
Gewinnung auswärtiger Märkte, nad einem großen einheitlichen Plane zu-
fammen, um das ausgedehntejte Ahfaßgebiet mit den forgfamft erwogenen
Methoden für die Aufnahme amerifanifher Fabrifate zu organifieren. Und
nicht nur bie Leiltungsfähigkeit des heutigen, die Leiftungsfähigfeit bes Fünftigen
Die amerilanifhe Organifation in China 195
Amerila faßt diefer Plan Fühn ins Auge. Die Leiftungsfähigleit jener Ver-
einigten Staaten, denen, wie Robert S. LZovett jüngft verficherte, aus dent
verarmten, unter [hwerjtem Steuerdrud fast zufammenbrecdhenden, „zerjchundenen,
gemarterten, gequälten Europa”, insbefondere aber aus dem „von ben über-
feeifchen Märkten durch unerbittlihe, auf dem Meere übermädtige Feinde aus-
geichloffenen Deutihland” nicht mehr wie einjt der Abhub, fondern die Tüd-
tigften, die Kapitalkräftigften, die Zähejten, die Klügften und die Gefchickteften
zuftrömen werden. Sie werden, jo rechnet man, froh fein, im freien, reichen,
mächtig aufftrebenden Amerika die vorteilhafteften Anlagegelegenheiten für ihre
vor dem Steuerhunger der alten Welt in Sicherheit gebrachten Vermögen, ein
weites Betätigungsgebiet für ihre Arbeitskraft, ihre Gefchiclichkeit, ihren Er-
werböfinn zu finden. Und fie werden daburdh zu Streitern für die große
Triedensarmee der Arbeit werden, melde den Vereinigten Staaten von Amerila
den Weltmarkt erobern fol.
„Während“, fo führte Ende vergangenen ahres bei einem Klubfrühftüc
eriter New Norler Gefchäftsleute ein großer Bankherr aus, „man uns in Enropa
mit der Vorbereitung Tleinlicder Gejegesmaßnahmen für die Abwehr der nad
dem Sriege zu erwartenden Einwanderung befehäftigt glaubt, müflen wir uns
für den providentiellen Augenblid des riedensfchluffes in aller Stile durd
organifatoriihde Maknahmen rüjten, welche e8 uns ermöglichen, ohne jedwede
Schädigung der nationalen Arbeit auch die ftärkfte Hochflut potenter und tüd)-
tigfter Sinwanderung in unfer Wirtfchaftsieben einftrömen zu lafien. Wir
mäflen in der Lage fein, jedem, der zu uns fommt, alsbald einen ihm zu-
fagenden Plab anzuweilen, auf dem er unjeren ntereffen dient, indem er für
feine eigenen wirt. Dann wird e3 zu einer ftarlen neuen Quelle unferer wirt-
Thaftliden, kommerziellen, induftriellen und technifchen Kraft werden, wenn
Europa im Vertrauen auf unfere engberzige Ängftlichkeit von einer energifchen
Abbindung der aufgeflagenen Adern abfieht, au8 denen das beite Blut, das
ihm geblieben, in unjeren Wirtſchaftsorganismus !hineinfließen wird. Wir ver-
mögen die europätjche Einwanderung aber nur zu verdauen, wenn wir ben
Augenblid nugen, um jene großen Unternehmungen anzupaden, durd) weldje
ein wabhrbafter Weltmarkt für amerifanifhe Produkte gejchaffen werden Tann.
Zu dieſen Unternehmungen rechne ich in erfter Reihe die Erichliekung des
hinefifden Abfahgebietes, wo eine friedliebende, fleiige und zäbe Bevölkerung,
die adht- oder neunmal fo groß alS die von ganz Südamerila ift, amerifanifches
Kapital und amerifaniihe Zatkraft freundlich einläd zur Zeilnahme an einem
Werle, das unferer ftolzgen Nation würdig ift“.
Lieft man Blätter wie „The Nations Business“ und andere Publikationen,
fo erfennt man, wieviel Überlegung die verfhiedenen Handelsvereinigungen einer
den Außenhandel ftübenden großzügigen Gefebgebung mwinmen. Die neuen
Bankgefege enthalten Beitimmungen zur Förderung des Außenhandeld. Das
neue Schiffslaufgefeh der Regierung hatte diefes Ziel birelt im Auge Die
18*
196 Die amertfanifhe Organifation in China
—
an
Agitation zur Abänderung der Antitruftgefege, welche für die Zuläffigfeit eines
Zufammenfchluffes nur für Außenhandelszwede warb, erwies Iar, wie weite
Kreife hon an der Ausdehnung des Erportes Anteil nehmen. Die Verbeflerung
des Sonfularbienftes und die Beftelung von Handelsattadhes veranlakte ber
Kongreß auf Grund von Borfehlägen, die ihm die Handelsorganifationen ge»
madt hatten.
Bei den Anleitungen für das Studium bes dinefifhen Marktes tritt am
deutlichiten die Anlehnung an die fo erfolgreihen deutfhen Methoden hervor,
bie natürlich höchftens ganz obenhin erwähnt werden. Man ift peinlich beitrebt,
alles zu vermeiden, wa8 darauf bindeuten Tönnte, daß man einen einft be-
neideten Konkurrenten aus dem Sattel heben will. Dem amerilanifhen Kauf-
mann wird eingefchärft, daß er dem Khinefiiden Produzenten und Konjumenten
näher treten muß: „Er muß Männer in den Spraden und Gewohnheiten des
hinefiihen Volles heranbilden. Er muß gemwillt fein, wejentlicde Ausgaben für
Gefhäftsreflame zu machen. Er muß lernen Preife cif Shanghai zu berechnen.
Der hinefifhe Käufer will wiflen, was die in feinem Laden und nicht die in New
Dort oder Podont ausgelegten Waren koſten. Der amerilanifhe Kaufmann
muß feine Waren, wo e8 möglich tft, dem befonderen Bedarf des dhineflihen
Marktes anpaffen, wie es die Deutichen und die Japaner tun. Zum Beifpiel
verlangen chinefifde Drogiften oft Drogen in Unzenflafhen, während ameri-
lanifhe Erporteure unentwegt in PBintflafchen liefern. Einige dhineflide Schrift-
zeichen auf der Etilette helfen oft, einen Abfamarkt für Artikel zu fchaffen, die
fonft nur in fehr befhhränktem Umfange verfauft werden Tönnten. Der hinefifche
Händler legt dem „chop" oder der Yabrilmärle große Bedeutung bei, bie,
wenn einmal eingeführt, in fich felbjt einen befonderen Wert hat und bie, um
Nahahmungen zu verhindern, durch das Generallonfulat in Shanghai und Die
Gefandtihaft in Zolio eingetragen werden follte.”
Beionder8 wird den amerilaniihen Fabrilanten and Herz gelegt, ihre
Vertretung in China amerikanischen Firmen zu übertragen. Ungefähr 80 Prozent
des amerikaniſchen Handels wurden bisher durch nicht amerilanifhe Firmen
betrieben. Chinefifhe Kaufleute geben ald Grund dafür, daß fie nicht mit den
Vereinigten Staaten Handel treiben, an, daß Amerila feine Ein- und Ausfuhr-
bäufer in Ghina habe. Die Deutihen und Japaner, fo wird dem ameri-
Tanifhen Handel immer mwicder eingebläut, haben foldhe. Sie fiten nit in
thren Kontoren in Shanghai und warten, biS der Handel ihnen dur ihre
„compradores“ (dinefiide Zwijhenhändler) allmählich zufließt. Einige amert-
tunifche Artikel find wohl mit Erfolg von europäifhen Firmen in China auf
den Markt gebracht worden, aber größtenteils waren diefe Waren Tleine
Konkurrenzfabrifate des Landes, welches die Agenturen unterhält. „ES ift außer-
den“, jo beißt e8 in einem geheimen Dierfblatt einer oftamerilanifchen Handels-
fammer, „beluunt, daß europäifhe Firmen in China amerilanifhe Agenturen
Abernommen haben, um die Waren bdiefer Firmen vom Marlte fernzuhalten.“
Die amerifanifhe Organifation in China 197
Man kann, zumal unter den heutigen VBerhältniffen, an bie Drganifterung
des Chinamarktes für amerilanifhe Erzeugniffe nicht wohl denten, ohne fich
mit der Frage der Berihiffungsmöglichfeiten zu befaffen. Hier beitehen aber
beträtlide Schwierigkeiten. Die jopanijhen Schiffe, die einen wichtigen Plah
im Fradtentransport über den Stillen Dzean einnehmen, behalten grundjäglid)
adtzig Prozent ihres ZTeeichiffraumes ihrem japanifhen Tee vor, wodurd) die
rafhe Hebung des hinefiihen Teeerportes nad) den Vereinigten Staaten,
die eine wichtige Borbedingung für die Ausgeftaltung der Hineftfch-amerifanifchen
Handelsbeziehungen ift, faft unmöglich wird. Anbderfeit verlangen britifche Schiffe
von den Berladern aller Nationen eine dolumentierte Erflärung, daß ihre
Ladung in feinerlei Verbindung mit deutichen Firmen jteht. Um den Kampf
gegen die Deutfchen geht es dabei aber nicht allein, wie die ſehr bemerkens—
werten Ausführungen der „New York World‘ vom 16. November 1815 äußerft
Mar dartın. Das Blatt fchreibt:
„Sroßbritannien bat feine Beftrebungen, den amerifantfhen Handel zu
vernichten, iS auf den fernen Dften ausgedehnt. E38 ftrengt fih aufs Außerfte
an, ihn britifhen Firmen zuzumenden. Unter dem Kampf ber britifchen
Regierung um die Oberherrfhaft im Handel hatte lebthin bie American Spice
Trade Association zu leiden.
Amerilanifhe Firmen, die in China, Stam und anderen Teilen bes
DrientS gefehäftlich tätig find und die in Verdacht ftehen, deutfehe Sympathien
zu begen, werden auf der ‚hwarzen LKifte‘ vermerkt und ihre für die DVer«
einigten Staaten bejtimmten Ladungen werden auf unbeftimmte Zeit zurüd-
gehalten. Bon dem ‚State Department‘ eingereichte Protefte haben Teine
Beflerung der Lage herbeigeführt. Die Konfulate in Auslande fchreiben fogar
offen, daß zwar ‚promptes Handeln verfprocden ift’, aber ‚wahricheinlich nicht
erfolgen wird.‘
Die Unterdrüdung der für Amerifa bejtimmten Warenfendungen wird
dadurh no) vollftändiger, daß die transpazififhen Schiffahrtslinten ausfchließ-
Lich in englifhen und japanifdhen Händen find.
Sendungen hinefiiher Gewürze und Matten von fünf großen Nem Norker
Smporteuren wurden von ber brittichen Regierung nur deshalb zurüdgebalten,
weil man fie verbächtigte, deutfche Zmweigniederlafjungen oder deutihe Namen
zu haben. Auch bier blieben die vom State Department eingereichten Proteite
und Bürgfhhaften ohne Erfolg.
Dadurch, daß die Engländer den Hafen von Hongkong beauffichtigen, ift
e3 ihnen möglid, die Berfehiffungen nad den Vereinigten Staaten vollftändig
zu überwaden. Das neutrale China darf feine Waren nah dem neutralen
Amerila jenden. Ladungen im Werte von Hundertaufenden von Dollars werden
willtürlih aufgehalten.
Faft alle Kaufleute, deren Waren zurückgehalten wurben, erhielten von britifchen
Firmen Angebote auf entfprechende Mengen Waren zu erhöhten Preifen gefabelt.
198 Die amerifanifhe Organifation in China
Schiffsladungen, die nur die fühnfte Phantafie als „deutſch' verdächtigen
fann, werden angehalten, und dann folgen die endlofen Verhandlungen zwiſchen
den britiſchen Konſulatsbeamten und London.“
Nach all den Liebesdienſten, die ſie den Briten geleiſtet, iſt es für bie
Landsleute des Präſidenten Wilſon natürlich bitter, derartige Feſtſtellungen vor⸗
nehmen zu müſſen, aber Schwierigkeiten ſind für die amerikaniſchen Geſchäfts⸗
leute da, um überwunden zu werden. Man iſt denn auch ſchon dabei, eine
beträchtliche Anzahl Schiffe unter amerikaniſcher Flagge in Dienſt zu ſtellen,
und die weitgehenden Pläne eines von den größten Handelskammern für das
Studium der Verſchiffungsfrage zwiſchen amerikaniſchen und chineſiſchen Häfen
gebildeten Sonderausſchuſſes dürfte nach dieſer Richtung hin noch bemerfens-
werte Überraſchungen bringen.
Im September vergangenen Jahres meldete der amerikaniſche Handels⸗
attaché in Peking, Herr Arnold, dem Handelsdepartement, daß die Mitglieder
der chineſiſchen Kommiſſion, welche die Vereinigten Staaten bereiſt hatte, um
den Handel zwiſchen Amerika und China zu fördern, in ſeiner Audienz bei
Yanſchikai nicht nur die Errichtung einer transpazifiſchen Schiffahrtsgeſellſchaft,
ſondern auch die ſofortige Begründung einer chineſiſch-amerikaniſchen Bank,
empfohlen hätten. Sofort ging man daran, das Hemmnis zu beſeitigen, das
die Bankverhältniſſe in China für die raſche Ausbreitung des amerikaniſchen
Handels bedeuteten. Die amerikaniſchen Intereſſen ſollten fürderhin wie die
britiſchen, deutſchen, japaniſchen, ruſſiſchen, franzöſiſchen und belgiſchen durch
Bankinſtitute ihrer eigenen Nationalität bedient werden. Allerdings beſtand ja
auch eine amerikaniſche Bank in China, die aber wegen ihres beſchränkten
Kapitals eine ſehr konſervative Politik verfolgte und für den neuen Organiſations-
plan auch deshalb nicht in Betracht kam, weil ſie kein gut ausgebildetes
amerikaniſches Perſonal beſaß. Der Konzern der National City Bank von
New York hat die Vorbereitungen für die Einrichtung einer chineſiſch-ameri⸗
kaniſchen Bank großen Stils inzwiſchen ſoweit gefördert, daß die Eröffnung des
neuen Inſtituts bereits in der erſten Hälfte dieſes Jahres zu erwarten ſteht.
Der chinefiſche Markt ſoll von amerkaniſchen Gewerbetreibenden zunächſft
gewonnen werden für Bergwerk⸗ und Eiſenbahnunternehmungen, induſtrielle
Anlagen und Maſchinen, Stahl- und Metallwaren, Baumwollſtückgüter, Bau⸗
holz, Drogen, Chemikalien und Konſerven. Beſondere Ausſichten bietet, wie
man verſichert, den amerikaniſchen Beſtrebungen u. a. der Umſtand, daß eng⸗
liſche elektriſche Maſchinen ſeit Kriegsbeginn eine Preisſteigerung von über
20 Prozent erfahren haben, während deutſche Maſchinen augenblicklich über⸗
haupt ganz vom Markte verſchwunden find. China braucht Baumwollſpinnereien,
Glasfabriken, Gerbereien uſw. Es führt jetzt jährlich Baumwollwaren im Werte
von über 125 Millionen Dollar netto ein. Mr. Ralph M. Odell, Handels⸗
agent des „Department of Commerce“, der fich das ganze letzte Jahr über
in China aufhielt, legt dar, daß amerikaniſche Fabrikanten in einer Anzahl
ne ne
Die amerifanifhe Organifation in Ehina 199
Baummwollfabrilaten, die bis jet von anderen Ländern eingeführt wurden,
fonkurrieren Tönnen, befonder3 in grauen und meiken Shirtings, Popelins,
gelöperten Halbleinen und Kattunen. |
Mit den Deutfchen rechnen die Amerilaner auch für ihre MWünfche nad
der Begründung einer nationalen Farbftoff-nduftrie. Wenn deutfche Fachleute
nad dem Sriege nad) Amerila fommen und dort eine nationale Farbitoff-
induftrie fhaffen würden, dann könnte China in Zulunft aud ein Abfahgebiet
für einen etwaigen Überf—huß werden. Eine etwas fanguinifhe Rehnung!
Aber gleihviel: man fieht, planlos zum mindeften ift die Unverfrorenheit der
Amerilaner nit. Sie gehen auf8 Ganze und ihre Abfihten und Bemühungen
verdienen jedenfalls unfere Iebhafte Aufmerlfamfeit. Db ihre chinefiichen Blüten»
träume fo raid Früchte anjegen werden, fann allerdings dabingeftellt bleiben.
Solange der Krieg dauert, werden fie zunädit das Hindernis, daß der Mangel
on Scıhiffsraum und die unmäßtg hohen Fradtlähe dem Einfuhr- wie dem
Ausfuhrhandel in den Weg legen, nicht überwinden Tönnen. Dann aber Tann
ihnen das Verhalten der Engländer wie das der Japaner heute fchon zeigen,
daß man die deutfche Konkurrenz auf dem Chinamarkte nicht totichlagen will,
damit fih die amerilanifchen Fabrilanten an der Beute mäften. Erft vor furzem
bat die japanifhe Regierung dem Parlament einen Antrag zweds Crridtung
einer Bank vorgelegt, die in Shanghai ihren Hauptfig und in allen größeren
Städten Chinas Zmweigniederlaffungen haben fol. Das Betriebsfapital biefer
Bank ift mit 20 Millionen Den feftgeftellt. Die Bank foll das Net der
Notenausgabe haben. Japan verbürgt eine Mindeftverzinfung von 7 Prozent,
aber nur Japaner und Ehinefen fönnen Altionäre werden.
Mit welden Augen die Sjapaner die „amerifanifhe Gefahr” betraditen,
zeigt ein Artifel der „Osaka Mainichi Shimbun“. Warnend weilt das Blatt
auf die freundichaftlihen Beziehungen zwifchen Amerila und China hin. Nah
dem Kriege, fchreibt e8, wird e8 zu einem Bündnis zwifchen den beiden Staaten
fommen und verbündet werden fie alles tun, um den in ftarfem Fortfchreiten
begriffenen politifchen und wirtfhaftlichen Einfluß Japans in den Gebieten des
Stillen Dieans und insbefondere in China zu lähmen. Auch fhon, daß man
von folden Unternehmungen wie einer chinefifch-amerifanifchen Bant oder einer
Sinefifch-amerifanifhen Schiffahrtägefellfchaft fpricht, zeigt, wie nahe die „amert-
Taniiche Gefahr” gelommen ift. Unter Berüdfihtigung deijen, daß die Stimmung
in Amerila wie in China ausgefprodhen japanfeindlich fei und immer ungünftiger
werde, daß ferner die Vereinigten Staaten ihre Seemadt übermäßig vergrößerten,
und daß endlich Deutichland auf irgend eine Weife einen Drud auf Japan
ausüben werde, müffe man zu dem Schluß lommen, daß nach Beendigung des
europäifchen Krieges die Lage für Japan recht gefährlich werden Tönne.
Wie man fi) mit diefer Gefahr abzufinden gedenkt, dafür enthält eine
fehr merkwürdige und beadtensmwerte Schrift Anhaltspunkte, die in Japan unter
dem Titel „Krieg zwifchen Japan und China“ erjchienen und von Mr. 2. Mott
200 Die amerifanifhe Organifation in China
und dem Ehinefen Haui Yu Kia ins Englifhe überfegt worden ijt. Bezeichnend
tit, daß diefe Schrift von dem nationalen DVerteidigungsverein in Japan aus⸗
geht. Dies ift eine fehr bedeutende Bereinigung, der zahlreiche Dfftziere und
bobe Beamte angehören. hr gegenmwärtiger Vorfigender ift der Mintfterpräfident
Graf Dfuma. Der Inhalt der Schrift läßt fih allgemein dahin Tennzeichnen,
daß fie den Angriffstrieg gegen die Vereinigten‘ Staaten predigt, den, wie in
dem Buch behauptet wird, alle Japaner brennend erfehnen. Als Kriegsgrund
wird die widerrechtlihe und inhbumane Behandlung der japanifhen Einwanderer
in die Vereinigten Staaten bezeichnet. Saliformien wird als natürliches japanifches
Kolonialgebiet, Merifo als der gegebene Bundesgenofje gegen Amerika angefehen.
Offen wird ausgeiproden, daß Sapan bereits jet feine Tünftige amerilantiche
Kriegspolitit vorbereite. Ausgebildete japanifche Soldaten würden als Arbeiter
und Kaufleute nach den Philippinen und den Sandwidinfeln gefandt, und wenn
fie auf den lebteren Bürger geworden feien, fiedelten fie nach bejtimmter
Beit nad Kalifornien über. Auf den Infeln befänden fich bereit$ jet 80 000
Sapaner, die ihre Pflicht und ihren Dienft Tennten. Die Eroberung der Sand»
wih8- wie der Philippineninfeln wird als felbftverftändlih und unumgänglid)
bezeichnet, damit Japan fpäter feine Hand auf die Pazificküfte Tegen Tönnte.
Der Panamalanal fei mit großer Leichtigfeit dur Sprengung zu jperren, und
ehe die amerilanijche Kriegsflotte den langen Weg um Südamerika herum zurüd-
gelegt hätte, würden die Snjeln, die die Brüden zum Angriffe auf die Ber-
einigten Staaten bildeten, längit in der Hand der Sapaner fein. Amerifa kenne
nur einen Gott, den des Goldes, nur eine Philofophie, die der Geldgier. Die
japanifhe Bivilifatton fei die höhere und die Vereinigten Staaten müßten froh
fein, fle zu empfangen. Die Darlegungen laufen auf nahdrüdlichftie Empfehlung
unaudgefester Vermehrung der japanifhen Land» und Geeftreitlräfte Hinaus.
‘jeder einzelne müfle fparen, fi in feiner Lebensführung befcheiden, jeder
Grofhen, der zu erübrigen jei, müfje auf Rüftungen verwandt werden und in
den Schulen müßten alle Lehrer ihren Schülern immer wieder feft einprägen,
daß die Vereinigten Staaten der Feind feien.
Man fieht, es tft, felbft wenn die deutfhe Konkurrenz in China wirklich
fhon tot und England, ftatt die zarten Steime der amertlantifch-chinefifchen wirt-
IHaftliden Annäherung brutal zu zertreten, bereit wäre, fie mit aller Liebe zu
begen, dafür geforgt, daß die amerilanifhen Bäume nicht in den chineftfchen
Himmel wacdjfen.
Deutfhe Kultur im englifchen Spiegel
Don Rihard Kiliani
.
—— ine der auffallendſten Erſcheinungen der Kriegs-Publiziſtik Aller
Länder iſt das von neun angeſehenen ſchottiſchen und engliſchen
Gelehrten durch den Profeſſor W. P. Paterſon an der Univerſität
Edinburg herausgegebene Buch:
Deutſche Kultur
(German Culture)
mit dem Untertitel:
Der Anteil der Deutſchen an Wiſſenſchaft, Literatur und
Kunſt im Leben der Menſchheit.
(The Contribution of the Germans to Knowledge,
Literature, Art, and Life)
(2!/, sh. net, London: T.C. &E.C. Jack,
67 Long Acre, W.C. and Edinburgh.)
Syn neun Abjchnitten werden von in der englifhen mwifjenjhaftliden Welt
bodhangefehenen, ausgezeichneten Fachgelehrten in gründlicher Weife — da3
Buch hat 384 Seiten —
Veutihland und Preußen (Germany and Prussia)
Deutihe Philojophie (German Philosophy)
Was die Wiflenfchaft deutichen (What Science owes to German
Erfindern ſchuldet Investigators)
Teutiche Literatur (German Literature)
Deutfhe Kunft (German Art)
Deutihe Muſik (German Music)
Starle und Ihwache Seiten der (Strength and Weakness of
deutihen Erziehung German Education)
Bolitiiche und wirtichaftlihe Züge (Political and Economic Aspects
des deutjhen Nationalismus of German Nationalism)
Deutjche Religion und Theologie (German Religion and Theology)
ebandelt und die Schlukfolgerung gezogen, daß
„die Deutfchen ohne den Schatten eines Zweifel eines der größten Völker
der Gefchichte find, das in fi einen Teil der intelleftuellen und äfthetis
hen Attribute der alten Griechen und der praftiichen Weisheit der alten
Römer vereinigt und daß ihr Beitrag zum gemeinfamen Schage der
zivilifierten Menjchheit fehr groß if. Sie Haben die Spur ihrer Mit-
wirftung — und oft war diefe Mitwirtung eine fehr tiefe — in allen
höheren Gebieten des Lebend und der Arbeit des menjchlichen Geilte#
binterlaffen.
202 Deutfhe Kultur im englifhen Spiegel
Der Zmwed des Buches ift „einen Überblid über die Hauptiphären
menfhlier Tätigleit in diefer Richtung ohne Einfeitigleit und Bartei-
nabme zu geben.“
Wir haben es alfo bier mit einem Haffifhen Dokument der Einfhäßung
des beutichen Anteils an der Weltkultur, den ihr unabhängige, mutige und
fadhlundige Männer in Großbritannien notgedrungen einräumen, zu tun,
Männer, die noch dazu nach ihrer Herkunft und ihrem Amt, fowie nach diefen
ihren Außerungen felbft, al8 nichytS weniger al3 beutfchfreundlich bezeichnet
werden Tönnen. Der Lärm, den eine gewifle PBreffe der in den Krieg gegen
Deutfhland verwidelten und neutralen Länder gegen die fulturelle Bedeutung
Deutichlands gefchlagen hat, muß fürderhbin — nad) dem Erfdheinen diejes
Buches — entweder als auf böfem Willen oder grober Unfenntnis berubend
bezeichnet werden. Dabei tft nicht nur das erfte Kapitel: „Germany and
Prussia“ von einem ganz ausgeprägt antideutfchen Standpunft gejäärieben, aus-
gehend von der VBorausfegung, daß die Gründung des Deutichen Kaiferreiches,
„jedenfalls die eines befjeren und mehr balancierten Deutfhlands ohne die rohen
und brutalen Mittel Bismards“ möglich gewejen wäre. ES heikt da: „Bismard
nahm feine Zuflucht zu einer gemwaltfamen, hirurgifchen Dperation, um ein
Ergebnis zu erreihhen, das au auf dem Wege gewöhnlicher mebdizinifcher Be-
handlung möglid) gemefen wäre und Arroganz und Gelbftüberhebung find bie
Eigenfchaften, die fi dabei in einer teutonifhen Rafje aller Wahrfcheinlichkeit
nad entwideln mußten.” (S. 27 und 28.) Der Verfaffer diefes Kapitel Hat
fogar die Anſchauung, daß eine gewiffe neue bdeutfche Literatur die ganze
Geihichte des Mittelalter8 zu dem Zwed abfihtlich falfch darftellt, um angeblich
zu bemweifen, daß der Purpur des Taiferlihden Roms auf die Schultern Deutich-
lands übergegangen fei und daß die Hohenzollern die Macht und Prätentionen
der Karolinger, der Ditonen und der Hohenftaufen erbten und aljo in die Fuß-
ftapfen des heiligen römtjchen Reiches traten, deffen Gefhichte „ein unvergäng-
ides Zeugnis der politiichen Unzulänglichfeit Deutfchlands fei“. (S. 31.) Sa,
noch mehr: die Konzeption einer jolchen göttlichen Miffion fet ein Inventarſtück der
Borftellungen des deutfchen Volles geworden, deifen Sinn für Humor feitdem durch
eine ertravagante Selbjtüberfhägung eingefchläfert fei. Der englifde Berfafler
kann fi natürlich au) am Schluß nicht enthalten, zu bemerken, daß ihm zweifelhaft
eriheine, ob die Welt eine ftarfe Sehnfucht empfinde, „die Segnungen der
Zivilifation fünftig von einem Staat zu beziehen, der Vertragsperpflidhtungen
mißadte, den jhmwäcdheren Nachbar zermalme, den zu verteidigen feine Aufgabe
gewejen wäre, und der den Srieg mit zynifcher Brutalität führe.“
Kann man biernad) Über die prinzipielle Stellungnahme der DVerfaffer zu
dem deutfch-englifhen Problem nicht im Zmeifel fein, fo wirken die Urteile
diefer Fachmänner, die fämtlih Feinde Deutfchlands find, in ihrer eigentlichen
Sphäre um fo ftärfer, als dieje Anerkennung mit echt englifcher rejeroterter
Kühle und der uns nun fo mwohlbelannten Gefte des „arbiter mundi“, fozu«
fagen nur widermillig und mit zufammengepreßten Zähnen, vorgetragen wird.
Deutfhe Kultur im englifchen Spiegel 903
So wird denn in ber Einleitung zum zweiten Kapitel: „Philosophy“
trobdem gejagt, daß die Deutichen in der Metaphyſik ſchlechthin unübertroffen
fetien. Dazu gehöre nicht nur ein bejonderer Mut und eine befondere Tiefe
des Denkens, fondern au die arbiträre Sicherheit, welche Eigenſchaften fämtlich
gleichermeife echt deutfch fjeien. (©. 38.) „Deutichland allein war imftande
eine Philofophie zu fhaffen, welche romantifch genannt werden muß und daß
e8 dies Tonnte, ift ebenfo ein Beweis ber Größe als der Mängel feiner Philoſophie.“
Sede Metaphufil beginne mit einem Überblid fiber das ganze Feld menid)-
lihen Wiffend und fee „bie gebuldige Gründlichleit und den immenfen Tleiß
voraus, in dem der Deutiche niemals übertroffen worden fei.” Natürlich feien
andererfeit8 die Deutfchen mit ihren methodifchen Syitemen niemals Entdeder,
fondern ftetS Konftrulteure. AL vom englifhen Standpunkt befonders rühmlic)
wird hervorgehoben, daß die deutiche Philofophie eine Leiftung „der Perjön-
lichkeit” fe, Ale deutichen Philofophen, mit Ausnahme von Kant, jeien
endlich in dem Sinne Monijten, daß fie daS Geheimnis der Welt dur ein
PBrinzip zu erflären verjucden.
&3 folgt dann eine außerordentlich gründliche und eingehende Studie über
den Anteil Deutfchlands an den praftiichen Wiffenichaften, befonders während
der legten 100 Sahre, namentlih in Biologie, Phyfit und Chemie. E3 wird
gefagt: „Die Deutfchen feien in ihrer normalen Berfaffung mwahricheinlich die
geordnetiten Geifter in Europa und der größte englifhe Philofoph Spencer
erfcheine in diefem Sinne durchaus als ein vollftändiger Deutfcher, nur daß er
leider die Literatur feines Gegenftandes nicht Tannte. (1) In Großbritannien [heine
die Neigung zur methodtfhen Syftematifterung bedauerlichermeife nicht groß zu fein.”
Sn einer großen Anzahl von Entdedungen und in der Weiterentwidlung
von been hätten die deutfhen Forfcher einen folden Einfluß ausgeübt, daß
er al8 „von ewiger Dauer“ (ever lasting) bezeichnet werden müfle. Die Eng-
länder müßten als MWahrheitsfuhher um ihrer Selbjtahhtung willen der Ber-
juhung mwiderftehen, das zu verkleinern, was fi) als groß erwiefen babe: die
Arbeit der deutfden Erfinder. (S.70.) E83 fei abjurd, ein Land zu beihimpfen,
daß Männer von der willenihaftlihen Größe, wie: Behring, Bolgmann, Bunjen,
Gantor, Claufius, Dedelind*), Du Bois-Reymond, Ehrlich, Fifcher, Frege, Gauß,
Gegenbaur, Goethe, Haedel, Helmholtz, Keppler, Kirchhoff, Koh, Kopp, Leibniz,
Liebig, Lobe, Ludwig, Mayer, Meyer, Yohannes Müller, Ohm, Oftwald, Pend,
Richthofen, Riemann, Ritter, Rojenbufh, Rour, Sa, Sueß, Virchow, Weber,
MWeismann, Wislecenius, Wolff, Wundt, Zirkel, Zittel (S. 70) hervorgebradt habe.
Die lange Reihe großer Namen, die der Feind hier und zwar mit ber
ganzen Rube tiefer innerer Überzeugung zufammengeftelt, wird jeder für bie
Rultur der Menfchheit Empfängliche mit Genugtuung Iefen. Das ganze Kapitel
wirkt wie eine mit englifher Grünbdlichleit verfaßte Enzyflopädie von Großtaten
*) Mathematiter.
204 2
des menfchlichen Geijtes. nm allen einzelnen Abteilungen des enornien Wiffens-
gebiete8 wird der außerordentlih große Anteil deutfcher Arbeit an der XBelt-
fultur überzeugend nadgemwiefen. Im Ganzen eine unvergleihliche Leiftung
ehrliher Gerechtigleit, die den Feind ebenfo ehrt wie die deutſche Wiſſenſchaft.
Das nächte Kapitel behandelt die deutfche Literatur. Der Verfaffer gebt
von der Anfhauung aus, daß ihre Glanzperiode mit Leffing, Goethe und
Echiller fpät fam, lange nad) ÖShafefpeare und Milton in England, und
Sorneille und Moliere in Franfreid. Das fechzehnte und fiebzehnte Yahr-
hundert fet ein weißes Blatt Papier, was die Bedeutung Deutichlands für die
internationale Literatur anlange. Er fchließt daraus, mit einer eigentlich nicht
engliiden Abmefenheit bHiftorifhen Sinnes, auf einen gewiffen Mangel an
Driginalität. Was das Nibelungenlied anbetrifft, fo fei e8 Teinesmweg$ eine neue
Fliade; die Konjtrultion als Ganzes aber fet großartig.
Die neuere deutfehe Literatur fei in Nahahmung und Tritifcher Diskuffton
der engliichen und franzöfifhen entftanden.
Bei der Haffifchen Beriode der deutichen Literatur wird der Einfluß der
„edlen Einfalt und ftillen Größe” der griedhifhen Kultur auf Schiller und
Goethe hervorgehoben.
Goethe fommt natürlich nicht fehr gut weg mit feinen naturmwiffenfchaftlichen
Forfhungen, fon weil er es gewagt bat, Newton zu widerfprehen; Schiller
noch weniger, der ja fein Leben lang fi) um das tägliche Brot quälen mußte.
Smmerhin wird die Haffifche Periode der deutfchen Literatur als einzig in Ihrem
Sndividualismus und in ihrem Kosmopolitismus bezeichnet; al8 die Wurzel
der Größe diefer Periode gilt natürlich die deutfche Sleinftaateret.
Nietzſche wird als das Idol und Mujfter vieler junger deutfcher Autoren
geſchildert. Im allgemeinen wird für die Neuzeit das Nachlaſſen der ſchrift⸗
ſtelleriſchen Produktivität im Vergleich zur Goetheſchen Periode hervorgehoben,
ſowie die deutſche Inferiorität in der Epik und im Luſtſpiel, aber auch bemerlt,
daß, wenn früher Weimar das Zentrum der ganzen deutſchen Literatur war,
in der neueren Zeit eigentlich alle deutſchen Provinzen, wozu auch Deutſch⸗
Oſterreich und die Schweiz gerechnet werden, gut vertreten ſeien. (S. 195).
Was die Kunſt betrifft, ſo wird behauptet, daß, da der charalteriſtiſche
Zug der deutſchen Kultur Tiefe des Intellelts ſei, Deutſchland eigentlich nur in
der Philoſophie und in der Muſik zur Suprematie gelangt ſei. In einer Reihe
feiner Bemerkungen, die von dem hohen Standpunkt des Verfaſſers Zeugnis
geben (wie z. B.: daß die Kunſt darin beſtehe, Gott nachzumachen, der jedes
Ding zu ſeiner Jahreszeit ſchön gemacht habe, oder: daß die Größe und Fein⸗
heit der mönchiſchen Kunſt zum Teil darauf beruhe, daß der Künſtler damals eben
auch ſein eigenes Material und ſein eigenes Handwerkszeug ſelbſt anfertigte).
wird jedoch ausgeführt, daß die deutſche gothiſche Kunſt im allgemeinen nicht
das große Intereſſe biete, wie die deutſche romaniſche; ferner, daß die Deutſchen
mehr zeichneriſch als maleriſch veranlagt ſeien und daß die Lebenslage der Be-
Deutfhe Kultur im englifdhen Spiegel 203
——
— — — — —
— ⸗
wohner des deutſchen Nordens eben doch bellagenswert ſei, wenn man das
opulente Leben in einer Stadt wie Venedig damit vergleiche (l). Immerhin
wird die Reinheit der religiöſen Bewegung, die idylliſche Süßigkeit und die
talentvolle Hingebung der deutſchen Malerei des Mittelalters anerlannt, die
darin alles der Art in Italien Entſtandene weit übertreffe. Längere Ausfüh—
rungen werden über Holbein, Peter Viſcher und andere gemacht, die nicht nur
von kunſtgeſchichtlichem Intereſſe find, und manchmal hat man den Eindruck,
daß der Verfaſſer gänzlich vergißt, dab er eigentlich nur den Anteil Deutfch-
lands an der Weltfultur bejchreiben wollte: jo wenig erwähnt er andere Länder
und fo fehr tritt die Bedeutung Deutfchlands in den Vordergrund. |
Die deutjche Malerei des neungehnten SahrhundertS wirb al8 durch ruman-
tifde und Haffiide Erinnerungen belebt gejhildert, DOverbed, Kornelius, Kaulbadı,
Zboma, PBiloty, Liebermann und namentlich Böclin werden erwähnt und fehließlich
1Ihde befonders hervorgehoben.
Als Schlukfolgerung wird bemerkt, dab das beutfhe Bedürfnis in der
Formlunft mehr ein künftlihes als ein fpontanes jei. Die Deutfchen hätten
zweifelgohne Großes vollbradit in diefen Künften, worauf die Welt ftolz fein
möffe, aber fie feien im wahren Sinne des Wortes eigentlich feine Tünft-
leriſche Raſſe.
Am intereſſanteſten ſind vielleicht die drei letzten Kapitel über Erziehung,
Politit᷑ und Religion.
Das deutſche Erziehungsſyſtem iſt hiernach durch den Krieg aus einem
Muſter für Großbritannien eine Warnung geworden. Es habe durch die Über⸗
treibung des Staatsbegriffes, deſſen fich die verantwortlichen Leiter ſchuldig
machten, einen großen Mangel an Einficht und Gerechtigkeit bewieſen. Der
deutſche Eifer auf intellektuellem Gebiete ſei zur einſeitigen Parteilichleit geworden.
In Deutſchland träten aggreſfiver Ehrgeiz und individuelle Selbſtſucht unter dem
Deckmautel des Patriotismus auf. Daher komme es allerdings auch, daß die
deutſche Nation in dieſem Kriege ſo einmütig ſei in den Opfern von Leben und
MWohlftand. (1)
Ter Unterricht fei zuleßt rein intelleltuell geworden; ein gewifjer realijtifcher
Zug, der auf dem Gebiete der Technik feit 1870 zwar eines der größten Wunder
der Welt hervorgebracht habe, hat die Nation als Ganzes jedodh auf einen
falfchen Weg geführt. Der außerordentliche Wert einer ftarken Staatsauffidt
auf dem Gebiete des Unterrichtsweiend wird dabei allerdings hervorgehoben,
aber behauptet, daß ald Ganzes do das engliide Syitem den böheren
Menfchheitstypus hervorgebradht Hat. |
Sin der Bolitil wird ohne weiteres eingeräumt, daß der Drang nad) Welt-
politit auf der englifchen Seite ebenfo vorhanden ift wie auf der deutfchen, daß
alfo die Engländer ebenfo „panbritifh“ find wie die Deutjchen „pangermanijch“,
ia fogar, daß die deutfche Weltpolitit berechtigter ift, als die engliije, da
Deutichland fo fpät auf dem Kampfplah erfchien, während England jo vieles
906 Deutfhe Kultur im englifhen Spiegel
als leichtes Erbe zugefallen fei. (I) Die Grundlage der deutfhen Weltpolitik,
wie fie von Lift und Treitfchle gelegt worden jet, jel dabei nicht im mindejten
materialiftifcher Natur. Wenn die Grundlage des Krieges das deutijhe Welt.
madtideal war, fo fei England Deutfchland in der Formulierung von Welt-
machtidealen vorangegangen. Der Krieg fei im Grunde ein Srieg zweier Welt-
anfhauungen und es müfje zugegeben werden, daß für ein Deutfhland, das
nicht innerlich im Niedergange gemwefen fei, der Krieg unvermeidlich war. Der
Berfaffer bedauert, daß der Grundfat der Arbeitsteilung zwifchen den Nationen,
den fehon Lift gepredigt habe, in der britiihen Welt fo wenig Anklang gefunden
bat. Diefe Arbeitsteilung wird vom Berfaffer allerdings dahin verftanden, daß
England’ Kolonifation und Berwaltungstätigfeit, Deutfhland Kunjt, wiljen-
Ichaftlihe Forfhung, foziale Gefeggebung und Städtebau () vorbehalten bleibt.
Zugegeben wird, daß die Welt al$ Ganzes ärmer wäre, wenn man aus ihr die
deutfhen Weltherrfchaftsideale hinwegdenten müßte; immerhin fei „the honour
of colonisation“ nit mehr zu gewinnen, da fie England fon gewonnen
babe, übrig bleibe für den Nahhlommenden lediglid) „the pride of colonisation“.
Der Dften Aftens fei bereit angeljächttiich, ebenfo die Vereinigten Staaten von
Amerila. Deutichland habe aljo allen Grund gegen diefe „powerful tendencies“
anzugehen und dabei feine Zeit mehr zu verlieren. Der Verfaffer ftellt Pro-
feffor CrambS belanntes Bu: „Germany and England“ ohne weiteres den
Kauviniftifhen Werfen ZTreitichles gleih und führt aus, jede bdiejfer Theorien
müffe zum Kriege führen. Die legten großen Fragen in „Bolitif und Wirt-
ſchaft“ ſeien tatfählih nur dur die Religion zu löfen.
Der Begriff „Weltpolitil" wird fodann an Lift und Treitfchle einerfeits,
an Geeley andererjeitS analyfiert und vor allem des lesteren Bemerkung:
„za in den lebten 150 ahren der Menjchheitsgefchichte nichts fo über-
tafhenden Erfolg gehabt habe alS die Borufjifizierung Deutfchlands“ bervor-
gehoben. Demgegenüber müfje England nicht nur den Anfpruch erheben, in
der erften Reihe der Staaten, fondern über den Staaten des Kontinents zu
tangieren, wenn e8 feinen Handel nicht neuen und ernften Gefahren ausfehen
wolle. Die Deutichland zugefchriebenen Ausdehnungs- und Kolonifationsideen
werden unter Anführung von Zitaten englifher Schriftjteller im übrigen als
durchaus berechtigt dargeftellt, jo 3. B. Seite 327 als „an integral element,
of what Seeley calls the ‚significance‘ or first rateness of a modern
State‘, Man traut wirklich feinen Augen faum, wenn man ba lieft: „ein
großes Volt Tönne der Kolonien oder der koloniſatoriſchen Tätigkeit ebenſo
wenig enibehren wie eine Kirche der Miffionstätigkeit“ und daß Deutſchland
zwar die „missionary idea‘ hatte, aber „without any adaequate colonial
‚outlet‘. Die wahren Feinde Deutfchlands feien eben Gefchichte und Geographie,
die an feinem AZufpätlommen die Schuld trügen. Der englifhe Verfafjer gibt
aud den enormen und ganz ungebührliden Verluft zu, der für Deutichland
bur die Auswanderung feiner Bürger in fremde Länder „without obtaining
Deutfhe Kultur im englifchen Spiegel 207
the slightest compensation“ entftanden jei. Für England würde — wie
immer der Krieg auch ausgehen mag — es fi nit nur darum handeln,
ein „settlement after the war“ zu erreichen, fondern wirklichen Frieden zwijchen
den beiden Völlern herzuftellen, mwodei der neue Wein des Imperialismus auf
der ganzen Welt in den alten Schlau der europäilchen Grenzen gegoffen
werden müfle. Diefer Prozeß fet allerdings unlöslich mit der Frage der See—
gewalt verbunden.
Den größten Raum in ben weiteren Ausführungen nimmt Lift ein, der
mit großer Gerechtigleit gewürdigt wird in feinem natürlichen Gegenfah zu
Adam Smith und dem „Smithianism“. 3 wird offen zugegeben, daß aud
für Deutichland das oberite Gefeh die Erhaltung des Staates fei und daß es
ſchließlich keine Beſchränkung für das Recht der Selbfterhaltung des Staates
gebe. Danach hätte ſich auch der Begriff der Freiheit zu regeln.
Man kann nicht leicht einer offeneren Anerlennung der Relativität der
Staats⸗ und Machtauffaſſung begegnen als wie ſie ſich in den folgenden Zeilen
offenbart:
„Die geographiſchen Landgrenzen haben den großen Nationen
des europäiſchen Kontinents gewiſſe ſtaatsbürgerliche Beſchränkungen
auferlegt, denen unſer Land entrinnen konnte“
oder:
„Der Staat muß ſich ſelbſt behaupten, denn er braucht ein Gebiet,
innerhalb deſſen dieſer beſtimmte Menſchheitstypus ſeinen Genius aus⸗
drücken und entfalten kann“.
Dem in England ſonſt ſo viel geſchmähten Treitſchle wird großes Lob
gezollt und zugegeben, er habe auch für den Staat nicht mehr Macht gefordert,
als dieſer brauche; ſein bekanntes Wort: „Die Strahlen des göttlichen Lichtes
brechen ſich in unendlicher Strahlung in den einzelnen Nationen; jede Nation
hat das Recht zu glauben, daß gewiſſe Kräfte der göttlichen Vernunft gerade
in ihr, das heißt in dieſer ſpeziellen Nation, ihre höchſte Entwicklung finden“,
wird auf eine Stufe geſetzt mit dem alten engliſchen Wahlſpruch: „My country,
right or wrong“. Auch die angebliche Machttheorie Treitſchkes, die nach des
engliſchen Schriftſtelless Meinung der viel weniger bedeutende Bernhardi
ſelbftaͤndig weiterentwickelt habe, wird auf ihr richtiges Maß zurückgeführt,
Indem gejagt wird, daß es ganz unbedenklich fei, Staatöverträge, die fich über-
lebt haben, zu kündigen.
Die ganz ungewöhnlichen Darlegungen des Berfaflers jchließen mit dem
Bitat des Profeffjor Eramb:; „Wir dürfen nicht die Aniprüdhe und Pläne einft
anderen Nation durchfreuzen, deren großer Hijtorifer ebenfo über den Staat
frieb wie wir, den Staat, der unfere Vorfahren mit feiner Gerechtigleit be-
(hügte, den fie verteidigten mit ihren Leibern, den die Lebenden berufen find
weiter auszubauen und den höher entwidelte Kinder und Sindeskinder einft
erben follen. Für die Verteidigung bdiefer Erbichaft muß ebenfo der Grundjag
208 Deutfhe Kultur im englifchen Spiegel
gelten, daß Macht die Grundlage des Staates ift, wie der Glaube die der Kirche
und die Liebe die der Familie.” Das bochintereffante Kapitel fehliegt mit der
bangen Frage: „Sind wir mit diefem Prinzip oder mit einer perverfen Abart
davon im Kampf? ft der deutide Militarismus ein wahrer oder ein entartetex
Ausdrud deutfcher Kultur? Was find wir ausgezogen zu zerjtören?”
Das Schlußfapitel ift vom Herausgeber jelbit verfaßt; es Handelt von
Religion und Theologie. Bei tiefer Achtung vor den inneren Beweggründen
der deutfhen Reformation, ihrer Sehnfucht, ihrer friedlichen Innerlichkeit, ihrer
direlten Beziehung zu Gott, wird doch behauptet, daß diefe im Grunde deutichen
%oeen in England eine größere praltiihe Ausbildung erfahren hätten, als in
Deutihland. Die Weiterbildung der Reformation in Deutfchland fei zwar duch
die Wirren und Opfer der napoleonifchen Kriege ebenfo gefördert worden wie
durch die erjtaunliche Geduld und Gründlichleit der deutfchen Theologen, denen
endlih auch noch eine fait fchrankenlofe Liberalität feitens des Staates zugute
gelommen fei; zulegt aber habe fich der deutfdhe Proteftantiemus in pietiftifche,
rationaliftifede und deiftifcde Richtungen zeriplittert. Allerdings wird eingeräumt,
daß es Luther gewefen, der den Rahnıen für die Größe bes britifchen religiöfen
Lebens geipannt babe. Ehbenfo wird in großer Ehrerbietung anerlannt, daß
die Entwidlung der deutichen Religions-Philofophie dbe3 vorigen Yahrhunderts
durhd Schleiermadher und Hegel ohne jedes Gegenftüd in der Welt fei, dex
namentlid in Großbritannien nichts ähnliche8 an die Geite zu ftellen fei.
Die deutfehe Iutherifche Kirche fei eines der größten aller organifierten chriftlichen
Gemeinwefen und ftelle al$ eine Schule der Frömmigkeit und Charalterbildung,
fowie als Inftrument chriftlihen Gottesdienftes eine Mufterleiftung dar. —
Das Buch als Ganzes ift eines der ftärkften Dolumente in dem englifchen
Teldzug auf Zod und Leben wider „die deutjchen Feinde ber Zivilifation,“ wie
er in der feindlichen daupiniitifhen Breffe gepredigt wird, zu unferen Qunften;
e3 berubt auf gründlichen, fahmänniichen Kenntniffen und ift, da es von fpezififc)
angelfähfiihem Standpunkt gefchrieben ift, die glänzendite Anerkennung deutſchen
Geijtes, die die Kriegsliteratur bervorgebradit hat.
Wie ftart das Erjheinen des Buches in Frankreidy verjtimmt hat, beweifen
Beröffentlihungen im Julie und Dftoberheft der „Revue des deux mondes“,
in denen auf da$ Unzeitgemäße einer folchen Anerlennung der Bedeutung Deutidy
lands für die Zivilifation der Menfchheit in diefem Augenblid hingewiejen wird.
A nn.
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3
Gewerbliche Kinderarbeit
Ein Beitrag zur Bevölferungsfrage
Don Dr. Bueg
a ine naturgemäße Begleiterfcheinung fi) lang ausdehnender Kriege
ift die Neubelebung aller ragen der Bevöllerungspolitik, die
eine Bermehrung der Ktopfzahl gewährleiften. Das heutige gigantifche
Ringen der Völler, das fo jhmerzlihe und unerhört große Opfer
an Menjchenleben fordert, hat der Bevölferungsfrage den Eharafter
einer ftaatlihen Epriftenzfrage verliehen, da die nationale Leiftungsfähigkeit
von dem Borbandenfein beftimmter arbeitstauglider Kategorien abhängig
ft. Die Probleme der Friedenspolitit: die Verteilung der Bevöllerungs-
gruppen, die Hebung des Nahrungsfpielraunes einer Klaffe entfprechend ihrer
Dervielfältigung, die menfhliche Überprobuftion im Verhältnis zur Boden-
vermebrung, das alles find Probleme, welche plößlich der reinen VBollsvermehrungs-
frage gegenüber in den Hintergrund gedrängt werden. Der BZeugungsmille,
das Anfchwellen der Fruchtbarkeitsziffern, Turz, die Mittel und Wege, welche
einer Bermehrung der Geburten fördernd zur Seite ftehen, find das Leilmotiv
unjerer heutigen Bevölferungspolitif geworden, und was nit unmittelbar
oder mittelbar in den Dienft der neuen Aufgabe einzureihen tft, erhielt felundäre
Bedeutung. — Die Begründung der Gejelfchaft für Bevölferungspolitif im
Dftober 1915 bofumentierte das ftarle neue Streben Außerlih, die Ziele der
jungbegründeten Gefellfhaft laffen fi furz in dem Schlagworte: Mehrung und
Erhaltung unferer Bollstraft, zufammenfaflen.
E3 war eine Folge der Gelbitverftändlichkeit, daß die Begründung der
Gejelichaft für Bevölferungspolitif in der Allgemeinheit zu Kundgebungen und
Stellungsnahmen führte; e8 bat fih bierbei nun gezeigt, daß man innerhalb
des breiten Publitums wie au teilweife in Fachkreiſen, das Haupt»
gewicht auf „!jem Gebiete denjenigen Maßnahmen zufhiebt, weldhe die Ber-
mebrung der Geburten begünftigen. Der Mahnruf an die Frauen, lindermilliger
zu fein und zu werden, ift mit einer Intenfität erjhallt, daß darüber des Pro-
grammes zweiter Teil, die Maßnahmen zur Erhaltung beftehender Bollsträfte,
in das Hintertreffen gelangen. — umieweit e8 zwedentiprechend tft und In«
wieweit e8 fich mit den gefühlsmäßigen Fragen des Zaltes verbinden läßt,
unferer Frauenwelt heute, da bereits jo vieles drüdend auf ihren Schultern
zubt, Schon mit neuen Forderungen zu lommen, die in elementarfter Weife in
Grengboten 1 1916 14
210 Gewerblihe Kinderarbeit
ihr fubjeftiveg Leben einjchneiden und ihr in offener und verftedter Art Bor-
würfe über wenig entwideltes Muttergefühl zu machen, mag bier dahingeftellt
bleiben, offenfichtlich erwäcdht uns aber ein Mangel aus dem Streben, in erjter
Linie nur dahin wirken zu wollen, die Geburten ziffernmäßig zu beben.
Das erhaltende Moment innerhalb der Bevölferungspolitit ift für unjeren
Staatsförper von der gleichen mweittragenden Bedeutung. Allein mit der ver-
mehrten Geburtenzahl und dem Schute des Neugeborenen ift das weite Ziel
einer gefunden Auffülung unferes wirtihaftlid und militärif$ notwendigen
Volfsbeftandes nicht zu erreihen. ES ift zudem eine Sache der Nealpolitit,
ih das vorhandene But zu Nugen zu machen, ftatt feine Hauptlraft auf bie
Erhebung von Wünfchen zu legen. Wenn zweifellos die bequeme Gattheit
unferer SRulturperiode den Willen zur Geburtenhäufigkeit erftict, oder jagen wir,
wenigftens vermindert bat, fo trägt doch die wirtſchaftliche Baſis der einzelnen
Chegemeinihaft nit am wmenigiten zu der vielfach beobadteten Stinder-
beichränfung bei. Man wünfht in den Familien fowmohl fi al8 aud dem
Kinde die wirtfhaftliche Eriftenz nicht herabzudräden: da nun der Kriegszuftand
nur wenige Familien begüterter macht, die Regel in einer Verminderung, ja Ber-
beerung der wirtfchaftlichen felbitändigen Griftenzen bejteht, wird der Wille zu
einer VollSvermehrung nur zu einem geringen Zeile von dem Geburtenmwillen ber
Zrauenwelt abhängen, fondern fih lehten Endes von der finanziellen Leiltungs-
fraft der Einzelfamilie abhängig ermweilen, da erfabrungsmäßig das wirtfchaft-
liche Niveau einer Yamtiltenhaltung nie freiwillig beruntergebrüdt wird, fondern
lediglich) zwangsweife zu einer Einfchränkung gelangt. Statt alfo den Frauen
ins Gemiffen zu reden und eine Umformung der Samilienhaltung zugunften der
Bevölferungsfrage zu propagieren, wende man fi) zunädjit einmal dem Schupe
des Vorhandenen zu und ftelle das, was heute an der Spige ftebt, in die
zweite Reihe. Ä
Zweifello8 treiben wir noch immer Raubbau auf Koften der Bevöl-
ferung; taufende von wirtihaftlicden Sräften gehen Jahr um Jahr verloren
oder enimwideln fih nicht zu ihrer vollen wirtichaftlien Kraft, geben dem
nationalen Leben gleih dem verlümmerten Baume weder Blüte noch Frudit,
faugen aber dennoch bedeutende Kräfte des Bodens an ih. Mit dem Schube
der Arbeitshand ift ja denn auch befanntli unfere moderne Sozialpolitif in
das Leben getreten. Die Wirtichaftsgeftaltung der Staatsgemeinichaft gründet
fi auf den Schuß, den man dem gefährdeten Individuum angebeihen läßt.
Se weitfhauender die Wirtfchaftsgeftaltung ber Gefelfhaft und ihre Bedingungen
in der Zulunft vor die Augen der Gegenwart gerüdt werben, um fo nadprüd-
Sicjer wirb eine wirtichaftlihe Mehrwertvergrößerung angebahnt.
Gegenüber dem Schuge des Säuglings Läßt fi die Allgemeinheit heut⸗
zutage fo ziemlich jeden Cingriff moderner Sozialpolitif gefallen und das ziel-
bemwußte Bingreifen in das freie Spiel der Kräfte, um die zahlenmähigen Dafeins-
bedingungen eines Volles zu heben, erjcheint bier als felbftverftändlih. Der
Gewerblihe Kinderarbeit 211
Körper des Säuglingg muß geihütt werben, darüber ift fi der Belfimiit
genau fo einig, wie der Gfeptifer und der Bhilifter, deflen Horizont
nur zwölf Stumden reiht. — Ginem ganz anderen Bilde ftehen mir
indeffen gegenüber, wenn es fi um die ragen des Staatsfhubes für das
Kind Handelt. Wir ftehen zwar heute weder in der Sogialpolitif noch in
der Allgemeinheit auf dem Standpunft jenes Pjeudoölonomen Ure, der bie
Kindertätigleit „entzüdend” fand und die gefehliche Beichränkung der Kinder-
beichäftigung als ein Mittel anfah, „den unglüdlichen Objekten mißverftandener
Humanität ein Mittagbrot oder Abendefjen zu nehmen“, dennoch ift es feltfam,
daß, obgleih wir unfere Staatsfozialpolitit im wefentlihden mit dem Schube
des Kindes begonnen haben, nod) fo vielfach Trafies Unverfitändnis gegenüber
der Notwendigleit der Staatsforge für das Kind befteht. Wir ftehen auf
diejem Gebiete noch immer einer Unfumme fehr trüber Mißverhältniffe gegen-
über; jeder Gewerbebericht, jede Erhebung, jede Enquete bemweiit uns das.
Die breite Allgemeinheit aber überrafht ung nur zu oft durch) eine völlige
Berftändntslofigleit gegenüber den Werten, bie bier gefährdet find. Statt einer
Unterftäßung begegnet man nicht felten einer Abwehr. Es ift erftaunlidh, daß
man fi in einer Epoche, in ber für den Muiterfchug, für Säuglingspflege,
Krippen und Kinderhorten eine jo danlenswert rege und erfolgreiche Tätigkeit
entwidelt wird, immer no nicht im Klaren darüber ift, daß ein Sind aud)
über die erften Lebensjahre hinaus des Schubes bedarf, der in minder be-
mittelten Kreifen eben nur durch einen jtaatlihen Eingriff zu erlangen ift. —
St das Kind glüdlih bis an das Schulalter berangewadhfen, fo erachtet man
e3 für unfchädlih, nunmehr das junge Leben fich felbft zu überlaffen und gibt
fi der irrigen Annahme hin, dur Schulipeifungen und die Errichtung Tom-
munaler Spielpläge und Badeanitalten, den jungen Nahmuchs vollswirtihaft-
li ausreichend gefihert zu baben. Am bedauerliiten aber tft, daß einer
Agitation für eine Erweiterung der ftaatlichen Machtbefugnis dem Kinde gegen-
über nod vielfah die Thefe von dem umberedhtigten Staatseingriffe in die
Elternrechte entgegenfteht. Die Familie ift, ftantsrechtlich betrachtet, heute keine
Einheit mehr, fondern ftellt einen Verband von Einzelteilen dar. Sozialpolitifche
Mabnahmen, Gefegesnormen und Verordnungen ergreifen mit ihren Beftim-
mungen nicht mehr die Familie als Komplex, fondern wenden fi) je nach ber
Lage des Falles, nad) Bedarf und Notwendigkeit, dem Einzelobjelte innerhalb
des Hamilienverbandes zu. Wir jteben bezüglich der Warnung vor der Weiter-
entredhtung der Familie Durch neue Staatseingriffe, einem völligen Mangel an Logil
gegenüber: gegen die Vorkehrungen der Reichsverfiherungsordnung mit ihren
elementaren Rechtseingriffen in die Yamilie erhebt man feine Einwendungen
und pläbiert für verftärkte Maßnahmen, im gleichen Atemzuge aber warnt man
dem Sinderfchuge gegenüber vor der Yamilienentredjtung. Der Unterfchied in
der verihiedenen Behandlung diefer ähnlichen Sragen ift vom Standpunfte des
menihliden Egoismus aus betrachtet, nicht unfchwer zu begreifen. Die meiften
14*
212 Gewerblihe Kinderarbeit
fozialen Maßnahmen bringen, wentgftens für den empfangenden Teil, nur er-
hebliche Vorteile, die Schußbeftimmungen für Kinder aber bürbden fomohl den
Samilien als aud) beteiligten dritten Perfonen Nachteile und Unbequemligkeiten
auf. Dem einen Zeil wird die Entlohnung, dem anderen die Arbeitsleiftung
durch unfere Kinderarbeitsfchußgefege vermindert oder ganz entzogen.
Egoiftiide Motive, die, von zwei Seiten ausgehend, fi zu einer farlen
Waffe vereinigen, gefährden die Entwidlungsbedingungen eines unbemittelten
Kindes und es ift doch fo abfjolut notwendig, fi) Har darüber zu werden, daß
‚der Schub der Fünftigen Generation nicht mit dem Kindesihuße in den erften
fünf Lebensjahren Genüge getan tft. Das Kind bedarf gerade in den erften
Entwidlungsjahren körperliche Schonung zu einer gefunden Entfaltung der ein-
zelnen Drgane; es bedarf des unbedingten Schutes vor Ermübung des Körpers
und Überanftrengung. Das Kind benötigt einer gewiſſen körperlichen Ruhe
zu der Ausbildung feiner geiftigen Funktionen. Gefellen fich zu einer unge
nügenden Nahrungsaufnahme nod) dauernde Förperlide Anftrengungen, bie
dur) die geiftige Bürde des Schulbefuhes für das Kind nod) vermehrt und
vertieft werden, fo erwachfen uns jene fchweren Übel Förperlihen Naubbaues
am Sindesleben, durch den unfere nationale Leiftungsfähigleit auch heute nod)
fo vielfach beeinträchtigt wird, obgleih wir auf einen bereits zehnjährigen
altiven ftaatlien Kinderfhug zurüd bliden können, obgleich die erften Staat%
maßnahmen im Syfteme der fozialpolitiiden Schadenabwehr mit der Regelung
der Kinderarbeit eröffnet wurden und bereitS im Jahre 1839 mit dem preußifchen
Regulativ begannen, welches die Arbeit von Kindern unter neun Jahren für
Fabrifen, Berg-, Poch- und Hüttenwerken unterfagte.
Gewiß gehört Deutfhland (neben England) zu denjenigen Ländern, in
denen der gejegliche Schuß des Kindes weiteitgehend geregelt wurde. Unjer
gefeglider Kinderfhug beruht heute im wefentliden auf dem Kinderſchutzgeſetz
vom 1. Januar 1904, dem Fürforgeerziehungsgejeg (preußifhes von 1900),
den Schugbeitimmungen für Kinder innerhalb der Gewerbeordnung, die in den
88 107, 185, 148, 154 ©. D. niedergelegt find, den Beftimmungen bes Haus-
arbeitsgefeges und zwar des 8 6 Abf. 29... ©. und des 8 1, 2 des K. Sch. ©.
Dazu kommen noch die Maßnahmen innerhalb der Strafgefegnovelle vom
Suni 1912, 8 235 und die Beflimmungen der 88 55 und 56 bes Strafgefty-
buches, fowie die 8$ 169, 173, 174, 176 Ziff.8, 181 Ziff. 2, 221, 239, 361
Ziff. 3 und 4 ©t. ©.B. — Rechnet man zu diefen bejtehenden Normen Hinzu, daB
der Schuß des Kindes ein abfoluter ift, das beikt, daß er unabhängig von
dem Borhandenjein eines vertragsmäßigen Arbeitsverhältniffes befteht — denn
nur das Vorhandenfein eines Arbeitsverhältnifjeg begründet ja fonft den An
Iprrud auf die verjhiedenen fozialen Schugmaßnahmen — fo erjcheinen die
Klagen über den no) immer durchaus mangelhaften Schuß des Kindes dem
Publitum häufig als übertrieben. Leider entfpricht e8 den ZTatfadhen, daß die
Kinder des Volles trog der mannigfaltigen gefetlihen Eingriffe und mohl«
Gewerbliche Kinderarbeit 218
— —
—
—
gemeinten Beſtimmungen auf dem Papiere, noch immer zu Tauſenden dem
Moloch Kinderarbeit anheimfallen. Man leſe nur einmal die Berichte der
Gewerbeinſpektoren. Allenthalben zeigt die Praxis, daß, ſoweit die Schutz⸗
beftimmungen gewerblicher Natur in Frage kommen, die Erfolge nur dort von
Erfolg begleitet ſind, wo, wie zum Beiſpiel in Heſſen und neuerdings in Köln,
Aachen und Marienwerder, die Schutznormen durch eine poſitive Fürſorgetätigkeit
an den Kindern unterſtützt werden, die für die Geldopfer, die das Geſetz den
Eltern auferlegt, entſchädigt. Gewiß haben wir heute nicht mehr die Zahlen
von 1898, durch welche laut amtlicher Erhebungen feſtgeſtellt wurde, daß von
632 283 Rindern, die erfaßt wurden, — 57,64 Prozent in der Induſtrie taͤtig
waren. Doch als das Jahr 1904 uns den grundlegenden Ausbau unſeres
geſetzlichen Kinderſchutzes brachte, hat man ſchwerlich angenommen, daß man mit den
neuen Maßnahmen nach elf Jahren noch den heutigen Ergebniſſen gegenüber⸗
ſtehen würde. Als wir mit dem ſtärleren Kinderſchutz begannen, hatte man
mit einer Periode von Übertretungen gerechnet, ihre Ausdehnung und ihre
Stärke indeflen unterfchäßt.
Es ift menfhlih natürlidh, daß eine ftändig mit peluniären Sorgen
fämpfende Arbeiterfchaft fih gegen eine Beichhränfung der Ausnubung der vor
bandenen Sinderfräfte wehrt, und es ift felbftverftändlih, daß die Unannehm-
lichleiten, die dem Tapitaliftifhen Unternehmertum durch die Sperrung der
billigen Stinderarbeit bereitet werden, den Gejegesbeftimmungen jhon von vorn-
derein eine ftarle Gegnerfchaft bringen. Dort aber, wo Einfiht und forgende
Elternliebe den mannigfadhen Beftimmungen Willigfeit entgegenbringt, wo man
ber Kinderarbeit nach Möglichkeit entraten möchte, ftellt fid dem rechten Wollen
da3 barte Muß der Not entgegen. Noch immer find uns leider Schleflen,
<hüringen und ganze Teile Sachfens traurige Beftätigungen bierfür. Der
Kriegszuftand aber, der fo verheerende Wirkungen auf Zaujende von Familien-
baltungen ausgeübt hat, bringt dem Finde eine doppelte Neubelaftung feiner
Ihmwaden Arbeitstraft. Eine Vermehrung der Kinderarbeit aus Gründen der Not
wird eine der vielen foztalfhädigenden Folgen des gewaltigen Ringens der Völler
fein. Die Fälle werden fih erfchredend mehren, in denen Gemwerbeinipeltoren
bei ihren Snfpeltionen finden, daß vierjährige Kinder im Bette aufrecht ftehen
und Wolle zupfen. Das Hauptübel der bis zu fchädigenden Grenzen aus»
gebehnten Kinderarbeit befteht in dem Unvermögen, die Kinderarbeit einer Kon-
trofle zu unterwerfen. Die arbeitenden Kinder entgehen zu einem Diertel und
darüber hinaus dem Gefebesfchuge, denn ein großer Teil der Kinder wirb von
der Kontrolle überhaupt nicht erfaßt, da fie außerhalb der feiten Betriebsftätten
arbeiten. Sn Großftäbten, gerade den Herden der Kinderarbeit, ift auch bie
Kontrolle der feft befchäftigten Kinder fehmer, da der häufige Wechjel des Ar-
beitsplahes e8 auch dem guten Willen oft unmögli” macht, die arbeitenden
Kinder überhaupt aufzufinden. Zu all diefen Gründen gefelt fi dann nod)
die große Unüberfigtlichleit unferer gefehlihen Kinderfhugbeitimmungen, die
214 Gewerbliche Kinderarbeit
—
bunt in Yudilatur und Gemerbepolizei verftreut find, und mit ihren vielfachen
Derweifungen dem Laien feine Mare Überfiht bringen. Aus dem Zufammen-
wirfen all diefer Umftände entftehen dann die zahllofen Übertretungsfäle und
Zumiderhandlungen. Der Gemwerbebericht meldete allein für Baden 1911 44114
Zumiderhandlungen und ber jüngfte Bericht vom Februar 1914 2190 Zumiber-
Dandlungen bei einer Beichäftigungszahl von 6538 Kindern. In unzuläffiger
Meife waren davon befchäftigt 69 fremde und 61 eigene Kinder. Eine un-
erlaubte Beichäftigung wurde in er Heimarbeit in 28 Fällen feftgeftellt. Die
Statiftil der verbotswidrigen Befchäftigung tft oft eine geradezu erjchredende,
wenn man bebdentt, daß dies das Ergebnis eines fo Iangjährigen Kinderfchuges
ft. So waren zum Beifpiel nad Berichten von 1912 in einer Konjerven-
fabrit allein 30 Kinder, in einem öftliden Regierungsbezirk (Oberfchlefien) von
6824 Rindern 2323 = 84 v. H., in einem anderen 20 v. 9. gefebwidrig be-
Häftigt. In einem unferer Koblenbezirfe fand zur gleichen Zeit eine unge
jegliche Verwendung eigener Kinder in 79 von hundert Fällen ftatt. In dem
ihlefifgen Leinenbezirt waren 1911 34,4 v. 9. der Finder unerlaubt und 28
v. 9. verboten bejdäftigt.. Traurig find noch immer die hohen Ziffern ber in
zu jugendlidem Alter befhäftigten Kinder. Ba gelten für Schlefien folgende
Zahlen: 98 fremde 10 eigene Kinder (1911), Sacdfen 50 v. 9. (1911), Welt
deutichland 33 v. H. Kindern (1912). Das find alles befte Beweife dafür, wie
langfam die Fortjchritte auf diefen Gebieten find. Nach fünfjähriger Gültig.
feit der Beitimmungen von 1903 waren in einzelnen Bezirlen nody 51 und
42 v. 9. der Kinder „ohne“ Arbeitsfarte befhäftigt! ... .. In einem Bezirke
batte man 1909 55 Arbeitsfarten ausgegeben, erfolgt aber waren nur — 13
Anzeigen. Die formellen Borfchriften werden auch jegt noch in überrafchend hoben
Zahlen übertreten. — Ein gutes Teil der hohen Übertretungsziffern ift auf die
niederen Geldftrafen zurüdzuführen, welche die Übertretungen nad) fi ziehen. Die
Geldftrafen halten fi durhfchnittlich zwifchen 1—5 Mark, oder zwifhen 5—20
Mark. Es find allerdings aud) Beitrafungen von 600—800 Mark vorgelommen.
Das find aber außergewöhnliche Fälle. Sendr Fabrilant, der, wie zuvor am
geführt, in feiner Konfervenfabrif 30 Kinder verbotswidrig befchäftigte, erhielt
nur eine Geldftrafe von — 30 Marl.
In wie hohem Maßftabe gewerbliche Kinderarbeit in Deutfchland heute
nod) verwendet wird, zeigen folgende Zahlen. ine Stichprobenerhebung von
1913 ergab, daß in Groß-Berlin in den früheften Morgenftunden 3595 Sinder
vor der Schule tätig find und zwar in folgender Weile: 1863 Kinder trugen
Beitungen aus, 1067 Badwaren, 1165 Mild. 1904 waren nod) 15,5 Prozent
aller Vollsfhüler unter 10 Jahren gewerblich beichäftigt. Dazu kommen nun
no die zahllofen in der Landwirtichaft befchäftigten Kinder. Da die Land
wirtihaft ja leider noch immer ohne Kinderfchug ift, foweit Allgemeinbeftimmungen
die Kinder nicht ipso jure mit erfafjen, find die Zahlen hier fehr fchwer zu
erlangen. Nach einer Beröffentlihung für Bayern waren dort 146 492 Kinder
Gewerbliche Kinderarbeit 215
in der Rindimirtfhaft tätig, darunter 45 716 Kinder unter 10 Jahren. Dazu
wurde kitgeftellt, daß 1910 in 27 von 33 Drten Kinder nad) dem Unfall-
geſetz verbotsmäßig bei Dreſchmaſchinen befäftigt wurden. Es fand im Durch—
ſchnitt in 5 Prozent Fällen eine verbotene Beſchäftigung ſtatt und es wurde
die Einſtellung von 42 Mädchen zur Dreſchmaſchinenarbeit bei einer Arbeitszeit
von 10 Stunden nachgewieſen. Wenn man dieſe Tatſachen neben die Ergebniſſe
der Krüppelſtatiſtik für Landkinder hält, wenn man ſich vergegenwärtigt, daß
dieſe Kinder z. B. im Sommer oft ſchon 2 Stunden vor dem Schulbeginn
arbeiten und dann haſtig den meiſt weiten Schulweg zurücklegen müſſen, ſo
kann nur immer von neuem wiederholt werden: wir brauchen den Kinderſchutz
auf dem Lande mit der gleichen Dringlichkeit, wie er für Handel, Induſtrie
und Verlehr gefordert werden mußte.
Neben dem Umfang der Kinderbeſchäftigung beſteht noch der Übel-
ſtand, daß die Kinder erfahrungsmäßig mehrere Arten von Tätigkeiten aus⸗
zuführen haben. Die jüngſte größere Kinderſtatiſtik, die öſterreichiſche vom
Ottober 1918, gibt einen genauen Beleg für dieſe in volksgeſundheitlicher Hin⸗
ſicht recht unerfreuliche Tatſache. Seit dem Kaiſerwort von 1908: „Alles für
das Kind“, iſt in Ofterreich ja eine fehr lebhafte und dankenswerte Agitation
gegen die Sinderarbeit entftanden. Die öfterreichifche Statiftit zeigt, daß
44,4 Prozent aller Finder mehrere Berufe hatten und zwar im Durdhfanitt
drei bi8 vier VBeichäftigungen! Die Kinder wurden als Austräger und Lauf
jungen in der Heimarbeit und in den Abendftunden in den Schankwirtichaften
beim Gfläferfpülen befchäftigt; fie trugen Badwer! aus, arbeiteten in ber Xn-
duftrie ihre gefegmäßige Zeit, um dann in der Heimarbeit weiter verwendet
zu werben. Ein Drittel diefer Kinder waren 7 Jahre, 8 Prozent 6—8 Jahre,
85 Prozent 9—10 Sabre, 49,7 Prozent 11—12 und 52,3 Prozent 13—14
Sabre alt. — In Deutichland Iiegen die Verhältniffe nicht anders. Auch hier
finden wir da8 Stapeln von Steinen, das Falzen von Zeitungen, Heim-
arbeit und Austragebienfte, Kohlentragen und dergleichen Handreihungen mehr,
täglich in der Tätigkeit „eines” Kindes vereinigt. Badwerk trugen in einem
Bezirle 92 v. H., in einem anderen 86 dv. 9. aller beichäftigten Kinder aus.
Nah dem jüngften badenfchen Februarbericht waren 80,95 Prozent aller Kinder
im Austragedienfte befchäftigt. Bon 4500 Kindern arbeiteten allein 3600 Kinder
in der Heiminduftrie. — Die Beihäftigungsart der Kinder in der Snduftrie ift
ja befannt. Sie ift für die Augen, die Lungen, den zarten Körperbau der
Kinder ja die chädlichitee Dian bedenke nur, daß 3. B. tm Aachener Bezirte
im Durdfchnitte nicht weniger als 2500 Kinder nur danıit beichäftigt waren,
die feinen Federn in die Drudinöpfe zu fehen. Soldde armen Kinder müſſen
ferner Ührenfedern einfegen, Hutfedern leimen, Blumen drehen, Nadeln paden,
fortieren, Glasperlen aufreihen ufm. Sn der Belleidungsinduftrie waren
1912/13 etma 1200 Kinder tätig, in der Zertilinduftrie etwa 3000.
MWie fehädigend die gewerbliche Arbeit der Kinder ift, zeigen uns die DBe-
216 Gewerbliche Kinderarbeit
richte der Schulärzte faft monatlid. Im Landespolizeibezirt Berlin fchäpte
anfangs 1914 ein Berliner Schularzt, daß 15 v. 9. aller Volfsichüler — alſo
jener Kinder, welche in der Hauptfache gewerblich befchäftigt werden! — Trant
oder leidend find. Yür unfere Vollsgefundheit bedeuten derartige Zahlen doch
recht bedenflihe Tatfachen. Gerade heute, da man fi mit den Problemen
bes Kindes fo nachhaltig befchäftigt, follte man dazu helfen, daß unfere
Kinder des Volles Törperlih und fittliö gefund aufwachlen können, daß fie fi)
nicht mehr, wie e8 heute in der Heiminbuftrie noch der. Fal ift, in einer
zehnftündigen Arbeitszeit einen Lohn von B0—40 Pfennigen erarbeiten mäüflen.
Das Publilum lan in diefer Frage manches tun. Wenn man bie Ramid-
und Schleudertage für den Handel weniger rentabel machte, wenn man wieber
anfinge, mehr nad) guter al$ nach guticheinender billiger Arbeit zu verlangen,
wenn man die Ausnahmetage weniger befuchen würde, wäre [hon manches getan.
Günftige Erfolge find auf diefem Gebiete nur zu erreichen, wenn ein Zufammen-
arbeiten von Gefebesnorm, gutem Willen und einfidtigem Pflichtgefühl ermög-
licht wird. Gemiß, man könnte einfach fagen: hebt die Elternlöhne, dann wird
auch die Kinderarbeit fortfalen. Abgefehen davon, daß von der erhöhten Lohn-
quote vieles den fteigenden Anfprüden anheimfallen würde und die Kinder,
inSbefondere die fremden, doch weiter beichäftigt würden, ift es zwecklos,
mit Forderungen operieren zu wollen, die fich nicht verwirklichen laſſen.
Auf den Boden der Wirklichlett muß man fi} ftelen. Soziale Zweckmäßigleit
und Mitleid find felten fo widerſpruchslos harmoniſche Träger der ſozial⸗
politifiden Maßnahmen wie auf diefem Gebiete. Soweit ift die foziale Wirt-
Ihhaftlichlett heute ja do fchon gefördert, daß angefichts gewiffer Zatfachen der
Kinderausnugung zu gewerblichen Zmeden der Gedanke an die lommenden
Generationen rege wird. 8 tft fehr zu hoffen, daß man fi angefichtS ber
neuen Propaganda für das Kind au mit neuem, nachhaltigen Eifer dem
Wohl und Wehe des gewerblich arbeitenden Kindes, dem Kinde von 6—14
Sahren zuwenden wird. E38 tft nötig, daß nicht nur das Fachinterefie, fondern
das breite Allgemeininterefje ſich Hilfreih Ddiefem Gebiete erſchließt! — Der
Mandel, der fi in der Beurteilung der gewerblichen Arbeit des Kindes feit
einem Jahrhundert vollzogen bat, tft bezeichnend für das Wachstum der Kraft
des fozialen Gefichtspunftes in der Betrachtungsweife des Phänomens de3
Arbeitsverhältnifies. Aber diefe Ummandlung ift eben leider zumeift nur
theoretifch, nur gedanklich erfolgt; darum das Schweigen der intereffierten Streije
und die vielfach) zwedwidrige Handlung.
Die Theoretifer „aud Prinzip” aber mögen fi) bod erinnern, das allein
1918 in Deutfchland 10 546 Fälle der brutalften Kindermikhandlung an bie
Offentlichkeit Tamen. An bie Öffentlichfeit! Wie viele aber blieben nod) ver-
borgen. Bedenten möge man dod) au, daß bei der Kinderarbeit nicht nur
bie gefundheitlihen, fondern gleihermaßen auch die „moralifhen” Werte auf
das Spiel gejebt werden. CS Tommt bei der gewerblichen Arbeit der Kleinen
Gewerbliche Kinderarbeit | 217
do niit nur die Schädigung des Körpers in Betracht, fondern auch die Ab-
nahme der Schuldifziplin, die Lehrmißerfolge. Die ungeftörte Sicherung des
Schulbeſuches ift für unfere Kinder bes Volfes doppelt notwendig, weil fie Ab-
fömmlinge von Arbeitenden find und demzufolge des Crziehungselementes,
das die Schule zu bieten vermag, nicht entraten lönnen. Die Eltern können
ihnen meift feine genügende Erziehung, fei e8 aus Zeitmangel, fei e8 aus Un-
vermögen, zuteil werden lafien. Daß zwiichen fittlicher Schädigung, jugend»
Iiher Kriminalität und der Beichäftigung in gewerblichen Betrieben Zufammen-
Dänge beitehen, ift eine leider nur zu oft erwieſene Tatſache.
Der Abgeordnete Lieblneht hat bei der Beratung bes SYuftizetats im
Srübjahr 1914 im Abgeordnetenhaufe behauptet, die Kriminalität der Yugend-
Iihen babe fi eher verringert als vermehrt. Leider widerfpricht dem die
tm April 1914 erj&ienene Kriminalftatiftit für 1912. Aus ihr geht eine recht
erhebliche Steigerung der Zahl der verurteilten jugendlichen PBerfonen hervor.
&3 find nad) der Statiftit verurteilt wegen: Verbrechen und Vergehen gegen
Reichsgefehe 54902 Perfonen unter 18 Yahren, gegen 50880 im Jahre 1911
und 49647 Perfonen im Yahre 1910. Gegenüber der Gefamtlriminalität ftieg
die der Jugendlichen aud) in bedauernswertem Umfange. Die Gefamtkrimtnalität
ftieg um 5,2 v. 9., die der Yugendliden um 7,3 v. 9. Somit ift aud) der
Anteil der Jugendlichen an der Gefamtkriminalität geftiegen, der in den Jahren
1902—1908 ftet3 um 10 v. 9. geichwanft, im Jahre 1909 auf 9,18 v.9.
zurüdgegangen war. m ahre 1912 ift er auf 9,45 v. 9. geitiegen.
Im Einzelnen verteilen fih die verbrecheriihen Handlungen wie folgt:
den SHauptanieil tragen die Verbrechen und Vergehen gegen das DBermögen.
Hier ftieg die Zahl der Verurteilten im SYahre 1912 von 37745 auf 40769.
Die Handlungen gegen die Perfon fteigerten fi) von 11043 (6511) auf 11883
Fälle. Wegen gefährlicher Körperverlegung find allein 6769 Jugendliche ver-
urteilt. Bedauerlich ftarf war auch der Anteil der Jugendlichen an Sittlichleits-
delikten. Es kommen 1379 Berurteilungen vor, gegen 1141 Verurteilungen im
Jahre 1909.
Alle Triminele Typenforfchung, ebenfo die Erhebungen der Leitung der
Fürforgeerziehung, die Fortbildungsichulftatiitifen, Die Erhebungen der Schul»
bebörben, die Feftftellungen von Schulärzten und Schulihäweftern Iafien ung
tmmer deutlicher erfennen, daß gemwille Verfrüppelungen der Seele, moralijche
Defekte, die zu Sriminalhandlungen ausarten, im Kindesalter ihre Wurzeln
haben. Sie wucern auf in der überanftrengten Sinderfeele, fowohl in ber
unũberwachten, als auch in der, die vor Arbeit und Ausnugung nie Zeit fand
für ein Stinderlachen, ein Kinderfpiel, in der Seele jener, die in den früheften
Jahren in die Sielen eingeftellt, nie Rinder waren.
Es wird fid niemals ermöglichen lafjen, die Tätigkeit unferer Kinder ganz
einzufchränten, denn fie wird immer dort notwendig fein, wo die Not aud) der
Heinften Handreichung nicht entraten fann. 3 werden fi auch immer ndi-
“
218 Salonifi
viduen finden, denen ber erworbene Silberling über ein Sinderleben geht. Die
‚ Ausbeute der Kinderarbeit aber Tann vermieden werden! m utereffe unferer
gefamten Vollsentwidelung jet deshalb heute mehr denn je eine unferer lauteften,
eine unferer nachhaltigften Forderungen: hütet die Kinder, aber nupt fie nit...
Das Ausnuben der Kinderkraft ift ja immer das erjte Mittel, den Nüdgang des
Tamilienverdienftes auszugleihen. Unfere Witwen, die Yamilien, denen der
Ernährer zum Strüppel geichoffen wurde, werden die Kinderarbeit in Anfprud
nehmen; gerade in den unlontrollierbaren Zätigleiten, die auf feinem feiten
Arbeitsverhältnis beruhen, wird die Verwendung der Kinderarbeit erjchredend
fteigen. Der Heimarbeit werden Unfummen von Kindergefundheit zum Dpfer
fallen. Die Erweiterung des Schubes des beftehenden Lebens, der vorhandenen
nationalen Werte an Lörperlider und jeelifcher Gefundheit, ift daher eine der
wichtigſten vollswirtſchaftlichen Gegenwartsaufgaben.
Saloniki
Von Profeſſor Dr. Max J. Wolff
ET 4 reift er an, greift er nicht an?” Seit Wochen beichäftigt fich die
Ad WE feindliche Prefie, befonders die franzöftfhe, mit diefem barmlofen
Ü —*— Rätſelſpiel. Werden die Truppen des Vierbundes auf Saloniki
u ut marjdieren oder weiter an der griechifchen Grenze ftehen bleiben?
Die Antwort wechfelt beftändig: Bald fol der Angriff unmittelbar
bevoritehen, bald ift er angeblich völlig ausgefchloffen. Dft fteht beides in einer
Nummer derfelben Zeitung vereinigt. Auf der eriten Seite tritt der bervor-
ragende Militärkritiler und Oberftleutnant a. ©. den unmiberleglihen Beweis
an, daß ein Angriff aus ftrategifhen Gründen unmöglich fei, auf der lebten
telegrapbiert der Spezialberichterftatter al „Allerneueftes”, daß die feindlichen
Truppen ſich ſchon in Bewegung gefebt haben. Anı nädjften Tag wird das
Spiel in unverminderter Frifhe fortgeführt, nur daß die beiden Sachverftändigen
die Rollen taufhen, daß der militärifhe Mitarbeiter den Angriff bejaht, der
Berichterftatter ihn verneint. „reift er an, greift er nicht an?“
ALS die Frage zum erjtenmal aufgeworfen wurde, gefhah es in ernftejter
Bejorgnis. Die Bulgaren hatten den verbündeten Engländern und Franzofen
eine jchmwere Niederlage am Wardar beigebracht, und diefe drängten, wie immer,
in einem „meifterbaften Nüdzug”, darum aber nicht weniger eilig nach Salonifi
zurüd unter den Schuß ihrer Schiffsfanonen. Die Bulgaren folgten nit. Ob
Saloniki 219
politiſche oder militäriſche Gründe ſie zurückhielten, wird eine ſpätere Zeit lehren.
Unterdeſſen hielten die Verbändler eifrigſt Kriegsrat mit dem Ergebnis, daß
neue Streitkräfte nach Salonili gefchicdt, daß fchmere Gefhühe, Lebensmittel,
Eifenbahbnmwagen und anderer Heeresbedarf in ungeheuren Mengen dorthin ver-
Ihifft wurden. Die größten militärifhen Autoritäten des Verbandes fegten fid)
in Bewegung, Kitchener, Yoffre, Caftelnau eilten in fliegender Haft nad) dem
Drient, um die dortigen Generäle durch weifen Rat zu unterftüben. Die Stadt
wurde mit allen Mitteln moderner Technilt zu einer Feftung ausgebaut, bis
man endlich die tröftliche Gemwißheit zu haben glaubte: Salonili tt uneinnehmbar.
Aber die Bulgaren famen noch immer nit. Mit wütender Kampfbegier lagen
Sranzofen und Engländer in ihren Schügengräben, alle Brüden im neutralen
griehifhen Gebiet Tieß Sarrail in die Luft fprengen, fein feindlicher Soldat
zeigte fih, außer Hoch in den Lüften ab und zu ein deutfcher Flieger. Ber-
gebens bewies die Verbandöprefle in allen ihr zu Gebote ftehenden Sprachen,
daß es Pflicht des Yeindes fei, NH an den Befeitigungen von Saloniki die
Zähne auszubeißen, fein Deutfcher, kein Dfterreicher, fein Bulgare ließ fich bliden.
Nicht einmal die Türken zeigten fih, für deren fiegreihen Cinzug der öfter-
reichifche Generallonful angeblih Thon zweitaufend Halbmondfahnen im Keller
feines Dienftgebäudes aufgefpeichert hatte. Deutfchland und feine Verbündeten
zeigen nicht bie geringfte Eile und berzlich wenig Sinterefle, die Berbändler aus
Salonifi zu vertreiben. Die Stadt befist einen trefflihen Hafen, aber für
Zeute, die ihre Siege auf dem Trodnen erlämpfen, bat der trefflichite Hafen nur
einen bedingten Wert, zumal, wenn er durch eine dibermädhtige Flotte jederzeit
gefperrt werden fanı. Wir haben volles DVerftändnis für die Bedrängnis des
griehifen Volkes und volle Anerlfennung für die Haltung feines Königs, aber
darum können wir ihnen die Sorge, wie fie die unerwünfchten Bäfte loswerden
follen, do nicht abnehmen. Die Frage kann für uns bis zum allgemeinen
Triedensihluß vertagt werden.
England und Frankreich haben zum mindeften eine Viertelmilion Menfchen
in Saloniti feitgelegt.._ Was nübt ihnen aber der Befih der Stadt, wenn fie
nicht angegriffen wird? Man bat doch die Loftipielige Erpedition nicht aus-
gerüftet und Griechenland vergewaltigt, um den Soldaten, die man an anderer
Stelle fo notwendig gebrauchen fann, eine gewiß Iehrreiche, aber zurzeit ziwedlofe
Drientreife zu jpendieren? Die Erkenntnis dämmert unferen Gegnern auf, daB
fie fih in eine verhängnisvolle Sadgafje verrannt haben. Die Engländer haben
von dem Salonilier Unternehmen von Anfang an nichts wifjen wollen, und es
bedurfte eines ernten Drudes durch Briand und Koffre, um fie zur Teilnahme
zu beitimmen; jeßt zeigt fich, daß britifche Kaltblütigfeit die Sachlage Mlarer
beurteilte, als gallifhe Leidenihaft, die in Wut über die Erfolge der Mittel«
mädte auf dem Balkan eine fofortige Gegenaltion im großen Stile verlangte.
Die Scham über die Preisgabe Serbiens mag bei den Sranzofen mitgefprochen
haben, während die Engländer längft gewöhnt find, foldde edle, aber unpral«
220 Salonifi
tifche Gewiffensregungen von ber Rechnung fernzuhalten. Der von der Erregung
eingegebene Plan Tonnte feinen Erfolg haben. In England wird die Aufgabe
von Salonili [don ausgiebig erörtert, in Frankreich wagen das einftweilen nur
die Geifter der ewigen Verneinung wie Clemenceau und Berenger. Die Mehr
beit Hammert fi noch an den Bel der Stadt, allerdings in der Hoffnung,
daß von dort aus eine wirkfame Dffenfive gegen Konftantinopel und Sofia
eröffnet und Serbien zurüderobert werden Iann.
Für einen Angriff reichen aber die Kräfte nicht aus, die allenfalls für die
Verteidigung genügen. Man muß aljo ftil figen, und deshalb follen ja bie
Deutſchen angreifen, um die ganze Zwedlofigleit des Salonikier Unternehmens
zu verdeden. Weder England noch Frankreich ift in der Zage, weitere Truppen
nad dem Dften zu fenden, und eine Dffenfive, die auch nur die geringite Aus-
fit anf Erfolg bietet, würde ungeheure Maffen erfordern. Die Trümmer des
ferbifhen Heeres find viel zu dürftig, und bie Griechen bleiben einftweilen der
Gewalt fo unzugänglic wie vorher Verfprehungen und Drohungen. Rumänien
glaubt, warten zu lönnen und will fi) nicht die Singer verbrennen. Bleiben
bie Staliener. Schon längft macht es die englifche und franzöfiiche Preffe den
Anbängern des heiligen Egoismus Mar, daß fie ihr Leben mehr lieb haben,
als es fi in einem Kampfe für „Recht und Freiheit” geziemt und daß fie bisher
fo gut wie nichts geleiftet haben. %talien befigt angeblich ungeheure Truppen-
referven, die e8 an der befchränkten Nordfront nicht einmal entwideln kann.
Aber England und Franfreih brauchen fe. Wo immer der Vierverband in
ber Klemme faß, ertönte der Auf nad italienifher Hilfe, aus Mazedonien,
Albanien, Montenegro, Serbien und von den PDarbanellen. Nun ift Briand
felber in Rom erfcheinen, um Stalien zu ummerben. Mit fchönen Reden
wird er nicht8 ausrichten, in diefer Hinfiht find die “Staliener zu verwöhnt;
und felbft wenn fie wollten, vermögen fie ein ftarle8 Heer, das von Salontli
aus den Angriff vortragen Tann, nicht zu ftellen.
So bleiben nur zwei Möglichkeiten; entweder man verteidigt die Stabt
beldenmütig weiter gegen einen nicht vorhandenen Yeind oder man ftedt bie
bulgarifde Niederlage ein und zieht wieder nad) Haus. England neigt dem
feßteren zu. Es fühlt fich ftark genug, einen zweiten Rüdzug im Orient und
den damit verbundenen Verluft an Anfehen zu ertragen, Yranfreih dagegen
zittert um feinen Kredit. E83 befindet fild in der Lage eines Kaufmanns, ber,
je rafder er feine eigenen Mittel fehwinden fieht, um fo eifriger alles vermeiden
muß, was Zweifel an feiner Zahlungsfähiglett erweden könnte. in neuer
Rückzug würde aber das Anfehen der Republit aufs Schwerfte gefährden, im
Inland fomohl wie im Ausland. Yede Hoffnung auf den Beiltand Griedhen-
lands, Rumäniens und Portugals, das neuerdings wieder in Betradht fommt,
wäre endgültig zerftört, und nicht nur das, fondern auch einzelne der bisherigen
Bundesgenofjen würden das finfende Schiff vielleicht verlaffen. Die leitenden
PVerfönlichleiten haben der gefamten Welt verkündet, daß der Sieg Tranfreid)
Salonifi 221
nicht entriſſen werden lönne, und Caſtelnau hat ſogar hinzugefügt, er ſei mathe-
matiſch ficher. Der beſte Mathematiker kann ſich verrechnen, aber wenn ſich die
Rechenfehler ſo häufen wie die franzöfiſchen auf dem Balkan, ſo laſſen ſich die
Zweifel an der Fähigkeit der Rechenkünſtler allmählich nicht mehr unterdrücken.
England kann das Märchen noch aufrecht erhalten, daß es ſich um Fehler
handle, die ſich nicht wiederholen werden, die Unfähigkeit und Erſchöpfung
Frankreichs läßt fich nach einem nochmaligen Mißerfolg nicht mehr beſchönigen.
Der Zug nad Salonili ift das eigenſte Werk Briands; es galt als ein
beſonderer Triumph des Miniſterpräſidenten und ſeines Landes, daß die wider⸗
ſtrebenden Engländer ſich zu ſeinem Standpunkt bekehrten. In willfährigen
italieniſchen Blättern ließ man es ſich beſcheinigen, daß Frankreich die ihm nach
ſeinen Leiſtungen gebührende Führerſchaft im Verband übernommen habe. Die
Enttäuſchung wäre ungeheuer, wenn Briands Ruhm ſich als leerer Schaum er⸗
weiſen würde. Sein Miniſterium könnte den Rückzug von Saloniki nicht über—⸗
leben, aber auch der vielgefeierte Joffre und der mit ſo großen Hoffnungen
begrüßte Caſtelnau würden aus dem Abenteuer zum mindeſten mit einer ſchweren
Schädigung ihres Feldherrurufes hervorgehen. Einen Erſatz beſitzt Frankreich
nicht, weder einen Staatsmann noch einen neuen Heerführer, an denen die ge—⸗
täuſchten Hoffnungen ſich aufrichten könnten. Ein Miniſterium Clemenceau,
ſchrieb vor kurzem eine Pariſer Zeitung, wäre nicht nur der Anfang vom Ende,
ſondern das Ende ſelbſt. Aus politiſchen Gründen muß Frankreich Saloniki
halten und dort ein Heer untätig feſtlegen, während in der Champagne der
letzte Mann gebraucht wird. Damit es ſo ausſieht, als ob etwas geſchehe,
ſpielt General Sarrail im Oſten den wilden Mann, brutalifiert die Griechen,
verhaftet harmloſe Konſuln und ſprengt alle Brücken in die Luft. Es hat keinen
Zweck, aber es macht zu Hauſe den Eindruck, als ob Saloniki von äußerſter
Wichtigkeit ſei und nur durch ein Aufgebot verzweifelter Energie gehalten werden
könne. Es bietet neuen Stoff für das bewährte Rätſelſpiel: „Greift er an,
greift er nicht an?“
— — — >
em — —— — —— nn mm
Großfürſt Georg Michailowitſch in Japan
(Tach der ruffifchen Preffe.)
elbung des Korreipondenten der Petersburger Telegraphen-Agentur
aus Tokio vom 29. Dezember 1915 (Rußloje Slovo vom 31. De
1 zember n. St.):
Die Zeitung „Kolumin“ bringt einen Artikel ihres Begründers
Tofutont: „Der VBefud) des Großfürften hat natürlich Teinerlei
politifde Bedeutung” — die guten Beziehungen zwifhen Japan
und Rußland entiheidender Faltor für den fernen Dften.
„Nußloje SIovo“ vom 4. Januar 1916 n. St.:
Tolto, 3. Januar 1916. Befuch des Großfürften trägt nicht
Charakter militärifcher oder fonftiger Miffion, lediglich Erwiderung bes
Befuchs des Prinzen Fuſhima zu den Zaren-Strönungsfeierlichkeiten.
„Rowoje Wremja” vom 11. Januar 1916 n. St.:
Tolio, 10. Januar 1916. (Korrefpondent der Pet. Tel. Ag.)
Dfuma erflärt, die Reife des Großfürften müffe die freundfchaftlichen
Beziehungen zwifhen Rußland und Yapan nod) mehr feitigen.
„Rowoje Wremja” vom 13. Januar 1916 n. 6t.:
Tokio, 12. Januar 1916 n.&t.: DerKorrefpondent der Bet. Tel. Ag.
meldet: Die Preffe aller Schattierungen begrüßt einmütig den
Großfürften.
„DRdN“ erklärt u. a.: Aapan, das nicht imftande fein wird,
Truppen gegen Deutfchland zu entjenden, erweift Rußland auf andere
Art und Weife Hilfe.
Der Dffiziofus „Ehozi“ erflärt: Für die Japaner fei der geeignete
Moment gelommen, ihre innerlihen Wünfche auszufpredhen. Die Reile
bes Großfürften nad) Japan werde ald Grundlage dienen für die
Teltigung des Bandes zwifhen Japan und Rußland.
Das Blatt „Yomiuri” fchließt feinen Begrüßungsartitel: Wir
boffen, daß Seine Kaiferlicde Hoheit nicht verfehlen wird, feinen Einfluß
für eine noch größere Feitigung der Freundfchaft zwifchen den beiden
Nahbarnationen auszunügen.
„Rowoje Wremja* vom 1./14. Januar 1916:
Tofio, 12. Januar 1916. (Meldung der Pet. Tel. Ag.) Auf
dem Paradediner im Schloß mwecdjlelten der Großfürft und der Mifado
zoaite; die Worte des Großfürften find in dem Agentur-Telegramm
wiedergegeben, die Worte des Milado hingegen find in den
ruffifhen Blättern nicht enthalten.
zolio, 13. Januar 1916. Bet der Rüdtehr des Bremiers Dfuma
von dem Paradediner im Schloß wurde ein Bombenattentat auf
Großfürft Beorg Michailowitfch in Japan 293
— — — — >
ihn verübt. Der Attentäter warf eine Bombe, die aber am Automobil,
in dem fich Okuma befand, vorbeifiel, ohne zu explodieren. Die zweite
Bombe explodierte, als das Auto längſt vorüber war. Der Attentäter
iſt entlommen.
„Dirfhemija Wijedomofti” vom 2./15. Januar 1916:
Zolio, 13. Januar 1916. (Tel. der Pet. Tel. Ag.) Die japanijche
Brefie fährt fort, der Reife des Großfürften angeftrengte Aufmerkfamteit
zu widmen. „Yamato“ erflärt: Rußland und Japan fteht bevor, eine
neue Richtung in ihrer Politif einzufchlagen, welche die fattiich zwifchen
beiden Ländern bereits beftehenden Bündnisbeziehungen feftigen
foll. Auf die verfhiedenen im Zufammenbang mit der Großfürften-
reife aufgetauchten Fragen eingehend, meint die Zeitung: E38 liegt
feine Zeranlafiung vor, die Großfürftenreife dur) Entfeeidung Heiner
Fragen zu fomplizieren; die Gefelihaft darf der japanifden Diplomatie
leinen Vorwurf machen, wenn fie den jebigen Moment nicht ausnügt
für die Erlangung von Vorteilen jeitens Rußlands, denn ein derartiges
Gebahren der japanifhen Diplomatie könnte der japanifchruffifchen
Freundſchaft nur ſchaden.
Tokio, 1./14. Januar 1916. (Pet. Tel. Ag.) Die Preſſe ver⸗
urteilt einſtimmig die Tat des Wahnwitzigen gegen den Premier und
ſpricht ihr Bedauern aus, daß dieſer Vorfall den Aufenthalt des teuren
Gaſtes in Japan verdüſtern könne.
„Yomiro“ druckt ein Interview mit dem Premier ab, in welchem
es heißt: Das japaniſche Volk muß dem Großfürſten einen möglichſt
freundlichen Empfang bereiten und darf die Großfürſtenreiſe nicht als
Anlaß benutzen, irgendwelche Vorteile in Geſtalt von Kompen⸗
ſationen für die Unterſtützung Rußlands in dieſem Kriege zu erwarten.
„Rußkoje Slovo“ vom 3./16. Januar 1916;
Tokio, 2./15. Januar 1816. (Pet. Tel. Ag.) Der Aitentäter
iſt verhaftet; gerũchtweiſe verlautet, daß die Fühlung des Attentäters
mit einer der Oppofitionsparteien feſtgeſtellt ſei.
Außer den oben angegebenen Agenturtelegrammen, die in den ruſſiſchen
Blaͤttern mit gleichlautendem Text erſchienen ſind, liegen weitere Korreſpondenten⸗
telegramme über die Großfürftenreife nicht vor.
Zeitartifel über die Großfürftenreife find in den ruffiihen Blättern gleich⸗
jſalls nicht erſchienen.
Die „Birſhewija Wjedomoſti“ bemerlen kurz: Für den Abſchluß eines feſten
Vvuündniſſes zwiſchen Rußland und Japan ſetze ſich auch die führende japaniſche
preſſe ein.
„Die geſunde Politik, der gute Wille und das offene Belenntnis der gegen⸗
ſeitigen Intereſſiertheit, — dieſe Elemente ſind genügend für die Verwirklichung
jener Ziele, die jetzt auch von japaniſchen politiſchen Kreiſen ſo heiß unterſtützt
224 Großfürft Georg Midailowitfh in Japan
werden. Wünfchen wir, daß die Verwirklihung nicht mehr Iange auf fid
warten läßt”. (Birfd. Wi. vom 3./16. Januar 1916).
Die „Nomoje Wremja“ fchreibt zur Großfürftenreife: „Der Gedanten-
austaufch zwilchen dem zarifhen Abgefandten und dem japanifhen Monarchen
fand auf einem befonderen ‘Paradediner ftatt. Infolge einer ärgerlichen Ver
zögerung bes Zelegraphen find die Worte des Milado bis jet noch nicht zur
Kenntnis der ruffifhen Allgemeinheit gelangt. Aber wir täufchen uns nicht,
wenn wir der Überzeugung Ausdrud verleihen, daß fie fich in völliger Überein-
jtimmung mit den Erklärungen des zarifhen Abgefandten befinden“.
Das Blatt fehließt feine Ausführungen mit den Worten: „Der Großfürft
endete feine Rede mit der Verficherung, daß die gewichtigen Dienfte, die Japan
Rußland erwiefen babe, bei der ruffiichen Regierung Gefühle tiefer Anerkennung
hervorrufen und in der fernereıt Gejchichte der freundfchaftlichen Beziehungen
zwilhen Rußland und Japan nicht fpurlos bleiben werben.
Wir fügen dem no hinzu, daß die Gefühle der Regierung in biefem
Yalle von der ruffiihen Gefelfhhaft und dem ruffifhen Volle alljeitig geteilt
werden”. (Nom. Wr. 3./16. Januar).
Die „NRetih“ ftreift den Bejuchh des Großfürften nach Japan in ihrer
MWocenüberfiht mit einigen kurzen Worten.
„Die ruſſiſche Geſellſchaft“ — heißt es dort — „verfolgt mit unzweifel-
hafter Sympathie die Erfolge in der Annäherung der beiden Länder, die, nach
ehrlicher Beilegung der ſie trennenden Streitfragen, den gemeinſchaftlichen Boden
für ein enges, tätiges Zuſammenarbeiten gefunden haben. Man kann nur ein⸗
ſehen, daß, ſo lange der Krieg währt und Rußland von ſeinen europäiſchen
Angelegenheiten und jenen im nahen Oſten gänzlich in Anſpruch genommen iſt,
die ruſſiſch japaniſchen Beziehungen ſich etwas einſeitig entwickeln werden. Die
richtige Prüfung für die ruſſiſch-japaniſche Freundſchaft wird erſt nad Be-
endigung des Krieges kommen“. (Retſch 4./17. Januar 1916).
Aus allen dieſen Stimmen klingt der ruſſiſche Wunſch nach Feſtergeſtaltung
der Beziehungen mit Japan, aber auch das Eingeſtändnis der Erfolgloſigkeit
der ruſfiſchen Bemühungen heraus. Das Attentat auf den Großfürſten, denn
gegen dieſen war es in Wirklichkeit gerichtet, zeigt, daß die öffentliche Meinung
in Japan in bezug auf die Beziehungen des Landes zu der Entente keineswegs
einheitlich iſt.
Allen Manufkripten iſt Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rädfendung
nicht verbürgt werden lann.
Rabdrud fäntlicher Auffäge nur mit ansprüdficher Erlaubnis bes Werlagd geftattet.
Berantwortlih: ber Herausgeber Georg Gleinom in Berlin Lichterfelde Wet. — Manuffriptiendungen und
Briete werden erbeten unter der Abrefle:
Un den Herandgeber der Grenzboten in Berlin - Lichterfelde Welt, Eternftrabe 56.
Bernipredder bes Herausgebers: Amt Lichterfelde 498, des Berlags und der Gchriflleitung: Amt Lügomw 6510.
Berlag: Verlag ber Brenzboten ©. m. b. 9. in Berlin SW 11, Xempelbofer Ufer 85a
Dınl: „Der Neichsbote" ®. m. 5. &. in Berlin SW 11, Defiauer Straße 86/87.
Das Nationalitätsprinzip und der Hrieg
Don Profefior Dr. Conrad Bornhaf
RN a" größter Willfür hatten vor hundert Jahren NeichSdeputations-
REN wa hauptihluß, Napoleon und Wiener Kongreß Länder und Völker
zu Wi Durcheinander geworfen. Gefchichtlicher und nationaler Zufammen-
— bang ſpielten keine Rolle. In einigen Gegenden hatten bis zum
a Wiener Kongreile ganz nad) des Korjen Willfür die Bewohner
alle paar Jahre den Herren gewechſelt. Erit der Wiener Kongreß brachte
wieder einen dauernden Zuftand, an deffen Dauer zunädhjft nur wenige glaubten.
Dieſer ſchwache Glaube rührte freilich im mefentlichen daher, weil die Schöpfungen
des Wiener Kongrefjeg mande Regierungen wenig, die Völker gar nicht be-
friedigten.. An den verjchiedeniten Eden züngelte die Revolution empor und
fonnte durch die hohe Polizei der Heiligen Alliance nur mühfam unterdrückt
mwerden, bi8 auch diefe gegenüber der “Sulirevolution von 1830 verjagte.
Die Befreiung von der Napoleoniihen Gewaltherrichaft erfchien den Völkern
bald nicht mehr als Erlöjung, weil ihre nationalen Wünjche nicht befriedigt
waren. In Stalien fjehnte man geradezu aus diefem Grunde die Zeiten
Napoleons zurüd. Gegenüber der Wiederherftellung der feit AlterS beftehenden
Gemwalten dur das vom Miener Kongrefje aufgeftellte Legitimitätsprinzip
erbob fich jebt als neues Prinzip der Zukunft das der Nationalität. Un-
befümmert um die alten legitimen Gemalten follte jedes Bolt im ethnifch-Tpracdh-
lihen Sinne aud) einen Staat für fich bilden, follten die in verfhiedene Staaten
zerteilten oder unter fremder Herrichaft ftehenden Zeile eines Volles zur ftaat-
lichen Einheit gelangen. |
Man bat in Napoleon dem Erften den Schöpfer des Nationalitätsprinzips
ſehen wollen. Geltfamer Gedanke, er, der nach Zaunen die Länder und Völfer
immer von neuem durcheinander warf, war von dem Gedanken des Nationalitäts-
prinzips ganz unberührt. Selbit Frankreich war ihm nicht Nationalftaat, jondern
nur die Grundlage einer Univerfalmonardhie, die alles nationale Leben erjtidte.
Grenzboten I 1916 15
e®
226 Das XHationalitätsprinzip und der Krieg
Und do tit das Nationalitätsprinzip auf niemand anders zurüdzuführen als
auf Napoleon den Erften. Er war nur ein Schöpfer wider Willen. Gr lehrte
die unterdrüdten und gepeinigten Völfer fi aus dem Weltbürgertum des adj
zehnten FahrhundertS auf ihre Nationalität zu befinnen, er lehrte feindliche,
Nachbarn der bisherigen Zwergftanten fi) in größeren StaatSweien zu gemein-
famer Arbeit zufammenzufinden. So gebt das Nationalitätsprinzip allerdings
auf Napoleon den Erften zurüd.
Aufgabe der Heiligen Alliance wurde es nun, ben dur) den Wiener
Kongreß bergeftellten Zuftand der Iegitimen Gewalten gegen Angriffe der Re-
volution zu verteidigen.
Die lebendige Verlörperung ber Heiligen Alliance, obgleich nicht ihr Schöpfer,
wurde nın Metternid. Die Erhaltung des in den günftigiten geographifcen
Grenzen wieberhergeftellten öſterreichiſchen Kaiſerſtaates war die Aufgabe des
Metternichichen Syftems. Diefe Aufgabe konnte bei dem Völfergemifch Ofterreihs
nur erfüllt werden, wenn die Nationalitäten Öfterreihs nicht aufeinander 108-
fchlugen. Das war nur möglich in einem abfolut regierten Dfterreih. Die
Tonftitutionelle Bewegung in Deutichland und alten mußte alfo derart unter-
bunden werden, daß fle nicht auf Ofterreich übergriff und im Konftitutionalismus
die Nationalitäten ftärttee So wendet fi) das Metternihihe Syiten gleid-
mäßig gegen Konftitutionalismus und NationalitätSprinzip.
Dadurch fanden fi aber die urfprünglih getrennten Richtungen des
Konftituttionalismus und des Nationalitätsprinzips zufammen. In Deutichland
wie in Stalien wurde die nationale Einheit eine liberale Forderung und wurde
zuerft vom Liberalismus gegen abfolutiftiihe umd altitändifche Strömungen ver-
treten. Die Lonftitutionelle Bewegung Staliens vor 1820 bewegte fi) nod
durchaus auf partilulariftiihem Boden, fie war eine befondere in Sizilien, in
Neapel, in Piemont. hre Unterbrüdung durd Dfterreich zeigte, daß man nur
auf einer breiteren nationalen Grundlage zum Ziele gelangen Tönne. wie
neuen Berfafjungen im Südmeften Deutfchlands zogen geradezu in den will.
fürlihen Bildungen der Rheinbundszeit ein partilulare® Staatsgefühl heran.
Doh die Bevormundung des Bundestages unter Metternich Leitung führte
ben fübdeutfchen Partitularismus zu der neuen Formel: „Dur Einheit zur
Freiheit”.
Die Bewegung des Jahres 1848 ift daher in Deutihland wie in Stalien
bereit8 vom Nationalitätsprinzipe beberrfht, ohne dody den Beitand der Einzel-
ftaaten bejeitigen zu wollen. Am zielbewußteften fommt das in dem Werke der
Paulsfirde zum Ausdrude, deren Berfammlung e8 leider nicht verftand, ben
Anihluß an den einzigen Madhtfaktor deutfchen Lebens, den preußifchen Staat,
zu finden. In der italienifchen Revolution von 1848 überwiegt nod) bie
liberal-konftitutionelle Richtung auf dem Boden des Ginzelftantes, wenn aud)
bie Vertreibung ber fterreicher aus Lombarbo-Venetien und beffen Bereinigung
mit dem Königreiche Sardinien als erite Vorausfegung der Freiheit galt. Aber
Das Nationalitätsprinzip und der Krieg 2327
national wagte man über einen loderen Staatenbund der ae Staalen
unter dem Borfige des Papftes nicht binauszudenken.
Sn zielbemußter Wetfe hat erft Napoleon der Dritte das Nationalitäts⸗
prinzip zum leitenden Grundſatze ſeiner auswärtigen Politik gemacht trotz der
Warnungen Thiers, daß die Einigung Deutſchlands die weitere Folge der
italieniſchen Einheit ſein werde. Selbſtverſtändlich erwärmte ſich das Oberhaupt
des fitreng geſchloſſenen franzöſiſchen Nationalſtaates nicht uneigennützig für
fremde Nationalitäten, um auch ihnen den Segen nationaler Einheit zu bringen,
den Frankreich ſchon lange ſeit ſeinen alten Königen beſaß. Das Nationalitäts⸗
prinzip war ihm nur das Mittel, um ſterreichs Herrſchaft in Italien aus den
Angeln zu deben und die Frankreihs, geftüht auf ein fardinifch-fubalpinifches
Königreih, an die Stelle zu feben. An die italienifhe Einheit dachte er mit
nichten. Dann wuh3 ihm aber die Bewegung über den Kopf, und er hatte
die ganze Übrige Zeit feiner Negierung damit zu tun, wenigftens Dämme zu
ziehen, um die Nefte des Kirchenftaates zu retten, deffen Untergang ihm bie
für feine innere Bolitif jo notwendigen franzöfifchen Ultrtamontanen nie verziehen
hätten. Gleichzeitig hatte fi) aber der franzöftiche Kaifer durch feine Vertretung
des Nationalitätsprinzips Deutichland gegenüber in gewiffen Sinne die Hände
gebunden, wie das Thierd ganz richtig vorausgefagt hatte. Daß er daneben
im Prager Frieden dem Nationalitätsprinzip gemäß auf Rüdabtretung der
vorwiegend dbänifchen Teile Nord-Schleswigs an Dänemarf nad einem Fünftigen
PVlebiszite drang, war gegenüber der gewaltigen EinheitSbemegung Deutichlands
ein unfchuldiges politifches Spiel. Im der Tat [cheiterte Napoleons des Dritten
auswärtige Bolitit daran, daB er die Geifter, die er gerufen, nicht wieder 108
wurde. Und das Fonnte ihm niemand weniger verzeihen als das franzöfiiche Volt.
Obgleich Napoleon der Dritte al$ erfter unter den Negierenden fi auf
das Nationalitätsprinzip berief, hat fich die Einigung Staliens und Deutfchlands
nicht mit ihm, fondern gegen ihn vollzogen. yn den beiden EinheitSbewegungen
fand das Nationalitätsprinzip feine freilich nicht reftlofe Verwirklichung.
Doch ſchon hatte der neue Grundfa angefangen, in dem zerbrödelnden
türfifhen Reiche id auf die Balkanhalbinfel zu verpflanzen zur Befreiung der
Hellenen, Rumänen und Slawen von türfifher Fremdberrfchaft. Auch bier
bediente fi wieder eine europäifhe Großmadt des Nationalitätsprinzips als
Hebels ihrer auswärtigen Politit, Außland. Eigentümlicher Widerſpruch der
Dinge. Diefelbe Macht, die Polen vernichtet und des lekten Refte8 von Selb-
ftändigleit entlleidet hatte, die die Ufrainer nur als Beltandteil des ruffiichen
Volles Tannte, fühlte fich berufen, den Balfanvölfern die Freiheit zu bringen.
Und das lebte Ziel der ruffifhen Ballanpolitif, der Erwerb SKonjtantinopels
und der Meerengen, wo Feine Ruffen noch überhaupt Slawen wohnten, für
Rußland, ſchlug doch dem Nationalitätsprinzip geradezu ins Gefidt. Hier
wurde das Nationalitätsprinzip zur Umlleidung des Widerjprudes mit emem
neuen Einfchlage verjehen, e8 tt die Idee des Banflamismus und der Drthoborie.
15*
228 Das Nationalitätsprinzip und der Krieg
Der Panflamismus rechtfertigt die Einverleibung der Ulrainer und Polens in
Aukland und gibt dem ruffifden Zaren die Schubherrfaft über die Ballan-
llawen. Und wo, wie gegenüber Griehen und Rumänen, der Banflawismus
nicht ausreicht, muß die Glaubensgemeinfchaft der DOrthodorie nachhelfen.
Unter diefer Devife begann mit NRuplands Segen der erjte Ballanfrieg
zur Befreiung der Ballanvölfer von türkifher Herrfhaft. Nur die legte Frucht
zu pflücden, die Türken aus SKonftantinopel zu verjagen, hatte Rukland fi
felbft vorbehalten. Freilih war auch bier das Nationalitätsprinzip nicht Selbit-
zwed, Rußland teilte da8 Schidjal Napoleons des Dritten, es mußte bald ein-
dbämmend wirkten. Bulgarien als mächtiger Slawenftaat vor den XQoren
RonftantinopelE wäre der befte Schu der Türkei gegen Rußland gewefen.
Bulgarien mußte alfo auf Koften des Nationalitätsprinzips möglichſt geſchwächt
werden. So begann der zweite Ballanfrieg der bisherigen Verbündeten gegen
Bulgarien. Freilih eine reinlihe Scheidung nad) der Bolls- oder Sprad)
grenze ift in dem Bölfergewirr der Ballanhalbinfel ein Ding der Unmög-
lichkeit. Aber daß die große Mafje der maledonijen Bulgaren an Serbien
überantwortet wurde, lag einzig daran, daß biefes ber willfähigere ruffijche
Bafall war.
Doh der Ballanbund follte in dem erjten Ballankriege gegen die Türe
nur die Probe beitehen. ALS Hauptaufgabe für fpäter war ihm im Bunde
mit Rußland die Zertrümmerung bes Nationalitätenftantes Dfterreich geftellt —
wiederum im Namen des Nationalitätsprinzips. Nur fehade, daß durch den
zweiten Ballanfrieg gegen Bulgarien das Werkzeug zerbrodhen war, ehe man
es zu feinem SHauptzwede gebrauchen konnte, und alle Berjuche, eg wieder zu-
fammenzuleimen, an der bulgarifch-jerbifhen Feindfchaft feheiterten.. So mußte
man fi denn mit Serben und Diontenegrinern allein begnügen und daneben
auf andere mächtige Bundesgenofjen verlaffen.
Der Weltkrieg begann auf der ganzen Linie mit dem Programm des
Nattonalitätsprinzips der Befreiung der Meinen unterdrüdten Völler.
Am beiten hätte man bdiefe Aufgabe im eigenen Haufe erfüllen Tönnen,
ohne dazu des Krieges zu bedürfen. rland, Indien und die Buren boten für
England, Finnland, Polen und Ukraine für Rupland, Matebonien für Serbien
reichliche Gelegenheit. Doch auch bier galt das Wort: der brave Mann denit
an ſich ſelbſt zuletzt.
Rußland wollte gegen Deutſchland und Äſterreich das Nationalitätsprinzip
zur Geltung bringen. Zu dem Zwecke war die Wiederherſtellung Polens unter
ruſfiſcher Leitung ins Auge gefaßt. Daraufhin konnte man die halbpolniſchen
Landesteile Preußens und Weſtgalizien beanſpruchen, während Oſtgalizien als
von Ruthenen bewohnt unmittelbar für Rußland beſtimmt war. Auch hier
mußte der Banflawismus wieder dazu herhalten, das Unzureichende des Nationali-
tätSprinzipe8 zu verdeden. Die Ulrainer gab man für NRuffen aus, und bie
Polen waren Slawen. So Tonnte man beider Gebiet beanfpruchen. Dap in
Das XHationalitätsprinzip und der Krieg 2929
den Dftprovinzen Preußens auch no Millionen von Deutfhen wohnten, tat
nichts zur Sache.
Ym Süden follte Ofterreich gleichfal8 im Antereffe der Befreiung der Völker
zerftücelt werden. Die von Serben, Kroaten, ja aud) bie von Slomenen be-
wohnten Gebiete waren für das große Serbenreich unter „Peter dem Mächtigen“
beftimmt. Gewiß find Kroaten und Serben ein Boll, aber durch Religion und
Schriftzeichen voneinander getrennt und bi8 auf die neuefte Zeit aufs Bitterfte
verfeindet. Erft der gemeinfame Gegenfat gegen die Magyaren hatte neuerdings
die Feindichaft etwas gemildert. Niemals aber hätten filh die römifch-fatholtichen
Kroaten von den Serben beherrfchen Iafjen, auf die fie tief herabfehen. Die
Slowenen vollends find ein jelbjtändiges, von ben Serbofraten ganz ver-
ſchiedenes Voll.
Den Rumänen war, entſprechendes Wohlverhalten vorausgeſetzt, das
natürlich nur durch Beteiligung am Kriege im Bunde mit Rußland bewieſen
werben konnte, das vorwiegend von Rumänen, aber doch auch von Sachſen
und maqyariſchen Szeklern bewohnte Siebenbürgen zugedacht. Über die Bukowina,
die Rußland, und den Banat, den Serbien beanſpruchte, kam man nicht ins
Reine, ſo lange man über das Bündnis verhandelte. Für Siebenbürgen hätte
aber Rumänien die Moldau bis zum Sereth mit der Hauptſtadt Jaſſy und die
Dobrudſcha an Rußland, das ſich darüber bereits mit England verſtändigt hatte,
abtreten müſſen und wäre damit vom Meere abgeſchnitten worden. Und in
dieſen rumaͤniſchen Gebieten, die Rußland für ſich beanſpruchte, mögen nun alle
möglichen Völkerſtämme wohnen, Ruſſen fehlen darin ganz gewiß gänzlich.
Und endlich kamen im Namen des heiligen Egoismus auch die Italiener
und forderten kraft des Nationaltätésprinzips von Äſterreich die zur Vollendung
der nationalen Einheit erforderlichen noch unerlöſten Gebiete. Dieſe Stellung⸗
nahme Italiens gegen den bisherigen Bundesgenoſſen war ziemlich einſeitig.
Denn weshalb hätte man das Erlöſungswerl nicht ebenſo gut in Nizza, Korfika
und Malta beginnen können? Aber auch ſterreich gegenüber gingen die
italienifchen Forderungen weit über das Nationalitätsprinzip hinaus. Bon der
Grenze al Brennero ganz zu fehweigen hatte doch bei den amtlichen Ver-
handlungen das italienifhde Miniftertum die Unverfrorenheit, in Zirol bie
Grenzen des italtenifchen Königreich Napoleons des Erften von 1811, alfo damit
die urbeutfdde Stadt Bozen zu fordern. Mit der italieniihen Beilgergreifung
des Dodelanes im grieifchen Archipel und der albanijhen Stadt VBalona war
Ofterreich fogar einverftanden, indem e3 gleichzeitig fein Desinterefjement an
Albanien zu erflären bereit war. Mit der Befreiung der unerlöften italienifchen
Gebiete Traft des Nationalitätsprinzips fingen die ttalienifchen Forderungen an,
um fehr bald zu der Forderung der natürlichen Grenzen überzugehen, biefe
lagen nad ttaltenifcher Anfiht im Norden am Brenner, wa$ nod) geographijch
begreiflich if. Weshalb aber gerade in Albanien und im griehifchen Archipel,
vermag man nicht annähernd zu ahnen. Die Fraft des Nationalitätsprinzips
J
230 Das Xationalitätsprinzip und der Krieg
erhobenen italienifChen Forderungen hätten bei ihrer Verwirklihung zu der
ungeheuerlichften Vergewaltigung fremder Nationalitäten, von Deutfchen, Serben,
Albanefen und Griechen geführt.
Dog Elfah-Lothringen Traft des Nationalitätsprinzips als Siegespreis zu
Stankreich zurüdkehren müffe, war felbftverftändlid. Da die gemaltfame 2o8-
reißung durch den Frankfurter Frieden null und nichtig war, gehörte e8 eigentlich
fon dazu. Ohne weiteres erflärte daher Joffre vor dem Nathaufe zu Mül-
haufen die Wiedervereinigung mit Franfreih. Nicht einmal eine Bollsabftimmung,
auf die man do fonft franzöfifcherfeits fo viel Wert gelegt hatte, follte ftatt
finden. Dabei vergaß man ganz, daß das Reiseland nur zu einem Zehntel
von Bewohnern franzöfifden Spradjftammes namentlih an der Lothringiichen
Grenze bewohnt ift. Für die übrigen neun Zehntel Deutfche, Allemannen und
Franken, etwa anderthalb Millionen an Zahl, hätte die Vereinigung Elfak-
Kothringens mit Frankreih um ber paar hunderttaufend Yranzofen willen wieder
eine ungebeuerlihe Vergewaltigung des NRationalitätsprinzips bedeutet.
Und damit auch hier das Satyrfpiel nicht fehle, war unter den Tünftigen
Sriedensbedingungen die Neutralifterung des Norboftfeelanals und die Rüdgabe
des nörbli davon gelegenen Gebietes an Dänemark in Ausfiht genommen.
Man dachte fi augenfcheinlih ganz Schleswig und Norber-Dithmarfchen als
von Dänen bewohnt.
Wenn fhließlih England zum Schube Belgien! oder, wie man fpäter ver-
allgemeinernd fagte, zum Schute der Heinen Nationen überhaupt den Krieg
erflärte, fo fpielt auch bier das Nationalitätsprinzip hineln. Babei überjah
man wieder, daß es vom Standpunlte des Nationalitätsprinzips ein belgifches
Volk nie gegeben hat, ja der Beitand des belgiihen Staates von feinem Anfange
bi8 zu feinem Untergange ein Widerfpruch in fich felbft war.
Außer dem erften Ballankriege tft noch niemals ein Sieg fo zielbewußt
von allen Seiten im Namen des Nationalitätsprinzipg begonnen worben. War
doch eine der beiden Großmächte, gegen die er fi) von Anfang richtete, Dfterreich
als Nationalitätenftaat bei Durchführung des Nationalitätsprinzipes von felbit
geliefert. Andererjeits ift überall erfennbar, wie das Nationalitätsprinzip nur
den Vorwand bildet. Die Durchführung der von Rußland, England, Frankreid),
Ftalien und ihren kleineren Verbündeten geftedten Kriegsztele hätte überall die
Dergemwaltigung fremder Nationalitäten bedeutet.
Damit fcheint aber das Rationalitätsprinzip den Höhepunft feiner ge
fchichtliden Miffton überfehritten zu haben.
&3 Tiegt im Wefen jedes deals, daß es fi in der Welt der Wirklichkeit
nicht rein durchfegt, Tondern mit Widerftänden zu Tämpfen bat, fih an ihnen
abjchleift und mit ihnen Kompromifje fchließt. So hat eS in der neueren
Geihichte auch noch) nie einen Staat gegeben, der dem “Ydeale des Nationalitäts-
prinzips voll entiprochen hätte, daS ganze Volk im ethnifhen oder fprachlichen
Sinne und nur biefes Boll in einer ftaatlihen Gemeinfhaft zu vereinigen.
Das Nationalitätsprinzip und der Krieg 981
Doh ein Staat ftand dem Ydeale näher, ein anderer ferner, am fernften die
Nationalitätenftaaten, wie Dfterreih, die Schweiz und Belgien, und das Völfer-
haoS von Kolonialreihen wie bie Vereinigten Staaten.
Gleichwohl Hat filh das Nationalitätsprinzip da, wo nationale Staaten
no& nicht aus der gefhichtlicden Entwidlung im Beginne der Neuzeit bervor-
gegangen waren, al8 gewaltige ftaatSbildende Kraft bewährt in der Einigungs-
bewegung taltens und Deutfchlands und in der Befreiung der Ballanitaaten.
Gerade in diefer Kraft lag aber die Gefahr des Mikbrauds als Mittel für
Dläne einer ehrgeizigen auswärtigen Boliti. &benfo wie einft Napoleon der
Dritte hat au) der Vierverband mit dem Nationalitätprinztp fpeluliert und
bat fich verfpefuliert. Der Mikbraud) lag darin, daß das Nationalitätsprinzip
nur al Vorwand diente, und der Sieg bes PVierverbandes gerade zu einer
Bergewaltigung besfelben Prinzips geführt hätte, in deflen Namen man zu
Felde 309.
Der deutſche Yriede wird vorausfichtlih nicht unter dem Zeichen des
Rotionalitätsprinzipes ftehen. Denn er fol nicht auf trügerifchen Borfpiegelungen
beruben.
Die Nattonalitätenftaaten Öfterreih und die Türkei ftehen durch den Krieg
fefter denn je. Ihre Zerjtüdelung ift ein ausfidhtSlofes Beginnen.
Das deutfhe Kriegsziel ift allein der Sicherungszmed für die Zulunft.
„Wir müflen uns alle nur möglichen Garantien und Sicherheit dafür fchaffen
und erlämpfen, daß feiner unferer Feinde, nicht vereinzelt, nicht vereint, wieder
einen Waffengang wagen wird” — erflärte der Neichslanzler in feiner Rede
vom 28. Mat 1915. Wenn bdiefer Zwed an einzelnen Stellen wie tm Balten-
Iande und im Blamland dur das Nationalitätsprinzip unterftügt wird, fo ift
das natürlih an ich fehr erfreulihd. Aber der einzige Zwed ift die Tünftige
Sicherung.
Es iſt aber eine alte Erfahrung, daß das, was in Europa dermalen außer
Gebrauch gekommen iſt, Ausfuhrware wird. So kann es denn kommen, daß
das Nationalitätsprinzip gerade durch den Krieg außerhalb Europas von Be—⸗
deutung wird. In Indien, Ägypten, in Algier, Tunis und Marollko, unter der
mohammedaniſchen Bevölkerung Rußlands regen ſich mächtig die Nationalitäten.
Und gleich dem ruſſiſchen Panſlawismus ſteht dahinter ſchon eine Idee, die im
politiſchen Intereſſe eines Staates über das Nationalitätsprinzip hinauswächſt.
Unter der Deviſe „Aſien für die Aſiaten“ bedroht die neue japaniſche Welt—⸗
macht, die England zur Eroberung Kiautſchous zu Hilfe gerufen, die franzöſiſchen
Beſitzungen in Hinterindien, Britiſch-Indien und Oſt-Sibirien in gleicher Weiſe.
Die Bundesgenoſſen haben nur abzuwarten, auf wen ſich das oſtaſiatiſche Raub—
tier zuerſt ſtürzen wird.
Die alte Erfahrung beſtätigt fich von neuem: es iſt leicht, Geiſter zu rufen,
ſchwer fie wieder zu bannen.
Der belgifche Dolfskrieg im Urteil der Ileutralen
Eine neutrale Polemit
und um den Vollstrieg in Belgien bat heute, 18 Monate nad
el dem Einrücden der erften deutfhen Truppen in das belgifche Land,
—— ſo ziemlich ausgetobt, ohne daß jedoch dieſer Gegenſtand die alte
— Anziehungskraft ſchon ganz eingebüßt hätte. Die Frage der
Neutralitätsverletzung und nicht minder die Geſchichte dieſes beiſpielloſen Krieges
eines ganzen Volkes mit all ſeinen Folgen bietet noch jetzt und wird noch
Generationen immer neuen Stoff zum heißen Kampf des Wortes und der Feder
für und wider bieten, wenn die Wunden des Jahres 1914 längſt vernarbt find
und der Haß und die Leidenfchaft einer zurüdichauenden, rubigeren Betrachtung
Bla gemadt haben werben.
Tie Weltgefchichte wird aber, wir dürfen e3 zuverfidhtlich hoffen, auch dem
Kapitel Belgien noch einmal eine unbefangenere Würdigung, als es bisher ge
ſchehen tft, zuteil werden laffen und manden Irrtum aufllären, in gerechterem
Abmwägen der heute no fo dur Gunft und Haß vermwirrten Gründe ber
ftreitenden Parteien die Löfung für vieles heute feier unfaßbare leichter finden,
wenn das ungeheure Zatfacdenmaterial menigftens leidlih) einwandfrei vorliegt
und die StaatSardhive einmal alle ihre Gcheimfächer geöffnet haben werben.
Beitgenöffifches Duellenmaterial, al die Dokumente, all diefe Unflut von Literatur
als Zeugnifje für die Ereigniffe felbft und nicht minder für die Mentalität in
diefem Kriege des Wortes, der neben dem Kriege der Waffen dahintobt, werden
dem forfhenden Auge der Nachwelt ja diesmal wie in feiner anderen Epoche
der Geihichte zur Verfügung ftehen. Wieles, jehr viele davon wird aber von
einer fühleren Kritil jpäterer Generationen alS ganz oder teilmeife unbaltbar
abgelehnt werden müfjen, das Tönnen mir fehon heute fagen angefichts biefer
nie dagewefenen leidenfchaftliden Aufwühlung der Gemüter einer ganzen Welt,
die fich zurzeit noch zu einem bedauerlich großen Teil in der Krifi8 einer einzig-
artigen PBiydhofe bzw. Hypnofe befindet, teils jeglicher Objektivität unfähig ift,
fie fogar gewaltfam erjtict, teils mwenigftens danach ringt, aber vergeblich.
Sn dem Schmelztiegel der Weltgefchichte wird einmal alles zutage kommen,
das NRedht und das Unredt; die Schlade wird abfallen und das Gold der
Wahrheit wird bleiben. Da werden denn auch all die literarifhen Denkmäler
— —
— —— — —
Der belgiſche Volkskrieg im Urteil der Neutralen 233
dieſes Federkrieges ihre unerbittliche Feuerprobe zu beſtehen haben. Mit all
den Irrungen, wie ſie menſchliche Unvollkommenheit und die begreifliche Leiden⸗
f&aft einer fo gewaltigen Zeit der Ummälzung aller bisherigen Begriffe not-
wendig zeitigen muß, wird die dereinftige Kritif wohl nahfihtig ins Gericht
gehen, aber vernidhtend wird fie ihr Urteil fprechen über bemußte Schuld, über
bie Sünde gegen den heiligen Getft, über all den traurigen Unrat von fhänd-
Tier Züge, Verleumdung und blindwätigem Haß wider Vernunft und befjeres
Willen. Bis dahin möge jeder bei feinem „Recht“ verharren, jegliche Ver-
ftändigung ift einftweilen ausgefcdhloffen.
Eine erheblide Rolle werden bei diefem zeitgenöffiichen Material fiherlich
die Urteile der Neutralen fpielen müflen, die fi ja heute, und zum Zeil gewiß
mit Nedt, die alleinige Yäbigkeit zufprechen, objektiv zu urteilen, und von
diefem ihnen von den Sriegführenden geradezu aufgebrängten Amt ausgiebigen,
aber dafür auch recht verj&iedenartigen Gebraud) gemacht haben. Dian wird
fpäter immer gemeigt fein wollen, angefichtS des Wuftes von gegenfeitigen An-
Hagen und Widerfprühen die Abfeitsjtehenden, die Neutralen, als Kronzeugen
berbeizuziehen, um ihre Beobachtungen, ihr Urteil al8 das am meilten wahr-
fcheinlicde Tatfacdenmaterial gelten zu lafjen.
Aber — leider auch bier: eine Fülle von Widerfprücen, die fi faum
minder erbittert gegenüberftehen al3 die der Kriegführenden felbit. Befangenbeit,
Vorurteile, mehr oder minder unbewußt, aber au) bewußte PBarteilichleit, ab-
ficätliche Einfeitigfeit und mala fides — mir finden fie heute bei den Neutralen
in faft gleidem Maße wie bei den näcjjt Beteiligten. So wird fi denn der
Ipäteren Geihichtsihreibung bei ihrer Klärungsarbeit au) immer wieder bie
Frage aufdrängen: wer war denn neutral; wie wir heute und aud) immer
wieder fragen: wer ift denn neutral, wirflic neutral? (E3 handelt fih bier
natürlih nur um die geiftige Neutralität.) Wir baben da jdhon jet merl-
würdige Erfahrungen gemadt. Und das Iäßt fich bereits heute mit Gemwißheit
fagen: au da8 neutrale zeitgenöffifche Material wird noch einer gründlichen
Sichtung bedürfen. Die Geiichte wird fi fchließlid doh aud nur an Die
Neutralen halten, die erfichtlich mit der größten Ruhe an ihre Aufgabe heran
getreten find, Gerechtigfeit und auch ein gemiffes Duantum Stepfis nad) beiden
Seiten walten und mitten in den Lärm des Wortlampfes hinein mwenigftens
die Stimme der Vernunft, die Mahnung zunädjit zur Mäkigung ertönen und
vor allen einem offenbaren guten und ehrlichen Willen zu menſchlichem Be⸗
greifenwollen, zum gütlihen beiderjeitigen Zufprud, zur Verftändigung und
Berföhnung erfennen lafien. ES wird vielleicht fchließlich auf allen Seiten nicht
ohne Abjtrihe abgehen fönnen, es wird fompenftert werden müfjen und fo legten
Endes ein erheblich milderer Schiedsfprud für beide Parteien herauslommen,
der vieles auf das Konto der menihliden Schwächen zu fegen und im übrigen
recht viel von allem vorgefallenen auf halbes Maß zurüdzuführen geneigt
fein wird.
234 Der belgifche Dolfstrieg im Urteil der YXeutralen
Sa, auch die Verantwortung der Neutralen für das, was fie heute fchreiben
und nod) fohreiben werden, tft und bleibt jehr groß; fie erfordert Charaktere
und klare Köpfe, vor allem aber unbedingte Ehrlichkeit.
&3 fehlt an folden doc) zum Glüd fchon heute nicht; es gibt doch Neutrale,
denen ber Krieg den Haren Blid! nicht getrübt hat, die ihre eigenen Sympathien
dem Willen zu ftrifter Objeltivität gewaltfam unterzuorbnen die eitigkeit haben,
und benen deshalb wenigftens fpäter vorausfichtli alle Parteien den Ruhm
einer menfhenmöglichen unpartetifchen Kritif zufprechen wollen werden, wenigitens
den guten Willen dazu und die Aufrichtigfeit.
Wenn wir heute bier einen foldden Neutralen, der a unferem Dafür-
halten den Anfpruh auf ehrliche neutrale Gefinnung und Darftelung maden
darf, zu Worte fommen laffen, fo tun wir dies nicht, um zu feiner Auffafjung
im einzelnen Stellung zu nehmen. Wir Deutiche müfjen uns binfichtlie) des
Kapitels Belgiens zunächft an unfere deutfchen Zeugnifie, an unfer ehrlich ver-
meintes gutes Necht halten, in der Hoffnung, daß unfer Verhalten gegenüber
dem unglüdlicden Belgien vor dem Urteil der Gefchichte einft ebenfo gut wird
beftehen fönnen, wie unfere den Erzeugnifien der feindlichen Literatur entgegen-
geftellten gefchriebenen Beweife ufm., denen wir bei aller Barteilichleit und
gewiß entfchuldbarer gelegentlicher Einfeitigfeit allerdings fehon heute den Vorzug
rubigerer, fachlicherer und vor allem anftändigerer Darftellung zuzuerlennen
geneigt bleiben.
Wir haben eine Artikelreihe aus der Feder des Dänen Karl Gab in ber
Zettihrift „Spectator“ vor ung, „Slode Roland“ betitelt.
Es ift — natürlid — eine Polemik, und zwar aud) gegen einen „Neu-
tralen”, einen Landsmann fogar. Das fagt ja eigentlich fchon genug. Beide
nennen fidh neutral, beide behaupten über den Parteien zu ftehen, — und wer
tut e8 nun wirklich? Wer tft der „Neutralere"? Johannes Jörgenſen heißt
der andere, und fein Buch nennt fi) die „Slode- Roland“. „An fie follen bie
Stürme diefes Weltkrieges ftoßen, und fie fol die Wahrheit ehern fünden“....
Sie tft ja „neutral”] Laffen wir, da uns die „Slode Roland“ nicht vorliegt,
Karl Sad nun zu Worte fommen, wir werden von ihm die Auffaffung des
anderen, des Johannes Yörgenfen, Tennen lernen.
Es tft eine Polemil, doppelt intereflant, erjtens biftorifd als Tritifcher
Beitrag zu dem vielbejprochenen Stapitel Belgien, ferner aber au und befonders
in ideologifher oder pſychologiſcher Hinfiht als eine geiftreiche Abhandlung über
das Wefen und die Pflichten der geiftigen Neutralität.
Karl Gab verbreitet fih an der Hand jenes Buches zunädjft über Die
Piyhologie des Hafjes, der nach feiner Anfiht in diefem Kriege beifpiellofe
Zriumpbe feiert, der auf der einen Seite aus dem Kampf der Freiheit, ber
Ziviltfation gegen die befannten Barbaren ufm., auf der anderen Seite aus
dem Kampf der deutihen Kultur gegen eine halbe Welt einen Kreuzzug macht
oder in noch anderen Schlagwörtern feinen Ausdrud fuhht. Und die Neutralen?
Der belgtfhe Deolfskieg im Urteil der Yentralen 235
Sie find au angeftedt von dem Fieber der Kriegführenden... Auch bie
Dänen, fonft nicht eben ein Voll von ftarten Leidenfchaften, betätigen fich auf
biefem Gebiet. |
„Endlich hat aud ein Däne ein Buch über den Krieg gefchrieben, das
überfebt, verlauft und verflungen wird in der ganzen Welt. 8 ift die
‚Slode Roland‘ von Johannes Yörgenfen. Ste bat viele Töne, das große,
tiefe Pathos und die fchneidende, gellende ronie, die dumpfen Klänge der
Zrauer und des Mitleids, den Sturmgefang des Fluches und des Zornes
mächtiges Gebraus. Aber der Grundton ift immer berfelbe: Seht, fo find fie,
die Lügner, die deutjchen Verbrecher, hakt fie, haßt fiel“
Ein ungefähres Bild von Jörgenſens Buch Tönnen wir uns aljo fchon
maden. 3 ift eine Kampfichrift gegen Deutfhland, aber — fie tft „neutral”.
Die Deutfchen find der Abjchaum der Erdel Das tft Die ausgeiprochene Tendenz
diefe8 Buches, jagt Karl Sad, es tjt nicht eine einzige, neue Zatfache darin, e8
fuht nur das fon Belannte auf eine neue Art zu fagen, fo daß es ftärker
im Dienfte der Agitation wirkt. Alle Kräfte der Sprade werden mobilifiert,
alle Macdtmittel dichterifhen Stils werden angewendet, um zu Überzeugen, zu
überreden, zu bypnotifieren, unfere Abjeheu und unfere Beratung zu weden,
unferen Zorn und unfere Verbitterung, unfere Leidenfchaft bis zur Naferet zu
erhiten und ung zu zwingen, unfere Herzen dem Haß zu eröffnen, der wie ein
verheerender Brand die Erde vermwüftet.
Warum follen die Neutralen mithafien? fragt Sad. ES muß wohl bie
Meinung des Glödners fein, daß der Hab fih In Zaten umfeten fol. Soll
e8 Rade fein? Sol fie fi wie in der fogenannten Tragödie „Armagedden“
austoben, wo Köln der Schauplat des Zriumphes der franzöfiichen, englifchen
und belgifhen Truppen tft und bie Frage der Berftörung des Doms erwogen
wird, und wo fi der edelmütige englifhe General für die Schonung des
Gotteshauſes ausſpricht? Oder will Jörgenſen damit die Alte der „Nahe für
Lufitania” in den Londoner Pöbelvierteln billigen? ES märe naiv, wenn er
fi) darüber wundert, daß foldhe Früchte fommen, meint Gab. Aber wenn e$
nit Rache fein fol, was foll dann der Hank? „Soll er nur der Begeifterung
Rahrung geben, die die Ententemädhte brauchen, um Deutſchland zu zerſchmettern?
Die ‚Slode Roland‘ fagt dies zwar nicht direlt, aber nur zu deutlih muß
jeder Leer dies herausfühlen. Und wenn es den Gegnern Deutfchlands wirklich
gelingt, e8 diesmal zu zerjeämettern: Was wird die Saat fein, meldes die
Früchte? Haß und wieder Haß!
Doppelter Wahnfinn, wenn man neutral fein will! ... 8 tft fo viel ge-
fprochen worden von der Pflicht der Neutralen, ihre Partei zu wählen, ihren Einjag
zu madjen, aber e3 wird fo wenig von der Pflicht, neutral zu bleiben, geredet!
Bon der Pflicht, endlih danad) zu ftreben, daß man nad) Redt und Fug
urteile, anftatt nach blinder Sympathiel Die ‚Glode Roland‘ ift ein Buch
des Hafles, und deshalb ein Buch, das Schaden anridtet. Und das würde
236 Der belgifhe Dolfstrieg im Urteil der Xeutralen
fie au) fein, felbft wenn fie im übrigen redlih und zuverläffig wäre. Aber
dazu fommt noch, dak Körgenfens Arbeitsmethode illoyal ift und feine Schluß-
folgerungen falih find. Das ift wohl das Schlimmfte, was von einem Buche
gefagt werden kann, das vorgibt, die abfolute Wahrheit zu prebigen!”
Someit Karl Gad fiber die Wirkung des Haſſes, wie ihn die „&lode
Roland“ Yäute.e. Man wird ihm, fo follte es fcheinen, zum mindeiten den
heute ziemlich feltenen redlichen Vorfag, in Ddiefem Kriege der Leidenidhaften,
der Sympathten und Antipathien erft einmal den Weg ber Vernunft, der Rube
und Mäßigung für die Abfeitsftehenden zu finden, nicht abjprechen können. &$
Mingt aus feinen Worten ein erfreulicher Ton der Menfchlichleit heraus, den
wir in diefen Tagen nur zu oft verbunfelt finden. Eine Vorbedingung zur ruhigen
Betraddtung tft fomit erfüllt, und wir dürfen Karl Gads weiteren Ausführungen
mit Intereffe folgen, in denen er die Berechtigung des Hafjes unterfudht.
„Wil man nun dies, fo ftößt man gleich auf zwei Schwierigleiten. Denn
erstens find Dernunftsgründe eine bedauerlih ohnmäcdhtige Waffe, wenn es gilt,
ein Dogma wie diefes anzugreifen, das ja für %. Yörgenfen wie für fo viele
andere fo gefühlsbetont ift, daB es einen faft religiöfen Charakter angenommen
bat. SZmeitens lommt bier das pfychologiihe Faltum, daß Menfchen, deren
Arbeit nur das eine Ziel bat, die Beredhtigung eines beitimmenden Stand-
punftes zu beweifen, immer nur fchwer verftehen können, daß andere bei ihrer
Urbeit nur von der Abficht geleitet werden, ein möglichft zuverläffiges Refultat
zu erzielen — jelbjt wenn fich zeigen follte, daß es nicht das erwartete oder
gewänfdte ift. Die erfteren werden dann immer geneigt fein, die anderen mit
den Borfämpfern des entgegengefetten Standpunkte in einen Topf zu werfen.
sh wünſche hingegen zu betonen, daß mein Auffah nicht bezwedt, für die
Sade der einen der Flämpfenden Parteien zu plädieren, fondern im Namen
des allgemein Menfhliden — das felbft die bitterften Feinde vereint — bie
Horderung zu ftellen, daß ein Wille zur Verföhnung und vor allem der Wille
zu redlihem Urteil vorhanden fei.“
Wie fteht e8 denn mit Johannes örgenfens Arbeitsmethode ?
„Die Hauptwaffe, deren er fi) bedient, tft die Sronte, und es fol ihm
willig eingeräumt werden, daß er auf biefem Wege oft vorzügliche Wirkungen
erzielt. Er bat ja überhaupt in außerordentlich vielen Einzelheiten recht, un-
bedingt und in die Augen fpringend redit. Indes allzuoft feiert er billige,
aber dafür aud falfde Triumphe, indem er die Worte des Gegners eigen-
mächtig erweitert oder ihnen eine Bedeutung unterftellt, die fte nicht haben.“
SJörgenfen nimmt fih 3. 3. die Kundgebung der Vertreter der beutfchen Wiflen-
[haft vor, darin e3 hieß: es ift nicht wahr, daß eines einzigen belgifchen
Bürgerd Leben und Eigentum von unferen Soldaten angetaftet worden ift,
ohne daß die bitterfte Notwehr e8 gebot. Diefen Sa findet au Gad in
diefer Form unhaltbar und nicht fhwierig anzugreifen, aber, fo fagt er, ber
Angriff wird unredlih, wenn man ihn überfeßt, wie Jörgenfen e8 tut, daß
Der belgifche Dolkstrieg im Urteil der Neutralen | 237
nicht eines einzigen belgifhen Bürgers Leben und Eigentum zugrunde gegangen
fei, außer, wenn die deutfchen Soldaten genötigt waren, fich zu verteidigen.
Selbftverftändlih tft eine Menge Belgier zugrunde gegangen, Wenn es ift Strieg
zwifchen Belgien und Deutichland, und im Kriege geht, Gott befjere es, manches
zugrunde. „Aber das zu leugnen, haben jene deutjchen Wiffenfchaftler ja auch
niemals beabfiitigt; fie gebrauden das Wort antaften, das fi) vergreifen be-
deutet und fi nur bezieht und beziehen fann auf dasjenige Auftreten der
deutſchen Soldaten, das außerhalb ‚der eigentlihen militärifden Operationen
fällt.” Oder es gilt der Behauptung der in Rede ftehenden Kundgebung,
daß Deutihland den Krieg nicht gewollt habe. Die Männer der deutichen
Wiffenfhaft behaupten: erft als eine fhon lange an den Grenzen lauernde
Übermadt von drei Seiten über unfer Volk herfiel, hat es fih erhoben wie
ein Mann. Die „Slode Roland” antwortet nun: e3 ift weder Dänemarf,
noch die Schweiz, noch Holland, von denen bie Rebe fein kann, denn die leben
bis dato in Frieden mit Deutfejland; es fann auch nicht Ofterreich fein, denn
das ift Deutichlands Verbündeter, auch nicht Rußland oder Frankreih, denn
es war do wahrhaftig Deutihland, das jenen den Krieg erflärte, und nicht
umgelehrt. Und England grenzt ja nit an Deutihland. So bleibt alfo nur
Belgien, das große, mächtige Belgien, welches das arme Meine Deutichland
überfallen hat. — Das ift ja alles jehr unterhaltend, meint Gad, aber nidhtS-
dbeftoweniger reines Gefhwät. Daß England nicht eine der drei Mächte fein
fönnte, von denen die Nede ift, weil e8 feine Landesgrenze mit Deutichland
gemein bat, daß man von Frankreih und Rußland nicht jagen Tönnen follte,
fie hätten Deutfchland überfallen, weil Deutichland es war, das den Krieg
erflärtel „ES Tann ja wohl fein, daß fie e8 nicht taten. CS Tann wohl fein,
daß Deutfchland die größte Schuld am Kriege trägt. Man Löft nur nicht biefe
Yrage, die noch lange Zeit den Hiftorilern Stoff zum Nachdenken geben wird
(wie fteht e8 3. B. mit Edward des GSiebenten Schuld?), indem man ung er-
zählt, daß es Deutichland war, das den Krieg erllärtte. Danke, das mußten
wir! Die 93 deutichen Wifjenichaftler au). Aber wir wiffen auch, daß der formell
den Krieg Erflärende und der reell Angreifende nicht derfelbe zu fein braucht.“
Dann ift da eine Stelle, wo Yohannes Yörgenfen den deutfchen Reichs-
fanzler entweder „der Nacdhläffigleit der Wahrheit gegenüber oder der Gleich-
gültigkeit gegen die Wahrbeit“ beichuldigt. Bethmann-Hollweg habe gejagt, daß
in einem gegebenen Zufammenhang fein Wort von Belgiens Neutralität ftehe,
und Sohannes Yörgenjen zählt fie auf: Bitte, 64 Wörter. Da könne doch
jeder jehen, was für Lügner die Deutichen find, wenn fogar der Reichslanzler
etwas derartiges Tiefern Tann! „Diefes ganze Stüd in der ‚Slode Roland‘
zeugt von einer foldhen Unfähigkeit, ein biftorifches Aktenftüd zu Iefen, daß es
an das Unglaublicde grenzt. Man made fih Mar, dab es fi darum dreht,
ber Reichslanzler hat gelogen, indem er vor dem Deutihen Reichstag aus-
geiprocden haben fol, daß in einer gewiflen Depefhe von Sir Edward Grey
238 Der belgifde Doltskrieg im Urteil der Xeutralen
— ——
— — —
an Sir F. Bertie keine Rede von Belgiens Neutralität ſei. Aber iſt der Mann
denn verrückt? fragt man. Ja, unleugbar müßte er es ſein, wenn er ſolchen
Unfinn gefprochen hätte — ſolche Lüge, wie Johannes Jörgenſen es nennt.
Aber das hat er natürlich nicht getan. Nur für Jörgenſens nach Lüge und
Gemeinheit eifrig ſpähenden Blick nimmt es ſich ſo aus. Die Saqe iſt außer⸗
ordentlich einfach. Bethmann⸗Hollweg ſpricht vom erſten Teil der Depeſche,
wo die engliſche Regierung Frankreich Hilfe verſpricht für den Fall eines
deutſchen Flottenangriffes gegen die franzöfiſche Küſte oder den franzöſiſchen
Handel. Von der belgiſchen Neutralität verlautete kein Wort, ſagte er da.
Das tat es auch nicht in dieſem Zuſammenhang. Englands Verſprechen, dies
geht klar aus der Depeſche hervor, wurde ganz ohne Rückſicht darauf gegeben,
ob etwas mit Belgien geſchähe oder nicht. Nur dies will der Reichskanzler
ſagen. Daß ſpäter in derſelben Depeſche ohne den geringſten Zuſammenhang
mit dem Vorangehenden von den Folgen einer eventuellen Kränkung der belgiſchen
Neutralität die Rede iſt, hat mit der Sache gar nichts zu tun. Alles dies iſt
vielleicht ſehr richtig, wird man wohl einwenden, aber es iſt ja ganz un⸗
weſentlich. O nein, doch nicht ſo ganz. Derartiges hat ſeine große, ſympto⸗
matiſche Bedeutung, weil es klar zeigt, in welch hohem Grade auch bei dieſer
Gelegenheit die Fähigkeit zu klarem Denken und redlichem Urteil geſchwächt
wurde infolge des von Haß und Fanatismus aufgepeitſchten Gemütszuſtandes,
in dem der Verfaſſer ſich befand. Wenn man auf mehrere derartige Fälle
trifft, lieſt man mit Vorficht weiter. Man verſteht, daß das Buch als Dokument
keinen Wert hat, weil man ſich nicht darauf verlaſſen kann.“
Gad kommt nun auf den Hauptteil des Jörgenſchen Buches zu ſprechen,
der ſich mit dem Überfall auf Belgien und dem Auftreten der deutſchen Truppen
dort beſchäftigt. Die Verletzung der belgiſchen Neutralität findet er nicht ent⸗
ſchuldbar, wenn auch verſtändlich. Dann fährt er fort:
„Nur eins ſoll in dieſem Zuſammenhang geſagt werden: Deutſchlands
Verbrechen iſt nicht ſo groß, wie man im allgemeinen ammimmt. Es ſcheint
nämlich allmählich ganz mechaniſch in das allgemeine Bewußtſein übergegangen
zu ſein, daß Deutſchland Belgien überfallen habe, um zu rauben und zu
brennen und allerhand Grauſamkeiten zu begehen. Aber ſo ſchlimm iſt es nun
doch nicht; Deutſchland wollte durch Belgien marſchieren auf ähnliche Art, wie
z. B. nun die Engländer und Franzoſen durch Griechenland marſchieren.
Belgien wollte e8 nicht leiden,. und. da erklärte Deutſchland Belgien den Krieg,
um fi den Durchgang mit Gewalt zu erzwingen. Das war das Verbrechen.
Wie die Deutichen fi dann in Belgien aufgeführt haben, nachdem fie herein-
gelommen waren, das ijt eine andere Frage, und es ift von Bedeutung, biefe
beiden Dinge auseinander zu halten.“
Wie maht e3 nun “örgenfen, wenn er ein Bild von dem Betragen ber
Deutihen in Belgien entwerfen wil? Cr nimmt fich zwei beutfche Agitations-
ihriften, den „Aufruf an die Kulturwelt“ der dreiundneunzig Wifenichaftler
Der belgifche Dolkstrieg im Urteil der eutralen 239
und das Buh „Die Wahrheit über den Krieg”, herausgegeben von zehn bervor-
tagenden Berliner Berfönlichkeiten, vor. Ihnen ftellt er eine Reihe von amtlichen
und anderen franzöfifhen, engliihen und belgifehen Berichten und Dolumenten-
fammlungen gegenüber. Er vergleiht fie und lommt zu dem Ürgebni3,
daß die Deutfhen nur Behauptungen anführen, die anderen dagegen Bemeife,
und wo fi ein Widerfpruch findet — was ja überall der Fall itt — da find
e3 fomit die Deutfdhen, die lügen, die anderen, die die Wahrheit fprechen.
Hierzu findet Gad zweierlei MP bemerken. Erftens: wenn die beutfchen
Wiflenichaftler behaupten, daß nicht eines einzigen Belgier Leben oder Eigen-
tum angetaftet worden ift, fo glaubt auch er allerdings, daß fie damit zu viel
gelagt haben.
Wenn aber Rene Chambry in „La verit& sur Louvain“ fehreibt: „Vor
der Ankunft hatte der Gemeindevorftand alle Einwohner aufgefordert, Die
Waffen, die fie etwa im Befite hätten, auf dem Rathaufe abzuliefern, und es
war niemand, der dem Befehle nicht Folge geleiftet hätte“, fo zitiert es
Sörgenfen volllommen ernfthaft als die unbedingte Wahrheit. Dies ift nicht
„fair play“. Wo bleibt denn hier die Yronie, fragen auch wir. Zweitens:
E38 liegt eine Dolumentenfammlung von deutfcher Seite vor, die ganz der
franzöftfch-englifch-belgifchen entfpriht. Warum bat Yörgenfen diefe nicht mit
in Betradht gezogen? Sie lag vielleicht nicht vor, als er fein Buch begann,
aber fie lag vor, lange ehe „Slode Roland“ herausgegeben wurde. Wäre e$
nun Hörgenjen darauf angelommen, die Wahrheit darzuftellen und nicht bie
Leer um jeden Preis in eine beftimmte Auffafjung bineinzubegen, fo hätte er
fi) nicht der unabweisbaren Pflicht entziehen können, den betreffenden Abfchnitt
umzufhreiben. Denn die erwähnte deutfhe Dokumentenfammlung „Die völler-
rechtswidrige Führung des belgiichen Vollsfriegs" entzieht Yörgenjens Beweis-
führung volljtändig den Boden, meint Gab.
Sörgenfen jagt von den deutfchen Beweifen: „Sie haben durchweg die eine
Eigentümlichleit gemein — fie find fait alle fehwebend, in Unbeftimmtheit ge-
balten; feine oder nur [hwadhe DrtSangaben, feine Namen der Perjonen, von
denen die Nede ift.” Und dies ift der einzige Grund, den er anführen ann,
um ihnen fyftematifh in Baufh und Bogen fein Vertrauen zu verfagen. Aber
in dem beutjchen Weißbuch werden außer einer Anzahl Berichte von deutfchen
Dffizieren in Belgien etwa 200 beeidigte Zeugenausfagen von deutfchen Offizieren
und Soldaten aufgeführt, die Darauf ausgehen, zu zeigen, daß von jeiten ‚der
belgifhen Bevölkerung jomwohl Franktireurfrieg in großem Stil betrieben (mas
Jörgenſen wohlgemut verneint), als auch Graufamleiten gegen die beutjchen
Soldaten verübt wurden (mas er zur reinften Erdichtung ftempelt). Und alle
diefe Berichte, die auf gerichtliche Verhöre begründet und durch den Eid befräftigt
find, geben fehr genaue und ins einzelne gehende Angaben darüber, ma3 bie
Betreffenden jelbft gefehen und erlebt haben. „ES befteht Teinerlei vernünftiger
Brund dafür, daß man diefen Dokumenten als hiftorifchem Beweismaterial
240 Der belgifhe Dolfsfrieg im Urteil der Yieutralen
auch nur im geringften weniger Glaubmwürbdigleit beimefjen jollte al$ den von
den franzöfifchen, englifden und belgifchen Regierungstommiffionen berbei-
geichafften Berichten!
3 ‚geht aus diefen Zeugenausfagen hervor, daß eine große Anzahl von
Zivilperfonen ohne irgendweldde militärtfhen Abzeichen wieder und wieder bie
deutfchen Truppen überfallen, daß fogar Kinder an der Beichtekung teilgenommen
baben, daß das Note Kreuz mißbraucht worden ift, und daß deutfche Soldaten
auf verfhtedene Art von der Bevölferun® mißhandelt worden find. AU dies
gebt ebenfo deutlich und ebenfo zuverläffig befräftigt aus den deutfchen Be«
rigen hervor, wie aus den franzöftfch-englifch-belgifchen Berichten hervorgeht,
daß die Belgier fi nichts von alledem zufdhulden fommen ließen, und daß bie
Deutfhen ohne den geringften Grund gemordet, gebrannt und zerftört haben,
foviel fie nur Tonnten.“
Aber weldher Bartei fol man nun glauben? fragt Sad. Dies zu ent
jeiden, fei natürlich außerordentlich fehmwierig, aber die Methode des Glödners,
blindlings der einen Partei Glaubwürdigkeit zuzumenden und der anderen ab»
zujprechen, jei jedenfalls untauglih. Yörgenjen führt 3. B. Nene Chambry
als Zeugen dafür an, daß die Bevölkerung von Löwen ganz unfchuldig an
dem Schidjal war, daß die Stadt betroffen hat. „Aber mweldden Wert bat die
Verfiherung Rene Ehambrys, daß jeder dem Befehl, die Waffen auf dem
Ratbaufe abzuliefern, Folge geleiftet hätte, gegenüber den beeidigten und aus
fübrlichen Berichten von 50 beutichen Offizieren darüber, daß am 25. Auguit
abends auf ein gegebenes Signal ein befliger Angriff gegen bie deutichen
Zruppen gerichtet wurde, indem aus Kellern, enftern und befonders aus den
Daclufen der Häufer gefhoffen wurde, ein Angriff, der fih zu einem erbitterten
Kampf entwidelte, welcher fich über mehrere Tage erftredte und belgifcherfeits
von Bioviliften geführt wurde.“
Jmmer wieder ftehen, jagt Sad, fcheinbar unbedingt überzeugende Be-
hauptungen einander gegenüber, unterftüßt von ben beeidigten Ausfagen von
Augenzeugen. Ya, was foll man da tun? Natürlich) fan niemand den Leuten
verbieten, die Wahl nad ihren perfönlichen Sympathien zu treffen. Aber e$
muß nur feitgehalten werden, daß auf foldhe Art erzielte Ergebniffe Teinerlei
Wert haben in bezug auf die Klarlegung der bHiftorifhen Tatfachen. „Nein,
will man im ntereffe der Wahrheit arbeiten, jo muß man einen anderen Weg
geben. Man muß ehrlich die Zeugniffe von beiden Seiten prüfen und dann
eine Beurteilung auf Grundlage einer Wahrjheinlichleitsifhägung vornehmen.
Wenn man nit im voraus vorurteilsvol meint, daß die eine Partei der
Kämpfenden aus Barbaren beitehe und deshalb zu Verbrechen jeglicher Art
imftande fei, dann müffen Berichte von Graufamleiten im erften Augenblid unwahr-
cheinlih wirken, um fo unmwahrfheinlicher, je mehr fie fih von dem entfernen,
was man erwarten fonnte. Das will natürlich nicht jagen, daß man einen gut
bezeugten Bericht mit der Begründung, daß er unwahrfcheinlich fei, verwerfen fol.
Der belgifche Dolfstrieg im Urteil der Xeutralen 241
Damit lommt man nicht weiter. 3 will aber fagen, daß, wenn Bes
dauptung gegen Behauptung fteht, wenn zwei von juriftifcher und Yiftorifcher
Betrachtung aus gleich ftarle Beweife gegeneinander ftehen, der Vericht zunächft
ber wahrjcheinlichere ift, der die geringfte Abmweihung vom normal Menic-
lien enthält. Die Methode dürfte unangreifbar und zugleich die einzig an-
wenbbare fein, wenn es fi um die Unterfuhung und Beurteilung eines
biftorifchen MaterialS wie die widerftreitenden Berichte fiber die Begebenheiten
in Belgien handelt. Wenn aber diefe Methode nichtsdeftoweniger weit davon
entfernt ift, allgemein angewendet zu werden, fo liegt dies in einem beftimmten
piyhologifhen Prozeß begründet, der faft mit dem ganzen neutralen Bublitum
vor fi gegangen ifl. Niht nur war die Sympathie faft überall — aus
mand)erlet Gründen, die bier nicht unterfucht werden follen — auf feiten der
einen Partei, was eine objeltive Beurteilung erfehwerte, fondern dazu fam aud)
no, daß die franzöfifh-englifch-belgifchen Berichte zuerft erfchienen und ihre
Wirkung taten, ehe die deutichen vorlagen. Wir glaubten faft alle, daß bie
Berichte über die Deutfchen in Belgien fozufagen in ihrer ganzen Ausdehnung
wahr wären, weil fie an und für fih fo überzeugend wirkten, und weil wir
bie Berichte von dentjcher Seite, die ebenfo überzeugend wirken, noch nicht
fannten. Wir hatten die Zeit gehabt, unfer Urteil zu fällen, und das hieraus
entipringende Gefühl zeigte fih und mußte fich zeigen als Mibtrauen gegen bie
deutfchen Berichte. Die Berjehiebung, die ftattgefunden hat, ift alfo die folgende:
erit glaubt man, daß die Deutichen Verbrecher find, weil fie Graufamfeiten in
Belgten begangen haben, und dann meint man, von biefem Glauben aus-
gehend, feinen Grund zu haben, den Beweifen, die fie dagegen anführen, Ber-
trauen zu jchenlen. &8 ift außerordentlich wefentlih, daß man fidh biefe
Ungeredtigfeit Har macht, denn nur bierdurd) lan man ihr abbelfen.“
Sad unternimmt nun den Verfudh, fi ein ruhiges Bild davon zu machen,
was in Belgien denn eigentlich) wirklich geſchehen iſt; er will in Güte verfuchen,
zu veritehen, wie das, was etma gejchehen ift, entftehen Tonnte.
Er glaubt zunächft feftitellen zu follen, daß die deutfchen amtlidden Ber-
öffentlihungen (vor allem alfo das Weigbudy) in Dänemark mit fo geringer Auf-
merffamfeit gelefen worden find, daß es ihm nötig erfcheint, fie kurz Ins Ger
daͤchtnis zurüdzurufen.
Sn nüchterner und bemerfenswert prägnanter Weife fchildert Bad die Ent.
ftehung des Franktireurfrieges in Belgien und deffen Wirkung auf ein regel-
rechtes Heer, das nichtsahnend überfallen wird von anfcheinend friedlichen
Drtsbemohnern, und — die unvermeidlihen Folgen biefes völferrecätsmwidrigen
Altes.
„Ras tft nun die Wahrheit? Ha, was tft das wahrfcheinlichere, d. 5.
was ift am leichteften verjtändlih, wenn man von den allgemein menfchlichen
Borausfehungen ausgeht? Daß die belgifche Bevölkerung, getrieben von ihrer
Baterlandsliebe und von einer fehr leicht verjtändlichen Feindfchaft gegen die
Grenzboten I 1916 16
9429 Der belgifhe Dolfskrieg im Urteil der Neutralen
eindringenden deutfchen Truppen, fi auf diefen Franttireurfrieg in großem
Stil eingelaffen hat, — oder daß die Deutichen ihre VBerhaltungsmaßregeln ohne
irgendwelche Notwendigkleit, aus bloßer Luſt am Morden und Brennen getroffen
haben? Ja, wenn man ehrlich ſein will und nicht voreingenommen iſt, kann
die Antwort nicht ſchwer fallen.
Aber außerdem muß man noch ein anderes Prinzip anwenden, wenn
man ſich ein einigermaßen zuverläſfiges Bild von den Vorgängen in Belgien
machen will: der Umfang muß reduziert werden. Allein der Umſtand ſelbſft,
daß Zeugnis gegen Zeugnis ſteht, zeigt, daß nicht alles wahr ſein kann. Und
ſo liegt es nahe, noch einen Schritt weiterzugehen und anzunehmen, daß auch
nicht alle die einzelnen Zeugniſſe, denen keine direkte Verneinung gegenüberſteht,
die nackte Wahrheit enthalten.“
Gad meint, die bekannten Erfahrungen aus der Pſychologie der Zeugen⸗
ausſagen auch für die von beiden Seiten beigebrachten Dokumente über den
belgiſchen Volkskrieg gelten laſſen zu ſollen; er nimmt eine aus der ungeheuren
Erregung der Beteiligten verſtändliche Neigung zur Legendenbildung an, von der
ſich vielleicht beide Parteien nicht freizuhalten vermochten, die ſich „wie eine dicke
gallertartige Maſſe von unbewußter Übertreibung und Erdichtung um den Kern
gebildet hat“. Aber er macht auch darauf aufmerkſam, daß die Gerüchte von
den „deutſchen Greueln“ ſich eben deshalb um ſo leichter ausgebreitet haben
mögen, weil ſie im voraus zu gerne geglaubt wurden.
„Einer der am häufigſten wiederlehrenden Berichte war gewiß der über
abgehauene Hände. Troh der abſoluten phyſiſchen Unwahrheit wurde die Ge⸗
ſchichte bekanntermaßen in weiten Kreiſen geglaubt. Bald waren es engliſche
Soldaten, bald waren es hunderte von belgiſchen Kindern, die davon betrofſen
waren. Über dieſe Gerüchte erzählt der engliſche Schriftſteller Harold Picton
(„Is it to be Hate?“, Zondon 1915), folgendes: Ein junger Mann erzählte
einem meiner Freunde, er fenne einen Soldaten, der im London-Hofpital Tiege,
dem beide Hände abgehauen und beide Augen ausgeftochen worden felen.
Mein Freund glaubte e8 auch umd fühlte natürlich das Entjegen, daS wir alle bei
einer foldhen Erzählung empfinden würden, ein Entfegen, bei dem ein Übergang
zum blinden Haß fih jchmer verhindern läßt. Die Gefchichte verbreitete fidh.
Zulegt wurde im Hofpital nachgefragt. Dort hatte man niemald von einem
derartigen Fall gehört. Die Gefhichte wurde bald in ein anderes Hofpital
verlegt, aber mein Freund nahm fich nicht mehr die Mühe, fie zu verfolgen.
Späterhin wurde erzählt, daß in einem großen Haus in London landesflüchtige
Kinder feten, denen die Deutfhen die Hände abgehauen hätten. Nachdem bie
Behörde taufende von Briefen empfangen Hatte, bat fie die PBreffe, mit
zuteilen, daß die Gefchichten ganz aus der Luft gegriffen feien. Als ich das
nädfte Mal die Gefchichte hörte, Tam fie aus eıner Stadt in Mittelengland.
Ich bat den Erzähler darum, die Kinder felbft aufzufuchen, und bier ift feine
Antwort: einer unferer Freunde erzählte uns, er wifje beftimmt, daß ein Arzt
Der belgifhbe Dolkstrieg im Urteil der Neutralen 943
von dort aufs Land gereift fei, um nad) den belgifchen Kindern, von denen
id fprad), zu fehen; ich habe aber nun herausgefunden, daB das ganze nur
Altweibergefhwäg gewejen ift, und bin nun behutfamer geworden, an derartige
Geihichten zu glauben. — Fa, wenn die Leute doch etwas vorfichtiger in biefer
Richtung wären, dann kämen nicht fo viele YUngeredtigkeiten vor.“
Sad jpinnt diefe Betrachtungen in interefjanter Weife nöch weiter aus,
indem er ber Theorie von der „Erpanfionskraft der Erinnerung“ (Auguft Groll)
eben aud) für den Yal Belgien eine gemwiffe Geltung einräumt, und ftellt die
wohl nicht unberedtigte Frage: warum follen die Belgier beffer fein als andere
Menſchen?
Dem Glöckner Jörgenſen aber hält er noch vor: „Übrigens gibt e$ nod)
eine Stufe, und auf der fteht Johannes örgenfen offenbar: der Yournalift
oder Kriegsbuchverfaffer wendet die Gejhichten im Dienfte der Indignation an.
Er verallgemeinert und zieht eine Lehre aus dem Gefchehenen. ES wird
ein Prinzip bei den Deutfhen oder eine igentümlichkeit ihres Wefens,
Dörfer niederzubrennen, Frauen die Augen auszuftehen und Meine Kinder zu
ermorden. Die Deutfchen find ein Voll von Barbaren, der Abfchaum der
Erde. Die ‚Glode Roland‘ läutet unaufhörlich und unerbittlih: Du folft
bafjen, Du foljt baffen!“
Sn dem gewiß lobenswerten Bedürfnis, eben nach beiden Seiten Geredtig-
feit walten zu lafjen, glaubt Gab auch auf deutfcher Seite mande Fälle von
Härten annehmen zu follen; es tft eben Krieg, der unmenfchlich genug ift, bie
Grbitterung auf beiden Seiten tft nur zu verftändli, und entfegt wendet fid
der Kulturmenfd von den Bildern des Jammers ab. UDhne mit dem Verfafler
rechten zu wollen, auf welcher Seite diefe Erbitterung ihren fehredlicheren Aus»
drud fand, auf weldher Seite fie menjhlich verftändlicher war, man wird ihm
zugeftehen müffen, daß er fih in feiner Fritiichden Würdigung eine Zurüdhaltung
und vor allem ein wahrhaft menjchliches Begreifenwollen zu eigen gemadht bat,
das wir in neutralen Ländern nur zu oft mit Bedauern vermifjen mußten.
Einen lehrreihen Beitrag dafür, daß eben zu vielen feiner Zeitgenofien
und Mitneutralen diefe Fähigkeit oder wenigftens diefer Wille zur Ehrlichkeit
gänzlich abgeht, liefert Sad felbit in feiner weiteren Polemif gegen Yörgenfens
„Slode Roland“.
„Sörgenfen begnügt fi für alles mit der einen Erklärung, die er darin
findet, daß dies ein Krieg zwifchen Heidentum und Ghriftentum fe. ES fol
die germanifche Revolte, der Barbarenaufruhr jein, — das, was vor vier
SSabrhunderten die Reformation war, vor anderthalb Jahrhunderten literarijcher
Sturm und Drang, und was nun zu Eifen und Blut geworden tft und bie
Seftalt von 420-Millimeter-Mörfern angenommen batl Gegen die beutiche
Kultur fteht die Iateinifhe. Und der Mittelpunkt für die Iateinijche Kultur ift
(jest wie immer)Rom. Germania gegen Rom — dies ift auf eine Forınel gebracht
das innerfte MWefen des Weltkrieges. Eine Kultur, die auf Gefühl, auf Leidenfchaft,
16*
944 Der belgifhe Doltstrieg im Urteil der Neniralen
auf Willlär und Egoismus aufgebaut ift, gegen eine Kultur, die auf Vernunft, auf
Überlegung, auf Willen und Altruismus aufgebaut ift. Eine heibnifche Kultur —
um das lebte Wort zu fagen — gegen eine driftlihde.. Man laffe fi nicht
narren von ber fcheinbaren Religtofität der Deutihen! Mit ihr ift es befchaffen,
wie mit der des Weibes — es ift Religion aus Egoismus .... Na dem
Karneval und dem Feittenbel wünjcht man Zutritt zur ewigen Seligleit]
Dies tft Hörgeniens Erklärung und wer Tann fi nod darüber
wundern, daß die Deutfhen nicht nur die [händlichiten Verbrechen begangen
haben, fondern infolge ihrer Natur begeben mußten. Nur fhade, daß Förgenfen
dies nicht beizeiten gejehen bat, danıı hätte er uns warnen Tönnen. — Die
Erflärung tft weder vernünftiger no) törihter — oder doch vielleicht etwas
törichter — als die Mehrzahl der Erklärungen, die denfelben Zwed verfolgen.
Aber die Sade ift vie, daß die Aufgabe einfach unmögli if. Es tft un.
möglich, irgendweldhe vernünftige Erklärung für die behauptete Zatfache zu geben,
daß das deutſche Volk ſich plöglih als eine gegenüber uns andern wejend-
fremde und moralifch tieferjtehende Dienjchenart entichleiert habe”.
Sn ausnehmend ruhiger und verjtändiger Weile jucht Gad felbft Dagegen
in einem anderen Umftande eine Erklärung für jo manches Schredliche in diefem
Kriege, die au für den belgifhen Vollsfrieg notwendig angenommen werden
muß: warum follen die belgifhen Vorfälle durdaus ein Zeichen befonderer
moraliſcher Verderbtbeit einzelner Nutionen fein und nicht lieber ein Glied in
der Fette von Folgen diefer „Kulturform Krieg“? Am Kriege, in dem alle
Grundmauern der Vorftelungen von Gut und Böfe wanfen müffen, wird das
Bewuptjein wider Willen gezwungen, einen anderen Maßftab anzulegen. Ente
jegliches wird bier Alltäglichleit, Schreden zum Handmwerl. Bon Soldaten wird
eben ein doppelter Mtoralbegriff gefordert: Auf der einen Seite joll er feinem
Baterlande dienen, muß er „rafen“, auf der anderen tft er ein Schurke, wenn
er al Privatmann feine Leidenfchaften nicht züget. „Kann man fih dann
darüber wundern, wenn mandem Soldaten dies Auseinanderhalten nicht glüdt?“
Sind denn in früheren Kriegen feine Graufamleiten begangen worden, fragt
Gad mit Recht, und er unterläßt dabei nicht, des Vorgehens der Engländer in
Badajos und im Burenkriege zu gedenten. Doc glaubt er zugeben zu müffen,
daß in dem gegenwärtigen Kriege noch Schredlichere8 vorgelommen fein mag
al3 früher. Er findet hierfür die zwei Erflärungen:
„Gritens, die Leidenfchaften und der Haß waren fo ftarf erregt, daß der
Krieg fozufagen überall als ein Bolfstrieg geführt wurde. ALS die Deutfchen
1864 Yütland befegten, führten fie fi anftändig auf, weil die Bevölferung fi)
rubig verhielt. Wenn ein Heer nur gegen Soldaten lämpft, braudit e8 gar
feine feindfeligen Gefühle gegen die Zivilbeoölferung zu begen und tut e8 aud)
in der Regel nicht. Aber wenn die Zivtlperfonen handelnd am Stiege teil
nehmen, fo ift e8 allerdings fehr zu beklagen, aber doch feinegwegs unverftändlich,
wenn bei den eindringenden Soldaten Mißtrauen und Feindidhaft gewedt werben,
Der beigifdhe Dolfskieg im Urteil der Neutralen 245
die leiht au für dem nichtfehuldigen Zeil der Bevölkerung verhängnispoll
werden können.
Es find au gleichlautende Berichte, die wir von den verfchledenen Kriegs⸗
fhaupläßen, von Belgten und Norbfranfreih, von Dftpreußen und Galizien
hören. Die Anflagen find immer die gleihen: Franttireurfrieg und Graufam-
teiten. — 8 find allerdings nur Deutiche, Ofterreicher und Auffen, die Gelegen-
beit befamen, in Feindesland zu Tämpfen. Wie Yranzofen und Engländer fi
benehmen würden, wiflen wir niit. Aber die franzöfiihen Nevolutionen, von
den Taten Nobefpierres und der Tricoteufes bis zu den Schreden der Kommune
1871 fpreden nicht für das Auftreten der Franzojen, wenn ihre Leidenidhaften
freien Lauf haben. Und wer den Londoner Mob auf der Deutfhenjagd gefehen
bat, ift fich jedenfalls Mar darüber, daß die Frage nicht mit der Behauptung
abgewiejen werden kann, England fet eine Nation von Gentlemen! Die Art,
wie die Ereigniffe in Dftpreußen in der englifhen Prefje beiprodden wurden,
fann vielleicht auch einen Yingerzeig geben. So wurde 3. 3. in einer englifchen
Zeitung (zittert nad) Harold Picton: „Is it to be Hate“?) gejagt, daß bie
Auffen eine Heine Stadt befegt hätten, wo einige der Einwohner in Heumagen
verftectt auf den Markt gefahren waren und auf bie ruffiihen Soldaten gefchoffen
hätten. Dies war fehr fehlimm für fie, fährt das Blatt fort, da die Nufjen
infolgebefien ‚die Stadt unbemohnbar madten. Das tft ja ganz Diefelbe
Gefhihte wie in Belgien, — aber was bei den Deutihen ein bimmel-
fchreiendes Verbrechen tft, da8 wird bier in einer englifchen Zeitung als etwas
ganz felbitverftändliches Hingeftellt, weil e8 die Rufen find, die es getan haben!
Aber noch ein Grund befteht, weshalb die Berbredhen in diefem Kriege
zahlreicher werben mußten al& die anderen. rüber beftand ein Krieg in ber
Megel aus einer Neihe beftimmt abgefonderter Schlachten in größeren oder
Heineren Zwifchenräumen. Die Leidenfchaften wurden während der Schladht
erweckt, aber wenn die Schlacht vorüber war, Tonnten fie wieder zur Nube
fommen. Diefer Krieg dagegen trägt in ungewöhnlidem Grade das Gepräge
eines andauernden Kampfes. Dies gilt nicht am wenigften für das Eindringen
des deutfchen Heeres in Belgien, wo ber Krieg nicht nur mit regulären Heeres-
abteilungen geführt wurde, fondern wo er hauptfähli ein Guerillaftieg war,
und wo man fi) niemals ficher fühlte. Niemals befamen die Leidenfchaften
Beit, fich zu legen, niemals Tonnten die Nerven zur Ruhe lommen. Eine un-
unterbrochenene Wanderung dur Kampf und Tod und Schreden.”
* *
Hiermit ſind Gads Ausführungen im weſentlichen erſchöpft. Der ſchonungsloſen
Verdammung, die er in ſeinem Schlußwort dem Landsmann Jörgenſen zuteil
werden läßt (der übrigens auch ſonſt in Dänemark vielfach abgelehnt worden
iſt)z, können wir nur beipflichten und müſſen es mit ihm bedauern, daß
246 Don der deutfhen Schrift
wieder einmal ein „Neutraler“, der zu einem objektiven SKritifer fo gänzlich
ungeeignet, fi feiner Verantwortung vor der Wahrheit und der Gefchichte fo
wenig bewußt ift, fi zum Schiedsrichter aufzumwerfen magt, und die abfichtli)
verleumderiſche Literatur diefes Krieges um ein elendes Bamphlet bereichert.
Um fo Iteber ftelen wir aber dafür feft, daß fih auch wieder ein Neu.
traler und au) ein Däne fand, der der bdereinftigen Gejchichtsichreibung einen
befjeren ienft leiftete und fi den Danf aller Freunde der Wahrheit und der
Vernunft erwarb.
Don der deutfchen Schrift
Don Dr. Buftav Rauter
efanntlich gilt es in recht weiten Streifen als höcft unmifien-
Ihaftlih und rädftändig, wenn der Deutfche feine Sprache mit
deutſchen Buchſtaben fchreibt; daß man etwa fo gefehmadlos fein
a lönne, fogar für andere Spraden deutfhe Schrift zu benugen,
= ericheint vielen Leuten heutzutage als fo unmöglich, daß fie diejen
* überhaupt nicht erſt erörtern. Nun, wir können uns tröſten; die deutſche
Schrift iſt keineswegs ſo unzeitgemäß, wie man uns einreden möchte, und was
die Wiſſenſchaft anbetrifft, ſo hat dieſe auch ihre Moden. So durfte in der
Aufklärungszeit kein Menſch es wagen, an Meteorſteinfälle zu glauben; denn
daß Steine vom Himmel fallen könnten, war durchaus in das Gebiet der Fabel
verwieſen. Ebenſo gilt heute der Einfluß des Mondes auf das Wetter vielfach
nur als ein Bauernmärchen, ſo lange, bis eben einmal jemand das Gegenteil
beweiſt. Und das Gleiche iſt auch mit der deutſchen Schrift der Fall, nur daß
hier gar nicht abzuſehen iſt, was die Sache eigentlich mit Wiſſenſchaft zu tun
haben ſoll. Denn ob ich deutſche oder lateiniſche Schrift verwende, iſt lediglich
Sache des Geſchmacks und der Zweckmäßigkeit, ſozuſagen der Ausdruckskultur,
hat aber mit Wiſſenſchaft nichts zu tun.
Nun aber heißt es: ja, die Wiſſenſchaft leidet darunter, wenn ich eine
Schrift gebrauche, die nicht in der ganzen gelehrten Welt von jedermann ge⸗
läufig geleſen wird, und dieſe Forderung iſt ja nur bei der lateiniſchen Schrift
erfüllt. Die Herren vergeſſen aber, daß derjenige, der kein Deutſch kann, mein
Deutſch auch mit lateiniſchen Buchſtaben nicht verſteht, und daß andererſeits die
Anwendung der deutſchen Schrift nicht allein auf die deutſche Sprache beſchränkt
iſt. In England findet fie als Zierſchrift in recht weitem Umfange Verwendung,
Don der deutfhen Schrift 247
in Frankreich gelegentlich. Finnish, Efthnifch, Littauifch werden mit deutfcher
Schrift gedrudt; im Bolnifhen mwenigftens vollstümlihe Bücher, wie Ausgaben
der Bibel. Daß Däniſch und Schwediſch mit deutihen Buchftaben gedrudt
wurden, tft no) nicht fo lange ber, und bei erfterer Sprache wohl au) nod
beute nicht ganz ungebräuhlid. Noch früher drudte man felbft Latein und
überhaupt alle germanifhen und romanifhen Sprachen mit deutfcher Schrift.
Sind dod deutiche und Tateinifche Schrift nicht zwei verfchiedene Schriften, wie
bebräifh und KHineflih, auch nicht einmal in dem Sinne verfchieden, wie griechiich
und ruffifd. ES handelt fi vielmehr nur um zwei Ausbildungsformen einer
und derfelben, fonft genau übereinftimmenden Schrift, einmal in ediger, fodann
in runder Form. Man lönnte 3. 3. ebenfogut der rundfchriftlihen Form der
ruffifhen Schrift auch eine edige, den beutfchen Buchftaben entfpredhende Form
der nämlichen Schrift zur Seite jtellen.
Da aber jagt man uns: ja, wenn deutfhe und Iateinifche Schrift Doch auf
dasfelbe hinauslaufen, wozu dann der Lärm? Bleiben wir alfo bei der Schrift,
wie fie die andern aud) haben. Aber das ift nur ein Trugfhluß; denn einmal
ift gar fein Grund vorhanden, warum wir Deutfchen gerade die Schriftform
wählen müfjen, die man als Iateinifhe oder Aundfchrift bezeichnet. Zwar jagt
3. B. Meyers Konverfationsleriflon — beflen Meinungen wir al8 Wiedergabe
desjenigen gern anführen, was in weiteren Streifen geglaubt wird — „in
Deutſchland befürworteten im neunzehnten Jahrhundert befonders %. Grimm
und jeine Schüler die Annahme der Antiqua ftatt der gotifchen Schrift, und es
wird jene jegt hanptfähli in der wiffenfchaftlichen Literatur, aber häufig aud)
fhon in der f&hönen Literatur, ja in der Tagespreffe angewendet. Dem Durd)-
dringen der Antiqua bei uns fteht vielfach: das Vorurteil im Wege, als fet die
gotifhe Schrift von Haus aus eine Cigentümlichleit der Deutichen gemefen.”
Das ift geradezu ein Schulbeifpiel eines Zirkelfhluffes: „Weil die Lateinifche
Schrift diejenige der Wiflenfchaft ift, darum ift fie die allein wiffenfchaftlich ber
rechtigte Schrift.” Und die Gebrüder Grimm in allen Ehren, aber ihre Ge-
wohnbeit, mit Iateinifcher Schrift zu fehreiben und Hauptwörter Hein zu druden,
war doc fchlieglih eine Schwäche, wie man fie gelehrten Leuten gerne verzeidt,
die man aber darum doc; nicht nadhahmen darf. Und wenn man fhon Zeugen
anführt, fo folte man fi) doc) Iieber an wirflihe Zeugen halten, die Gründe
angeben lönnen, al® an Eideshelfer, die nur ihre Anfiht in die Wag-
Ihale werfen. Da fagt nun Sant in feiner Nahfchrift zum Streit der
Fakultäten:
„Den Verfaffer der Kunft, das menfchliche Leben zu verlängern, darf ic)
alfo dazu wohl auffordern, daß er wohlmollend aud) darauf bedadt fei, die
Augen der Lefer in Schuß zu nehmen .. . Die jehige Mode will es dagegen
anders, nämlid ... . mit Iateinifher (wohl gar Kurfiv-) Schrift ein Wert
deutfchen Inhalts (zu druden), von welder Breitlopf mit Grunde fagte, daß
niemand das Lefen derjelben folange aushalte, als mit der deutſchen.“
248 Don der deutfchen Schrift
Nun, Kant hatte in feinem Leben genug gelefen, um ein Urteil in folden
Dingen zu haben, und er hat bier gleich fehr richtig den Punkt bezeichnet, auf
den es anlommt: die deutfche Schrift ift weit lesbarer und fchont das Auge
vtel mehr als die lateinifhe. Der Verfaffer diefes muß bier befennen, daß
auch er viele Jahre Iang der falfhen, von Kant befämpften Mode gehuldigt
und, weil e8 einmal der Braud) war, Yateintiche Schrift für fchöner und beffer
gehalten hat als deutſche. SYndeflen hat ihn die Erfahrung allmählich doch von
der Unrichtigfeit diefer Meinung überzeugt. Und in der Tat hieße der Eintaufch
Iateintfder Schrift für unfere deutiche nur, Gutes dur Schlechtere3 erjegen.
Wir wollen vielmehr umgelehrt fordern, daß die Iateinijhe Schrift immer mehr
dur die deutfehe verdrängt werde, und daß nicht nur die Wifjenfchaft, jondern
auch alle, die e8 angeht, die Lateinfchrift immer mehr verlaffen. Und warum
follten uns bier nicht auch andere Völker Lieber folgen, als wir ihnen? Denn
es tft nicht recht einzufehen, warum wir überall dem Ausland nachahmen follen,
und nicht Diefes gelegentli auch uns.
Ein anderer, jehr beliebter Trugfhluß ift der, daß, wenn man einen Satz
mit lauter großen Buchſtaben druckt, einmal lateiniſch und einmal deutſch, man
dann den lateiniſchen Druck ziemlich flott leſen kann, den deutſchen kaum. Was
folgt daraus? Nichts weiter, als daß große Buchſtaben ebenſowenig ein Wort
zuſammenſetzen ſollen, wie etwa lauter Lokomotiven einen Perſonenzug abgeben;
im übrigen ſind große Buchſtaben da, wo ſie hingehören, wohl am Plate, und
namentlich iſt die im Deutſchen übliche Schreibart der Hauptwörter mit großen
Anfangsbuchſtaben ſehr wohl geeignet, dem Verſtändnis des Leſers zu Hilfe
zu kommen.
Es wird auch eingewendet, daß die deutſche Schrift nicht die Verwendung
mehrerer Schriftarten nebeneinander geſtatte, wie es mit Antiqua und Kurſiv
bei der Lateinſchrift der Fall ſei. Das trifft nicht zu; wir haben wohl mehrere
Arten deutſcher Schrift, wie gewöhnliche Fraktur, Gotiſch und Schwabacher.
Wir können auch, wenn es durchaus verlangt wird, der lateiniſchen Kurſiv⸗
ſchrift Letiern mit deutſcher Schreibſchrift an die Seite ſtellen.
Und nun gleich bei Schreibſchrift zu bleiben, ſo ſei darauf noch aufmerkſam
gemacht, daß ſich auch dieſe vorteilhaft von ihrem lateiniſchen Gegenſtück unter⸗
ſcheidet; denn fie ſchreibt ſich wegen des Fortfalls der Rundungen bedeutend
flotter, wie man gleich ſieht, wenn man z. B. einmal eine ſchräge Zickzacklinie,
und ſodann eine Wellenlinie hinſchreibt; bei jener ſind nur zwei Schräg⸗
richtungen, bei dieſer noch drittens und viertens die wagerechten Richtungen
oben und unten an den Rundungen zu beobachten, alſo vier ſtatt zwei Richtungs⸗
wechſel vorzunehmen.
Nun, glücklicherweiſe iſt ja die Lage der deutſchen Schrift heute nicht mehr
ſo hoffnungslos, wie es noch vor einigen Jahren ſchien. Sollte damals der
befannte Reichstagsantrag auf amtliche Einführung der lateiniſchen Schrift ihr
ibn für allemal den Hals umdrehen, ſo hat doch gerade dieſer Antrag zuerſt
— ——
— —
x se ..e
* — 22
Don der deutfchen Schrift 249
wieder Veranlaffung gegeben, daß man fi Far machte, was auf dem Spiele
ftand. Dann bat aud) die Begeifterung des Jahres 1918 der deutfchen Schrift
wieder manchen Freund zugeführt, namentlich auch nadhdem Rofegger fih warm
zu ihren Gunjten ausgefprodhen hat. So ift auch zu hoffen, daß die gegen-
wärtigen Zeitumftände ebenfall$ der deutfchen Schrift wieder an vielen Orten
zum Gieg verhelfen werden. Zwei Stellen aber find e8 befonders, an die wir
uns bier wenden möchten, nämlich einmal die Behörden, die Doch in erfter Linie
alle ihre Drudfachen mit deutfchen Buchftaben druden Iafjen müßten, und die gerade
bier eine dringende, nahdrüdlich und wiederholt geflellte Forderung Bismards in die
Tat umzufegen berufen find. Zweitens aber die Herfteller und Benuger von Schreib-
mafdinen. Leider verleugnet diefer fonft jo nüsliche Gebrauchsgegenftand au
darin nicht feinen amerifanifhen Urfprung, daß man ihn faum mit deutfchen YBud)-
ftaben befommt; und wenn man fehon deutiche Schrift hat, fo ift fie meift fo fchlecht
gefchnitten, daß man faft die Abficht vermutet, dem Käufer fagen zu lönnen, daß die
Schreibmafchine fi ihrer Natur nad) eben für die deutfde Schrift nun einmal
nicht eigne. Namentlic aber diejenigen Herfteller, die Majchinen mit ausmwechfel-
barer Schrift liefern, können bier gar feine Entfhuldigung geltend maden und
dürfen dem Käufer nicht etwa neben zwei Dubend Arten Iateinifher nur eine
einzige Art deutfcher Schrift zur Auswahl vorlegen.
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FON
W
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—
Richtungen der Pſychologie
Don Dr. Mar Levy⸗Suhl
nmitten aller G@ridütterungen der Gegenwart fehen wir im
deutfhen Volle den edlen Drang nad Erkenntnis und willen-
Ihaftlicder Bildung um ihrer felbft willen unverändert erhalten
ITS | AA geblieben. So Tonnten auch auf Gebieten, bie dem Krieg und
a den Kriegsmiffenichaften fern Liegen, mie die Piychologie, eine
ganze Anzahl neuer Schöpfungen im Jahre 1915 erfolgreii an die Dffentlichkeit
treten. Zmei Meinere Werle, der befannten Sammlung „Aus Natur und
Geiftesmwelt" (Teubner, Leipzig) entitammend, haben in gemeinverjtändlidher
Meife den gegenwärtigen Stand der pfychologifchen Wiffenfchaft zur Darftellung
gebradit: Braunshaufen, „Einführung in die experimentelle Piychologie” und
vd. Alter, „Einführung in die Piychologie”. Daß fie aus der Hand zweier
verjehiedener Autoren gleichzeitig herausgegeben wurden, entiprang offenbar dem
von v. After au) ausgejprodhenen Gedanken, daß eine gegenfeitige Ergänzung
notwendig jet, und führt uns fogleich den feit Jahren berriefenden Grenzitreit
vor Augen, zwifchen den Vertretern einer philofophifchen und einer naturmiflen-
Ihaftliden Richtung, von denen jede in gleihem Maße die Piychologie als ihr
Horihungs- und Lehrgebiet in Anfprud) nimmt.
Die Betradhtung diefer Gegenfätlichleit zweier fonft voneinander ftreng
geihiedener Fakultäten vermag uns al Ausgangspunkt für die Frage zu dienen,
wa3 beute unter Piychologie oder Lehre vom Seelenleben verftanden wird, und
welde Mittel und Methoden zu ihrer Erforfchung bereit ftehen.
Zunädft: Wiffenfchafilihde Piyhologie bedeutet nicht Seelenfenntnis im
Altagsfinn, nicht das Verftändnis feinfter Gedanten- und Gemütibewegungen
beim Mitmenfhen, das tiefe Nacdhempfinden feelifcher Konflikte, wie wir e8 dem
Romanfcriftfteller, dem dramatifhen Dichter oder au) dem erfahrenen Arzte
zujhreiben, — e8 tft auch nicht jene Menfchenkenntnis, die befähigt, den Cha-
ralter der Mitmenfchen zu durdfchauen, ihre verborgenen Beweggründe und
Abfihten zu erraten, ihre Handlungsweife in biefer oder jener Lage voraus-
zufehen und Hug in Rechnung zu ftellen, wie wir e8 vom Diplomaten erwarten,
vom gemiegten Kaufmann, vom Verteidiger, aber auh vom Schwindler an«
gewandt jeben.
Diefe zur allgemeinen Weltfenntnis oder, wie Kant e8 nannte, „Pprag-
matiſchen Anthropologie” gehörenden Fähigkeiten beruhen einmal auf einer eher
Richtungen der Pfydyologie 251
Tünftlerifch-tntuitiven als wifjenfhaftlichen Begabung, in gleihem Maße aber
auch auf beruflicher Übung und Erfahrung. Sie können ohne jedes pfychologtihe
Wiffen beftehen und umgelehrt Tann ein mit der erperimentellen Piychologie
vertrauter Gelehrter durchaus weltfremd und in allgemeiner Dtenfhhenkenntnis
jedem Öberfellner unterlegen fein.
Was die mwifjenihhaftlihe Piychologie davon unterfcheidet, ift erftens,
daß ihr nächites Ziel nit auf das rforfhhen imdivinueller Seelen-
zuftände gerichtet ift, fondern, daß fie allgemein geltende Regeln und
Sejegmäßigfeiten des Seelenlebens aufzufinden fucdht; zweitens, daß ihre
Unterfuhung nit auf perjönlide oder praltifche Ziele gerichtet ift, fondern
zunädjft lediglich reine Erlenntniszwede verfolgt; drittens, daß fie nicht mehr
oder weniger zufälligen Einzelerfahrungen ihr Wiffen entnimmt, fondern methodifch,
d. h. von beitimmten Forfhungsprinzipien geleitet, ihre Beobachtungen anjtellt
und deren Ergebniffe ordnet. Die Subjeltivität, die zum Begriff des Seelen-
lebens gebört, bedingt es, daß fi ald Yorfchungsmethode der Piychologie in
erfter Linie die Selbftbeobadhtung des innenlebens darbietet oder in erweiterten
Sinne: „Die Selbftbeobadtung und dur Einfühlung vermittelte Beobadhtung
fremden Geelenlebens”, wie e8 v. After ausprüdt. Sie galt der Philofophie
als die einzige und natürlich gegebene Methode, und bildet auch für die ftrenge
philofophifhe Richtung der heutigen PBiychologte bei weiten den wefentlichiten
Zeil der Forihung. Demgegenüber mußte jebem, der bie außerordentlichen
Erfolge der experimentellen Forfcehfungsmethode in Naturwiffenihaft und Technik
gejehen, der Verfudh, das Experiment au in die Piychologie einzuführen, wie
es Weber und Fechner vor etwa 60 Jahren unternahmen, überaus verheißungs-
voll eriheinen. Dbmohl die von jenen Forfehern gefundenen Zahlenverhältnifie
zwiſchen Reizftärfe und Empfindung fih nit als ein wirkliches Gefjeh des
menfhlihen Seelenleben3 ermiefen, fo haben doch ihre zum erften Male an-
geftellten Verfuche die Entitehung der heute fo weit fortgejchrittenen Wiſſenſchaft
der erperimentellen Piychologie herbeigeführt.
Die ftrengften Vertreter diefer Richtung haben das Ziel, gleich den Natur-
wiflenicaften, lediglich durch das Experiment die Gefebe des Seelenleben3 zu
finden, die unfiheren Faftoren, die mit der Methode der Selbfibeobadtung
ftetS verfnüpf: find, auszufchalten, und damit jegliche philofophifche und meta-
phufifhe Spekulation in der Betrachtung der Geelenvorgänge zu befeitigen.
Die Pſychologie ſoll eine medizinifch-naturmiffenfchaftliche Difziplin fein.
Und do murde fhon von Loge und vor ihm von Kant überzeugend
dargelegt, daß die unendliche Mannigfaltigfeit der feelifchen Zuftände, ihr Wechiel
von Berfon zu Berfon, von Sekunde zu Selunde, das Auffinden von Gefeten
in naturwiffenfhaftlidem Sinne, d. d. mathematifd anmwendbarer, unmöglich
madt. ES Tann nicht gelingen, einen gegebenen Seelenzuftand irgendwie
rechnerisch zu erfaffen, und durch Anwendung von Gefegen die künftigen Zu-
fände vorauszuberechnen, fo wie wir etwa mittelS des Grapitationsgejepes den
252 Richtungen der Pfydhologie
Stand von Sonne und Mond oder die Fallgefehwindigleit eines Körpers für
irgendeinen Zeitpunft vorauszufagen vermögen. Wenn wir aber aud) auf
diefes böchite Ziel mathematifhen Erfaflens des Seelenlebens verzichten, und
uns mit der Feftitellung allgemein geltender Regeln begnügen, bleiben für ein erpe-
rimentelle8 Furfchen in der Piychologie große Erfmerungen und Einjdyräntungen
gegenüber den Naturmifienichaften beftehen: um die Gejege des Falles zu
erproben, fann ich mich ein und desjelben Objektes beliebig oft unter verjchiedenen
Berfuhsbedingungen bedienen, oder mir, etwa bei chemifchen Experimenten, be-
liebig viel gleiche Mengen desfelben Salzes bereit halten. Der Menich jedoch,
in dem jedes feelifhe Erlebnis eine Gedädtnisfpur zurüdläßt, fteht der Wieder-
Holung eines Verfuches, fei e8 auch nur ein Nechenerempel, als ein bereits
verändertes Verfuhhsobjelt gegenüber, und ebenfo ift eg unmöglid, aud nur
zwei Lörperlih und geiftig annähernd gleiche Verfuchsperfonen zu befchaffen.
Schließlid — und auch) diefes Hemmnis führt Kant in feiner Anthropologie
an — muß das Wiflen der Verjudhsperfon, daB es fih um ein Erperiment
handelt, die natürliche feelifche Reaktion vielfach ftark beeinfluffen und vermag
eine völlige Entftelung des NefultatS zu bewirken; am meiften tritt diefe
Schwierigkeit bei Verfuchen, etwa den Zuftand der Freude, Angft, Liebe, Zweifel,
Entiloffenheit, oder Eigenfhaften wie Mut, Lügenbaftigleit, Faulheit ufm.
einem Experiment zugänglich zu machen, zutage.
Daß fi die experimentelle Piychologie nicht ahfchreden ließ, troß biefer
Hinderniffe — foweit fie fie zugab — den Aufbau einer Wiffenfchaft zu verfuchen,
muß vor allem anerfannt werden. reilicd ergab fi dabei die Notwendigfeit,
fompliziertere und höhere Seelenvorgänge zunächft ganz außer Betracht zu laffen,
und fi) vielmehr auf Die Unterſuchung einfachſter jeelifher Vorgänge zu befchränlen,
oder aber, mit Lünftlih vereinfachten geiftigen Prozeffen zu experimentieren.
So wurden die Reaktionszeiten und ihre Typen für die verfchtedenen Sinnes-
eindrüde genaueftens erforfät, der Bemuptfeinsumfang für tachiftoffopifch vor⸗
geführte Wortbilder feftgeftellt, und damit auch die Vorgänge des Lefens analpyftert,
die Vorzüge der verfehiedenen Buchitabentypen und Sabmweifen in egalter Beife
aufgellärt. Die befannten Lernverfuche, mit fünftlich gebildeten finnlofen Silben an-
geitellt, gaben Aufklärung über die Bedingungen, die Art und die Einflüffe der Merl-
fähtgfeits- und Gchächtnisleiftungen. Durch die dem wirklichen Leben fremden, in
der Piychtatrie aber fchon erfolgreich verwendeten Wortzuruferperimente, die jahre.
lang den pfy&hologtihen Laboratorien Arbeitsjtoff gaben, fuchte man Die Gefeße ber
Borftellungsverfnäpfung (Affoztation) feftzuftellen, und glaubte damit auch un-
bemußte, ia felbjt abfi'htlih verborgene Gedanfen- und Gefühlsvorgänge offen
zutage legen zu Können (Komplerforfhung, erperimentelle Überführung von
Verbrechern). Ob freilih die Nefultate diefer und ähnlicher VBerfuchhe nicht
ledigli al8 „Laboratoriumsprodulte” anzufehen find, oder ob ihnen wrifli
allgemeinere Geltung und Anwendbarkeit zufommt, ift eine bis heute noch nicht
ganz entfchtedene Frage.
Ridhtungen der Pfydologie 958
Sicherer und wertvoller, wenn aud) durch eine Meinere Zahl gelungener
Grperimente geftüßt, erwiefen fi) die fogenannten Ausfageverfuche, bei denen
der Berfuchsleiter eine wirkliche Situation des Lebens nad einem vorbedadten
Plan berbeiführt und die Teilnehmer danach als Zeugen protofollarifch ver-
nimmt. Schon das erfte im Liszt’fhen Triminaliftiichen Seminar ausgeführte
Srperiment bradite befanntlicd den Nachweis, wie fehr die Ausfagen auch beft-
williger Zeugen dur Wahrnehmungstäufhungen und Suggeftionen gefälicht
werden Tönnen. Eine große Zweigwifjenfchaft der experimentellen Piychologie,
die Piychologte der Ausfage, wurde unter Zuhilfenahme bildlich dargeitellter
Borgänge bierauf aufgebaut.
Ein erafte8 Unterfuhungsverfabren bat die experimentelle Piychologie
weiter für die fogenannten Begleiterfdeinungen der Gefühle im Anfchluß an
bie Phyfiologie ausgebildet. Sene heute aufs feinfte mehbaren Veränderungen
ber Atmung, des Pulfes, der YBlutverteilung und der galvanifchen Leitung im
Körper, die die Gefühlszuftände in mehr oder weniger charalteriftiicher Weile
begleiten, Tönnen naturgemäß nur al8 äußere Signale der feelifhen Borgänge
dienen, vermögen dagegen nicht die fubjeltive Betrachtung und Analyje des
inneren @rlebens zu erfeßen.
Eine große Ausdehnung und Bedeutung haben die utelligenzprüfungen,
befonders durch ihre Beziehung zum Schul- und Hilfsiehulwefen, zum Jugend-
gericht, Fürforgemwefen, Militärdienft und zur Piychiatrie erlangt. Zahlreiche, teils
wertvolle Methoden find aufgeftellt worden, um die Altersitufen normaler \yn-
telligenzentwidlung und ben Grad ihrer Abweichung feftzuftelen... Da eine
einheitliche Definition des Begriffes Intelligenz nicht eriftiert, Antelligenz ſich
vielmehr in individuell wechfelnder Weife aus den verfchiedenften Befähigungen
und Senntniffen zufammenfegen lanın — man denle an mathematifche,
literarifche, Ipradhliche, Tünftleriihe Begabung — fo wird die Bewertung einer
Sntelligenzprüfung doch ftet8 eines erfahrenen Beurteilers bedürfen, und ein
allgemeiner, objektiver Kanon nur in beichränktem Sinne aufitellbar fein. Will
man diefe Prüfungen den pfychologifhen Erperimenten zurechnen, jo können fie
eö nur in dem Sinne fein, in dem auch jedes Diktat, jedes Ertemporale ein
Erperiment bes Lehrers ift, und nur bie fyftematifche Ausführung und Bearbeitung
der Refultate verleiht ihnen den wifjenfchaftlichen Charakter. Die Berehtigung,
als ein pfychologifches Experiment zu gelten, muß dagegen ganz abgejprocdhen werden
dem in Amerila bejonders beliebten Verfahren, durdd ausgefandte Fragebogen
über alle möglichen inneren Exrlebniffe, über Frönımigfeit, Belehrungen, Lügen-
baftigleit, Abnungen, BeobadhtungSmaterial zu erhalten. Diefe unfontrollierbaren
foriftliden Mitteilungen verdienen höchftens die Bezeichnung einer ftatiftiichen
Sammlung; ihre Fehlerquellen find unberechenbar, und größer als die jeder
wiſſenſchaftlichen Selbſtbeobachtung.
Im letzten Jahrzehnt hat ſich die experimentelle Pſychologie in natürlicher
Entwicklung auch der Analyſe höherer Bemwußtfeinsoorgänge, den Denl- und
-
254 Richtungen der Pfychologie
Willensprogeffen zugewandt, die, wie wir früher fahen, ihr ganz verfchloffen zu
fein jhienen. Bei genauerer Betrachtung zeigt fi jedod, daß bier nichts
anderes als eine geordnete Selbjtbeobadhtung vorliegt, mit der Ergänzung, daß
ein pſychologiſch geſchulter Werfuchsleiter beftimmte Anordnungen dazu erteilt,
zeitliche Mefjungen ausführt und die Berichte des Selbitbeobadhters protofofliert.
Will man die fo gewonnenen Angaben der „Denk. und Willenspiychologie” zur
erperimentellen Wifjenfchaft rechnen, jo Tann dies wohl in fehr ermweitertem
Sinne gejhehen; man darf fi aber nicht verfchweigen, daß dumit der Unter-
{chied zwifchen der experimentellen und der belämpften Piychologie der Selbft-
beobadhtung zufammengejhhrumpft ift auf ein äußerlich erakteres Inswerkſetzen
und ein genaueres, Teineswegs aber gegen Yehlangaben gefchüttes Protofollieren.
Nur flüchtig Tann der mit den Fortichritten der pſychologiſchen Forſchung
vielfeitig verbundenen pfyhologiihen Hilfswifjenichaften Erwähnung getan werden.
Auch für fie ergibt fih bei der Gefamtbetradjtung, daß die objeltive, erperimentelle
Richtung der analyfierenden Selbitbeobadhtung und Einfühlung nicht entbehren
fann, und fie, fei e8 bewußt, fei e8 unbewußt, zu Hilfe nimmt.
ALS fjolde Hilfszweige gelten die Völferpfychologie, die Pfiychopathologie,
die bypnotiihe Wifjenfchaft, die Tierpiychologie, die Kriminalpiychologie, ferner
die Ddifferentielle und die Kinderpfychologie, von denen die beiden lebten, wie
übrigens au die Piychologie der Ausfage, mit dem Namen W. Sterns eng
verknüpft find. Während die Piychologte von den individuellen Befonderbeiten
nod ein unabfehbares Arbeitsgebiet vor fi bat, vermochte Stern, der nad)
Preyers Vorbild an feinen eigenen lindern forgfältige Beobacdhtungen, gemeinfam
mit feiner Frau fyftematifch dDurchführte, in einem 1914 erfchienenen Werl „Piycho-
logie der frühen Kindheit” (Duelle u. Meyer, Leipzig), eine zufammenfafiende,
treffliche Überfiht der Piychologie des Kindes bis zum fechften Lebensjahr zu
geben, und darin aud) weiteren Kreifen den praltiichen Nugen der Forfchung für
eine auf gerechten Grundlagen aufgebaute intellektuelle und fittlihe Erziehung
zu zeigen.
Maßgeblihes und Unmaßgebliches
255
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Geſchichte
Quellenſaumlung fur den geſchichtlichen
Unterricht an höheren Schulen, herausgegeben
von G. Lanıbed, Geh. Neg.-Rat u. Ober- Meg.»
Nat 6. d. Provinzialihultollegium Berlin, in
Verbindung mit Profeffor Dr. %. Kurze-Berlin
und Oberlehrer Dr. $. Rähfmann: Leipzig.
Berlag von B. 8. Teubner, Leipzig und Berlin.
1918 ff.
Deutih fein Heißt: den Dingen auf den
Grund gehen. Die Reformation, die Tantifche
Bhilofophie, die Wiffenfhaft vom Anfang des
19. $ahrhunderts bis zur jüngften Gegenwart —
dDiefe drei unfterblihen Zeiftungen des deutfchen
Geiſtes — fie zeugen von der Wahrheit jenes
Borted. An einem befonderen Maße gilt e3
bon unferer heutigen Gefhichtswiflenihaft. Die
Ramen Riebubr und Ranle, Mommfen und
Eduard Meyer jagen genug. ch meine hier
nicht die Geihihtichreibung, fondern die Ges
Ihichteforfhung: die Erjchliegung der Quellen:
ihre umfaffende Auffindung und fyftematifche
Sammlung; ihre kritifhe Sichtung, unerreichte
Analyje und dementipredhende Wertung und
Verwertung.
Mit der deutihen Viffenihaft Hat unjere
böbere Schule, d. 5. in erfter Linie unjere
Gymnafien, ftet® in enger Verbindung ge-
ftanden. Gerade darauf beruht mit ihr einzig»
artiger Wert, der fie von den höheren Schulen
3. ®. Englands grundlegend unterjcheidet.
Hat doc die deuifche höhere Schule die Fort»
jhritte der Forihung ftets mit lebendiger
Zeilnahme begleitet und in vielen ihrer beiten
Vertreter durch felbftändige Mitarbeit ger
fördert. Es iſt daher nur natürlid, wenn
angeficht® der märdenhaften Erfolge unferer
Geihihtswifienihaft ein berufener Vertreter
des preußiihen höheren Schulwefens den Ge-
danlen gefaßt bat, eine Auglefe aus den Quellen
der geſamten Geſchichte von der myleniſchen
Periode bis zu Bismards Entlaſſung in einer
Anzahl von Heften allgemein zugänglich zu
machen. — Unter Geſchichte verſteht der Heraus⸗
geber natũrlich die geſamte geſchichtliche Ent⸗
wicklung der Menſchheit, von der die politiſche
nur ein, wenn auch noch ſo wichtiger, Teil iſt.
Ein ſo weitausſchauendes Unternehmen
war nur bei weitgehendfter Arbeitsteilung möge
lid. Und — man darf ed heute mehr denn je
mit Stolz fagen: e8 war nur in Deutichland
möglid. Freilich, wie weit da8 groß Gedadhte
Birflichleit werden follte, da8 bing in erfter
Linie von der Bliederung der ungebeuren
Stoffmafie und von der Auswahl der Mit-
arbeiter ab. Aber nad den bisher erfchienenen
etiva 50 Heften zu urteilen, ift der Heraus
geber in der Auswahl der Mitarbeiter geradezu
erftaunlic) glüdlih gewefen. Ya, es fcheint
nit zu viel gefagt, daB die8 Unternehmen’
eine neue Epoche in unferem Geichicht3unter-
richt — hoffentlich auch der Volksſchulel —
heraufführen wird, in unſerem Geſchichtsunter⸗
richt, der gerade durch den jetzigen Weltkrieg
eine von vielen ungeahnte Bedeutung erhalten
hat, die nie wieder verdunkelt werden kann.
Hier aber ſei in äußerſter Kürze verſucht,
nicht vom Standpunkt der Schule, ſondern
vom Standpunkt des Hiſtorilers aus anzu⸗
deuten, welche Bedeutung dies monumentale
Unternehmen für unſer Volk überhaupt ge⸗
winnen kann.
Die ganze Sammlung iſt in zwei Reihen
negliedert. Die erjte (I) gibt in 17 Heften
(jedes Heft umfaßt 32 Seiten und ift für 40 Pf.
einzeln Täuflich) eine Auslefe auß den Quellen
für die Hauptereigniffe der gefhichtlihen Ente
widlung. Ich nenne einige Titel: 13: Alexander
der Große und der Hellenismus. 16: Die
römilhe Kaijerzeit und die Germanen. 17:
Böllerwanderung und Franlenreih. I 10: Mer
formation. 116: m neuen Deutfchen Reid.
"Bon folden der zweiten Reihe, für die etiwa
100 Hefte in Augfiht genommen find, um für
die einzelnen geihichtlihen Erjheinungen
ein erlefened Quellenmaterial zu bieten: Il 1:
Berifleg. 116: Die Ausbreitung der griedhie
[hen Kultur. II 9: Die Grachische Bewegung.
11: Die religiö3-philofophifche Beivegung bed
Hellenismus und der Kaiferzeit. 18: Staat
und Berwaltung der römijchen Kaiferzeit.
256 Maßgeblihes und Unmaßgeblidhes
34: Die Möndsorden. 87: Die Hanfa.
42: Soziale Bewegungen im 16. abrhundert.
97: Breußifche Kulturarbeit im Often. 78: Die
Gründung de3 Deutichen Neihes. — Al
Beifpiel ded QDuelleninhalt® nenne id) aus
Seft 98 „Der deutfhe Ritterorden“ den
vierten Abfchnitt: I. Ländliche Kolonifation:
1. Anfiedlung eine3 deutfchen Ritter? (1. %.1286).
2. Anfiedlung polnifher NMitter (13. Xahre
Bundert). 8. Zandverleihung an einen Litthaui«
[hen Bauern (1808). 4. Gründung eines
deutihen BDorfe® (1298). 5. Erweiterung
einer Dorfflur (1824). II. Städtifche Kolo⸗
nifation: 1. Aus der „Kulmifhen Handvefte”.
2. Auß der Satung des Kulmer Artushofes.
8. Auß der Kulmer Billfür: „Won Handiwerlde
Mmedten und Dienftboten und funderlih don
Schmiedelnehten“. 4. Sraudenzer Handels
pribileg (1818).
Außerdem ift ingwifchen eine Neihe von
Heften über Vorgefhichte und bißherigen Ver»
lauf des Weltfrieges in Worbereitung.
Auch der Geſchichtskundige, d. h. ſelbſt der
Hiſtoriler, der heutzutage unmöglich das ge⸗
ſamte Gebiet der Geſchichte oder auch nur
der deutſchen Geſchichte quellenmäßig zu be—⸗
herrſchen vermag, wird durch die in einzelnen
dieſer Hefte dargebotenen Quellen vielfach ihn
überraſchende neue Einblicke und Beleuch⸗
tungen erhalten. Es iſt doch etwas anderes,
wenn wir z. B. von Hannibal ein Papyrus⸗
bruchſtück aus dem Werk ſeines Vertrauten
Soſylos, von Alexanders Verhalten gegenüber
der Meuterei in Opis die Darſtellung eines
Augenzeugen wortgetreu überſetzt leſen, als
wenn wir eine moderne Darſtellung heran⸗
ziehen. Und über die Mönchsorden gewinnt
auch der Proteſtant eine andere, richtigere
Anſchauung, wenn er 3. 8. die dentwürdigen
Stüde auß der Regel des Benedict von Rurfia
lieft. Und wie bewunderndwert, ja berebrung®e
würdig erjheint un® auf einmal Friedrid
Wilhelm I. in jenen Urkunden und Alten»
ftüden, die und da8 ausgezeichnete Heft II 97
„PBreußiihe Kulturarbeit im Often“ bietet!
Und auf der anderen Seite geben die Quellen
befte zur griehifhen Gefhihte und Kultur
ein fo meifterhaft erlefene® Material, daß
felbft dem ded Griehifhen nicht Tundigen
Laien überwältigend zum Bewußtfein lommen
muß, daß aud in dem blutigen Bölferringen
der Gegenwart, ja gerade jet, wo fo biele
ideale Werte in Frage geitellt werden, bie
Berfentung in diefe unvergängliden Schäge
einen tiefen Sirm und Ywed hat.
Man dringt denn do ganz anders in
ben @eift einer Kulturperiode ein, wenn ihre
Zeugen felbft zu einem fpreden. Wir erfaßren
dabei auch aufs neue, wie bedeutende ges
[Hichtlide Vorgänge und Perfönlichleiten von
den Beitgenofien ein und derfelben Epode
oft ganz verfchieden aufgefaßt werben. So
bei den NRömern die Grachifhe Bewegung,
bet und der Bauernfrieg oder die Reformation.
So vermag fi der nachdenflihe LXejer aus
diefen „Quellen“ in vielen Fällen feldft ein
biftorifche® Urteil zu bilden, was bei der
Lektüre auch des beſten Geſchichtswerkes doch
nur ganz ſelten möglich iſt.
Kurz, dies Unternehmen iſt wahrlich nicht
nur für die Kreiſe der höheren Schule von
nie veraltendem Wert, ſondern für die Ge⸗
bildeten deutſcher Nation überhaupt, zumal
für die kommende Generation, der der Welt⸗
krieg die Bedeutung hiſtoriſch⸗politiſcher Er⸗
tenntnis info erfhütternder WVeife offenbart hat.
Dr. W. Eapelle
Allen Manuflripten ift Porto Kinzuzufügen, ba andernfalls bei Ablehnung eine Nädfenbung
| nicht verbürgt werben Tann.
Nachdrud ſamtlicher Aufſatze aur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Berlags geſtattet.
VDerautwortlich: der Herausgeber Georg Cleinow in Berlin⸗Lichterſelde Weſt. — Manuſtriptjendungen und
Briete werden erbeten unter der Abreſſe:
Un ben Geraudgeber der Grenzboten in Berlin - Lichterfelde We, Gteruftrafe 56.
Bernipredder des Herausgeberd: Amt Lichterfelde 498, be3 Berlags und der Gchriftleitung: Amt Lügom 6510.
Berlag: Berlag ber Srenzboten ©. m. 5. H. in Berlin SW 11, Tempelbofer fer 85a
Drud: „Der NReihsbote" ©. m. 5. 9. In Berlin SW 11, Defiauer Gtraie 86,37.
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Die franzöſiſche Internationale
Von Dr. Fritz Roepke
„Die Proletarier haben kein Vaterland“
Karl Marx
Jurch Marx hatte der Gedanke einer internationalen Annäherung
\ neue Entwidlungsmöglichleiten befommen. Bisher war er Eigentum
8 der Philanthropen und Aufklärer gemejen, die mit ihm ein geiftiges
WEN und eihifches deal verbanden. Marr gab ihm eine neue, ma-
= terialiftiiche Grundlage und forderte die wirtfehaftliche Umgeftaltung
der x Gefelfeiaft ohne Rüdfiht auf die nationalen Grenzen. Durd) die Schaffung
des Begriffes Klafjenlampf ergab fi) eine neue Einteilung, ein Duerfchnitt, der
nicht fo jehr den gefchichtlihen Aufbau der Kulturmenfchheit erkennen Tieß als
die Gleichheit der Lebensbedingungen unter fich verjchieden gearteter Schichten.
Sn folgerichtiger Durchführung feines Syftems fahte er den Gedanken einer
internationalen Arbeitervereinigung. „Arbeiter aller Länder, vereiniget Euch!“
E3 hat in vielen Ländern Jahre gedauert, ehe diefer Auf feiner Abftraktion
entkleidet wurde, biS er greifbar geworden war und Taten auslöfte. Alm
Inelliten wurde dies in Frankreich erreiht, wo von jeher Syitembildungen
religiöfen Glauben und praftifchen Fanatismns erzeugt haben. Der Hang zur
Symmetrie, die Neigung, Jdeen und theoretifhe Konftruktionen in die Wirklichkeit
zu projizieren, führte von Rouffeaufhen Gedanken, von der Crflärung der
Menichenrechte und dem „Ecrasez l’infame“ Voltaire geradenwegs zur Gleidh-
macherei und Demoftatifierung und blindem, einfeitigem Haß gegen alles Kirchliche.
Revolution und Antiklerilalismus find die unmittelbare Fortführung von deen
und Theorien mit anderen Mitteln. So fanden fi in Franfreih au am
ihnelliten bemwußte Anhänger des internationalen Gedantens, der allerdings
gerade bei der fonjtruftiven, gradlinig dogmatifchen und weniger empirifchen
Grenzboten I 1916 17
258 Die franzöfifche Internationale
Veranlagung der Franzofen einen eigenen, nationalen und ftrengen Zujchnitt
erhalten mußte.
1862 famen zum erften Diale franzöfifche Arbeiterführer zu Mare nad
London, nachdem bereit3 eine internationale Korrejpondenz eingerichtet war und
die Weltausftelungen einen Gedanfenaustauf nahegelegt und erleichtert hatten.
Zwar blieb der Begriff der Internationale vorläufig no unfiher umgrenzt.
Doch bildeten die Zufammenkünfte ein Gemeinfamleitögefühl heraus, daS bei
drohenden internationalen Werwidlungen fofort Lebenszeihen von fi gab.
1867, als der Streit über Luremburg ausbrad), wurde in Berlin, Paris und
der Schweiz proteftiert. Auf dem Kongreß desjelben Jahres zu Laufanne
wurde erflärt: der Krieg lafte hauptfächhlich auf der Arbeiterflaffe und bebrobe
das internationale deal des Proletariats; die ftehenden Heere müßten ab-
geſchafft, der Friede aufrechterhalten bleiben.
So drohte die ſoziale Internationale im Gegenſatz zur geiſtigen, von der
ſie gleichwohl die humanitäre Sentimentalität geerbt hatte, ſogleich in das innere
Leben des Staates einzugreifen. Das erkannte man jetzt auch in Frankreich,
wo die kaiſerliche Regierung, in liberale Bahnen einlenkend, den Arbeiter⸗
vereinigungen zuerſt gewogen war. Die Pariſer Kommiſſion wurde von der
Polizei aufgelöſt, wirkte allerdings im Geheimen weiter und ſandte auch ihre
Vertreter zu dem Brüſſeler Kongreß (1868). Der radikale und revolutionäre
Trieb, der eine Eigentümlichleit der franzöfifchen Raſſe iſt, tritt hier bereits
Har hervor und fucht fih zur Geltung zu bringen. Das franzöſiſche Mitglied
Longuet ftellte folgenden Antrag, den die Verfammlung annahm: Der Kongreß
empfehle den Arbeitern, im Yalle eines Krieges jede Arbeit einzuftellen; im
Vertrauen auf die Solidarität aller Länder erwarte er, daß alle mittun werben
in diefem Sriege gegen den Frieg. So ging der erfte Borfchlag, im Falle
eines Krieges fih gegen bie eigene Regierung aufzulehnen, von ben Fran
zoſen aus.
Jedermann, zumindeſt die Eingemwethten der Internationale, mußten banad)
im Yahre 1870 die Revolution der franzöfifcden Arbeiterpartei erwarten, zumal
{ihre Regierung den Krieg herausgefordert hatte. Aber e3 fam anders. Die
Pariſer Internationale batte einige Zage vor Ausbruch der Yeindfeligleiten
folgende Kundgebung veröffentlit: „Deutihe Brüder! Bleibt taub gegemüber
den unfinnigen Herausforderungen, denn der Krieg zwifchen uns märe ein
Bruderkrieg”. Anhänger des programmlofen Blanquismus machten in Marfeile
den vergeblihen Berjudh, in dem Augenblid das Rathaus zu ftürmen, als fid
einige Arbeiterführer vor dem Lyoner Gericht wegen Teilnahme an ber Snter-
nationale verantworten follten. Doch blieb diefes Unternehmen volljtändig ver-
einzelt und fand im ganzen Lande feine Nahahmer.. Man war allgemein ber
Überzeugung, daß die Verf ämörer von der Laiferlichen Regierung geftellte Polizei»
{pigel waren, während bie Negierungspreffe von preußifchem Golde fprad.
Richard, einer der einflußreichften Sogztaliften, fühlte „angeficht3 diefes großen
Die franzöfifhe Internationale 259
Krieges eine patriotifhe Aber in feinem Herzen erzittern” und fhwärmte, als
der ruffiihe Revolutionär Balunin eine Vollserhebung voriählug, von dem
„glorreihen Bazaine". Die Verfolgungen der Taiferlihen Polizei hatten bie
Lebensfähigkeit der internationalen Altion in Frankreich faum bedroht, der Krieg
vernidhtete fie. Die Kommune war zwar als föderaliftiicher Verſuch ſtaats⸗
feindlih, war aber fonft mit dem MWefen und Zwed ber Internationale in Feiner
Weife verbunden; ihr Ziel war die freie Gemeinde. Was fi fonft an
fozialiftiicher Tätigkeit bemerkbar machte, war durhaus auf den Ton der
„guerre A outrance“ (Stil Gambetta) geftimmt und fucdhte nur die nationale
Berteidigung zu befchleunigen und zu verftärfen. Wie 1792 der Konvent, fo
gebärdeten fi jebt, befonders nad) dem Sturz des Kaifertums, die Sozialiften
und Radilalen als die lauteften und unerbittlichften Patrioten und Kriegsfreunde.
Unter diefen Umftänden erfcheint das Gefe vom Jahre 1872, nad) dem
die Teilnahme an der Internationale mit Geldftrafe, Gefängnis, Verluft ber
bürgerlihen Ehrenredite und Polizeiaufficht beftraft wurde, im Gegenfab zu den
Berfolgungen durch die Faiferliche Polizei al8 eine Maßregel von weit geringerer
Anwendung. Benn bier folten nur die paar Kommuniſtenführer unſchädlich
gemacht werden, die fih nad) London geflüchtet und dort nur äußerlihen An-
fhluß an die Marriche Gefolgichaft gefunden hatten. Eins bewirkte das Gefek
allerdings: die Zerfplitterung der fozialiftifchen Kräfte und Xpeen. Die meiften
Arbeiter verliefen fih in die raditale Partei.
Der internationale Gedanle und der Widerftand gegen den Strieg hatte
durchaus an Kraft und Synterefje verloren. ALS 1873 der Tonfervativ-Merilale
Plan, den Kronprätendenten Grafen von Chambord zum König von Franfreich
zu falben, mißlungen war, beteiligten fidd zahlreiche Soztaliften an der einfegenden
bonapartiftifhen Agitation, obwohl man über den Sinn de Sabes „I’Empire
c'est la paix“ nicht mehr im Unflaren fein Tonnte.
So war die erfte Internationale tot. Geftorben am Krieg, den fie ber
feitigen wollte. Das Feld überließ man dem Anardhismus, der die freie Per-
Tönlichkeit verfündigte und die gemwaltfame Loslöfung vom Staate forderte. Cr
war allerdings zu jehr Utopie, um die Verwirklihung des nternationalimus,
einer Frage von fo ungeheurer praftifhen Bedeutung, zuzulafien. Der So-
zialismus entwidelte fi feit dem Srieg innerhalb der nationalen Arbeiter-
verbände. Auf den erften franzöfifhen Landestongreflen fommt der internationale
Gedanfe gar nicht zum Ausdrud. Eine Berftändigung fchten au) umfo un-
möglicher, als die Franzofen fi) immer mehr in den Kreis Baluninfcher Ydeen.
einzwängen ließen, während 3. B. die Deutfchen Karl Mare anbingen.
Erit als der Marrismus aud in Frankreich fiegte, befam die Lehre von
der Solidarität der Arbeiter gegenüber dem Kapitalismus wieder eine größere
internationale Bedeutung. uesde ftellte in gemeinfamer Arbeit mit Marz und
Engels ein foztales Programm auf. Auf dem Kongreß zu Paris (1889) bielt
man zwar an ber Selbftändigfeit der nationalen Verbände und der Bewahrung
17°
260 Die franzöfffhe Internationale
der nationalen Eigenart feft, forderte aber die Herftellung internationaler Be⸗
ziehungen (Korrefpondenzen, Erlennungsmarlen ufw.).. In Anwendung Tam
diefe Forderung gleich im nächften Jahr bei Einführung der Maifeier, die ja
einen Weltfetertag bedeuten folte Auch die Sriegsfrage fam auf dem inter-
nationalen Sogialiftenlongreß zu Brüffel (1891) wieder zur Erörterung. Sie
wurde hier in marziftiidem Sinne dur einen Beichluß gelöft, den Vaillant,
der „bdeutfchefte unter den Franzofen“ (Bebel) und Liebinecht beantragt hatten:
alle Arbeiter follen in ftändiger Agitation gegen alle Kriegsmünfche proteftieren;
um den Krieg abzumenden, tft die internationale Organifation des Sozialismus
zu beichleunigen; der Sozialismus wälzt im Kriegsfalle die Verantwortung auf
die leitenden Klaffen ab. Die Betonung der natürliden Entwidlung, bie fi
in diejfer Refolution ausjpricht, ift durchaus deutfh. Und fo behielt der inter-
nationale Gedanke dank dem fteigenden bdeutihen Einfluß immer noch einen
platonifgen Charakter. Nirgends war ausgefprodden, daß die Enteignung ber
Produltionsmittel die gewaltfame Zerftörung der beftehenden Staatengebilde
bedingen würde. Man dachte fich für den zulünftigen Arbeitsftant eine fi)
infolge der Lohnregelung von felbft ergebende allgemeine Harmonie. Der
Sozialismus war zwar international und revolutionär, aber doch nicht aus
geſprochen antinational. Diefe anardiftiide Zufpigung erhielt er erit in Franl-
rei und zwar dur die Entwidlung der franzöfliden Gemwerfichaften.
Die Gemwerkvereine, die zuerft in Anlehnung an die praftiih ausgebauten
engliihen Trade Unions ſich jachlihen Berufsftagen zugewandt hatten, wurben
in den achtziger Jahren beim Siegeszuge des Marzismus in Franfreih von
follektiviftiihen been überflutet. Erft nach Hinzutritt der rein beruflich und
wirtihaftlich organifierten Arbeitsbörfen (1895), die bald die Führung über-
nahmen, fann man wieder von einer eigentümlichen gemwerlfchaftlicden Nichtung
in Sranfrei fpreden. Zu diefer Richtung verhalfen ben Gemwerllern Elemente,
die fih anfangs ganz unpolitifch gebärdeten: die Anardiften, die umfo bereit-
williger aufgenommen wurden, je mehr fi bie fozialiftiide Partei mit der
demofratiihen Nepublit und dem Parlamentarismus befreundet Diefe gaben
ihnen den eigentümlichen revolutionären Charakter, den die franzöfifcden Synbilate
bis zum Ausbruch) des gegenwärtigen Krieges bewahrt haben. Schon auf bem
erften gemeinfamen Kongreß zu Algier (1902) wird die antimilitariftifche Pro-
paganda gefordert. Der Antimilitarismus der Gemerfvereine war urfprünglich
in Grinnerung an fozialiftiihe Ideen entitanden, die von ihnen nur fchärfer
ausgebrüct wurden. Das Heer galt als die Waffe jener Tapitaliftifchen gefell-
ſchaftlichen Ordnung, die das Eigentum fhübt und deshalb vom Haffenbemußten
Proletariat belämpft werden muß. Diefen Widerftand gegen die ftantauflöfenden
Beitrebungen jebte e8 bejonders Träftig dem neuen, revolutionären —
mittel der Gewerkvereine, dem Streil, entgegen.
Im Jahre 1905 droht plotzlich eine europäiſche Verwicklung, —
durch das ſelbſtherrliche Auftreten Frankreichs in Marokko. Die Kriegsmöglichkeit
Die franzöfifhe Internationale 261
gab dem Antimilitarismus fofort einen antipatriotifhen Unterton. m Januar 1906
erbielt Griffuelhes vom Borftand der Gewerfvereine den Auftrag, fild mit der
deutſchen Gemwerfichaftstommiffion zu verftändigen, um in Paris und Berlin
gleichzeitig eine große Kundgebung gegen den Frieg zu veranftalten. Bon ihr,
fowie von Bebel perfönli erhielt er die Antwort, - daß die beutfhen Gewerf-
Thaften nur im Verein mit der fozialiftifhen Partei beider Länder eine Fund»
gebung beichließen würden. Diefer Beicheid wird dem Gemwerkfdhaftstongreß zu
Amiens überbradt. In ihn findet die Anfhauung, daß dem Striege der
revolutionäre Widerftand des Proletariat3 entgegengebradt werden müfje, eine
Mehrheit. Der Minderheit erfcheint diefer Beichluß zu rüdfichtslos; fie ftellte
ih als NReformpartet auf den Iinfen Flügel der Gewerfler und befchränfte fidh
künftighin al3 reformiftiicher Syndilalismus darauf, die Aufrechterhaftung des
Friedens zu wünſchen, ohne patriotif$ oder ftaatsfreundlih zu fein. Die
Arbeiter haben nad ihm das Recht, in ihren nationalen und internationalen
Kongrefien gegen den Krieg zu protejtieren; denn mehr al8 jeder andere habe
der Arbeiter ein Snterefje an der Aufrechterhaltung des Friedens. Uber er
verurteilt nur die Rolle des Militärs in den wirtichaftlicden Konflikten und will
nicht die Berteidigungsmaffe der Nation zerftören. Er läßt fich ferner von der
Erwägung leiten, daß höchftwmahrfcheinlich der Generalftreif nicht in ganz Europa
zu gleicher Zeit ausbrecdden würde und dann der militärifch ftarfe, Tapitaliftifche
Staat das Bolt ohne Waffen vernichten könne.
Doch folder vorfitigen Zurücdhaltung Tonnte e8 in Frankreich nicht ge-
lIingen, viel Anhänger zu werben. Weit mehr Erfolg hatte der revolutionäre
Syndilalismus, als deffen Wortführer Guftan Herne feit Tanger auftrat. Sein Lo—
fungsruf tft: Nieder mit der Republik! Er ſteckt die Trikolore ſymboliſch in den Miſt⸗
haufen und erklärt rundweg, im Kriegsfalle werde man nicht mittun. Zuerſt große
Entrüftung bei den Sozialiſten. Sie hält jedoch nicht lange an. Schon bald darauf,
nämlich auf dem Kongreß zu Nancy, rüden die verfchiedenen Sozialiftenführer
wieder näher an ihn heran. Er bildete den Auftalt zu dem internationalen
Soztaliftenfongreß zu Stuttgart im Jahre 1907, auf weldem die Stellung.
nahme zumfriege grundfäglich erörtert murbe und der revolutionäre Syndilalismus
als Sieger daftand.
Der Kommiffionsberatung lagen u. a. drei franzöfifche Vorfchläge zugrunde.
Herv& forderte: „ede SKriegserflärung, von melder Seite fie auch kommen
mag, mit dem Militärftreit und dem Aufftand zu beantworten.“ Der Antrag
der franzöfifchen Mehrheit (Jaur&s-Baillant) bezeichnete als Mittel der Sriegs-
verhütung „parlamentarifche Intervention, öffentliche Agitatton, Maffenftreit und
Aufftand“. Er unterfcheidet fi alfo nur dadurch von Hervue, daß er den
Generalftreif als äußerftes und leßtes Mittel anfieht. Der internationale Ge-
danke war damit in feiner revolutionären Form auf dem Ummege über den
Anarchismus und die Gemwerkvereine wieder in den Sozialismus eingedrungen,
und felbft der Marzift Vaillant neigte fi) ihm zu. Ber Nevolutionismus, wie
262 Die franzöfifdye Internationale
Sombart den Slauben an bie Kraft der Revolution genannt bat, tft ein Raffen-
erbe ber Franzofen. Er taucht immer wieder auf und verbindet fi mit dem
verfchiedenften Parteien (felbft die Neuroyaliften haben mit ihm gefpielt). Die
franzöfifcehe Dtinderbeit endlich befürmortete Borbeugungsmaßregeln: Verkürzung
der Militärdienftzeit, Verweigerung aller Kredite für Heer, Marine, Kolonien.
Herne verftieg fich zu der Behauptung, daß feine Agitation „den größten, durch
fhlagendften, großartigften Erfolg in Frankreich“ Hätte. „Der franzöfilde
Generalitab ift durch uns moralifch entwaffnet, er weiß, daß ber Krieg den
Aufitand des ProletariatS bedeutet.” Er fahb [don im Beifte die Deutichen in
ihrem „Sadavergehorfam” ihre Bajonette auf die Bruft der franzöflfchen Pro-
letarier fegen, die die Yarrifaden mit der roten Fahne verteidigten. Yaurds
und Vaillant leugneten vergebens, bie Nationen, „biefe notwendigen Elemente
menfhlicer Entwidlung”, zu zertrümmern. Bollmar 309 in einer fachlichen,
leife jpöttifden Rede ihre Abhängigkeit von Herve ans Licht, und Adler |prad
von „delorativer Politi"._ Den deutfchen Standpunft erklärte Bebel wit den
orten: „Wir können alfo nihts tun als aufllären und Licht in die Köpfe
bringen, agitieren und organifieren.” Schließlich einigte man fi wie immer
im Ausgleich auf einen Beichluß, der zwar jedem die Pflicht gab, gegen dem
Krieg anzulämpfen, die Mittel aber völlig in feinem Belieben ließ.
Gelegenbeit, die revolutionäre Gigenart ihres fozialiftifchen Widerftandes
dur die Tat zu befräftigen, wurden den Sranzofen im ahre 1913 gegeben,
als das Gefeh Über die dreijährige Dienftzeit vor die Kammer fam. Und tat
fählid wurde eine Reihe der vorgejdhlagenen Mittel, von der Kundgebung bis
zur Meuterei, angewandt. Lffentliche Broteftverfammlungen wurden veranftaltet,
die antimilitariftiihe Schrift „Le sou du soldat“ in die Kafernen gefeämuggelt
und die „Arbeiter in Uniform“ tüchtig bearbeitet. Die Regierung, die die
Dilziplin gefährdet fah, verhaftete eine ganze Anzahl von Agitatoren und nahm
Hausfuhungen vor. Ste tonnte aber nicht verheimlidhen, daß inzwifchen zahl.
xeihe Fälle von Meuterei und Auflehbnung im Heere vorgelommen waren.
Tropdem darf man in diefen Vorgängen nicht etwa die Erfüllung der revolu-
tionären Verfpredden fehen. Die Soldaten meuterten nicht etwa aus Abneigung
gegen den Krieg, fondern weil fie fih in der Erwartung getäufcht fahen, bald
aus dem militäriihen Zwang entlafjen zu fein, und weil die wirtjchaftlide
Lage der Verbeirateten während der Dienitjahre vom Staate Teineswegs ficher-
gejtellt war. Am 19. Juli wurde das Gefeg von der Kammer mit 358 gegen
204 Stimmen, alfo mit anfehnlicher Mehrheit, angenommen, nachdem die Re
gierung no) den Widerfpenftigen den Köder der Einfommensfteuer bingemorfen
hatte. Der Erfolg der Agitation war gleich null. Der Antimilitarismus hatte
nicht hindern Tönnen, daß die NRüftung verftärlt und befchleunigt wurde und
ber Krieg in immer gefährlichere Nähe rüdte. Und Herve batte 1907 Barri⸗
Inden gefehen. „Delorative PBolitif”.
Troß biejes offenbaren Berfagens ber revolutionären Aktion, nahmen fran-
Die franzöfifhe Internationale 263
zöfiihe Delegierte Thon einen Monat fpäter (die Bafler Zufammentunft im
Mai gehört wegen ihrer opportuniftifch-parlamentarifhen Gefinnung nicht hierher)
wieder diefelbe aufrühreriiche Pofe an, nämlich auf dem internationalen Transport-
arbeiterfongrefje zu London, wo die Synoilaliften im Gegenfat zu dem Bericht
des aus deutjchen Mitgliedern beitehenden Zentralrates paffive Refiftenz und
Streifs bei einer Mobilmahung forderten. „&3 jet Pflicht eines jeden Transport-
arbeiter8, fi) zu weigern, an ber Vorbereitung an einem Sriege teilgunehmen.
Aud der internationale VBergarbeiterfongreß habe erflärt, daß bei einer Krieg$-
erflärung fofort die Förderung der Kohle eingeftellt werden folle.” (Bericht des
3.2.1913, Nr. 441.)
Juli 1914. Der Krieg drobt. Sebt Tonnten fie zeigen, daß fie e8 mit
ihren Theorieen ernft meinten, daß der internationale Gedanke nit nur ein
nebelhaftes Wort war, fondern eine wirkliche Kulturmacht, mit der der nationale
Staat rechnen mußte. Der Generalftreil, die NAevolution blieb aus. Cinige
Antimtlitariften fchrieen „nieder mit dem Krieg)" und flimmten Die Snternatonale
an, als ihnen die ewige Marfetllaife auf die Nerven fill. Die Gewerller wagten.
einige Worte: „Wir berufen Euch zu VBollSverfammlungen (die von der Polizei
verboten wurden), um den unerſchütterlichen Friedenswillen des zielbewußten
Proletariats auszudrücken. Die Gefahr iſt im Anzuge. Die regierenden Kreiſe,
die Euch im Frieden knechten, verachten und ausbeuten, wollen Euch zu Kanonen⸗
futter machen. Wir wollen keinen Krieg, nieder mit dem Krieg, es lebe die
internationale Verſöhnung.“ Aber daneben ſteht ſchon die Phraſe aus dem
„Matin“: „Die Forderung dieſer Regierung (Iſterreichs) hatte eine Brutalität
und fie kann nur den Zweck haben, den Krieg heraufzubeſchwören.“ Die
ſozialiſtiſche Kammergruppe mißtraut Rußland und den „willkürlichen Deutungen
geheimer Vorträge“, kopiert aber die Dreiverbandsſprache, wenn fie vom „ſtreit⸗
ſüchtigen kaiſerlichen Germanismus“ redet. Hervé, der angeblich ſchon 1907
den franzöfiſchen Generalſtab in der Taſche hatte, legt das verſpätete Belenntnis
ab: „Da wir unſer Unvermögen feſtſtellen müſſen, den Krieg durch einen ver⸗
abredeten und gleichzeitig in allen Ländern ins Werk geſetzten allgemeinen Auf⸗
ſtand zu verhindern, iſt es unſere Pflicht, den Herd der Freiheit zu verteidigen“.
Die allgemeine Mobilmachung wird angeſagt. Keiner ſtellt die Arbeit ein,
feiner widerjegt fi, für den „Sapitaliftenftaat“, mit dem „bas zielbemußte
Proletariat” nichts gemein haben wollte, die Waffe in die Hand zu nehmen.
Lie einzige revolutionäre Tat war die Ermordung des Sozialiften Yaureß.
Mit diefem Symbol beginnt der Krieg; die Internationale ift zum zmeiten
Male vom Krieg erfchlagen. Die nationale Sammlung, die „Union sacr&e“
wurde erflärt, und bald traten Sembat und Guesde ins Minifterium.
&3 wäre faljch, die Verleugnung der gerade von den Franzofen gepriefenen
revolutionären, anardiftiihen Grundjäbe als gemeinen Berrat und Umfall zu
Garafterifieren. Ym Frieden haben fie wahrjcheinli ehrlich an die Möglichkeit
des Generalftreils gedadht und an ihr Vermögen geglaubt. Daß ihre Drgani-
264 Die franzdfifhe Internationale
fation im entjcheidenden Augenblid verfagte, Tag weniger an ihrem guten Willen,
als an der. plöglichen Erkenntnis von phyfifhen und pfychifchen Grundtatfachen,
deren Bedeutung fie bisher verfpottet und geleugnet hatten. Yhre Unaufrichtig-
feit befteht nur darin, daß fie jcheinen wollen, was fie nicht mehr find: Sozialiften
alten Stils (Stuttgart 1907). Dadurch, daß die ganze fozialiftifche Partei fih
mehr oder weniger feit auf den Boden der Internationale geitellt hatte, mußte
au der franzöfifche Sozialismus in dem Augenblid an Bedeutung verlieren,
als fein fhwungvoll angelündigter Widerftand fi) fhambaft in den breiten
Strom der nationalen Stimmung folängelte Wenn Guesde und Sembat
Minifterpoften befamen, fo wurde ihnen und den Parteigenofjen der öffentlichen
Einheit zuliebe eine Wichtigkeit vorgetäufcht, die fie nicht mehr befaßen. Ber
Soztalismu8 war zu fehr mit dem internationalen Gedanfen verfnüpft, um
unverfehrt oder unverändert aus bdiefem internationalen Kampf hervorzugehen.
Um diefe Schlußfolgerung fucht man fi immer noch herumzudrüden. Im
allen Kundgebungen der Partei bemühte man fi), die eingeftandenen nationalen
Kriegsziele mit den Säben des fozialiftifhen Programms in Einklang zu bringen.
Die Niederwerfung des fehuldigen preußifchen Militartsmus fieht dann faft jo
wie eine antimilitariftifhe Tat aus. Die Eroberung Cljaß-Tothringens wird
zu einer bloßen „Wiedernahme von Rechts wegen”. Die Phrafe von der Be-
fretung der unterdrüdten VBölfer (Eljäfjer, Belgter, Dänen, Polen, Ktaliener) fann
Annerionen verbeden und mundgereht maden. Man verfuchte au) an die alte
Überlieferung mit einem f&heinbar internationalen Kongreß wieder anzufnüpfen,
auf dem in Wirklichkeit die Verbündeten ganz unter fi waren. Die Londoner
Berfammlung im Februar 1915 vereinigte in ihren Mitgliedern die Pertreter
fämtlier franzöfifcher Soztaliftenparteien, auch den Außerften linken Flügel, die
revolutionären Syndilaliiten. Der Kongreßbeihluß wurde wieder mit dem be
fannten antilapitaliftiicden Glaubensbelenntnis eingeleitet, da8 im Munde der
Minifter Guesde und Sembat nur noch eine herfömmliche Formalität if. Der
Stimmungsmwedjfel fol dur) eine PVhrafe verhüllt und erflärt werden, die der
Diplomatenfprache des Bierverbandes entnommen tft: „Der Einbruch der deutfchen
Heere in Belgien und ranfreich bedroht die Eriftenz der unabhängigen Na-
tionalitäten und verlegt das Vertragsrecht”. Sie weifen es allerdings von fid,
einen Eroberungstrieg mitzumadhen (und diefer Entfehluß, den fie [hon vorfidtig
dur das Prinzip der Völlerbefreiung eingeengt haben, tft ihnen angefidht3 der
Kriegslage ficherlich nicht cher geworden), fte raffen fich auch zu einem fchüchternen
Proteft gegen die Verhaftung von foztaliftifchen Dumaabgeorbneten auf und
Iprehen die Hoffnung aus, daß fih nad dem Kriege die Arbeiterflaffen aller
Induſtrieländer wieder in der internationale vereinigen, um ben Frieden aufrecht-
zuerhalten. Aber man fieht befonders an diefer lebten Forderung, wie fie fi)
felber verfpotten. Ste haben den Glauben verloren. Die ganze Erflärung tft
von bodenlofer Unehrlichleit und Bedeutungslofigkeit. Vergebens breiten fie ihre
alten, abgelegten Grundfäte aus. Dergebens fuchen fie ihr eigenes Gemiffen
Die franzöfifhe Internationale 265
und das ihrer Wähler mit Ausflüchten zu beruhigen: „Wir find feine Partet
von Uuälern: wir willen, daß die Pflicht des Proletariat3 Fein Hindernis ift
für die nationale und internationale Pflicht”. Dekorative Politil. Herve, ein
Kind, das oft die Wahrheit fagt, fpradh es aus: Die zweite Internationale tft
tot. Der Londoner Kongreß fehrieb feinen Leichenftein.
Die perfönlide Rechtfertigung der Führer fiel noch Mäglicher und farblofer
aus. So gab Guesde einem italienifhen Ausfrager folgende nichtsfagende
Antwort: „Wenn ich als Proletarier den fünften Stod eines Haufes bemohne,
in deffen erftem Stod mein Hauswirt wohnt, fo werde ich mich natürlich nicht
weigern, da8 Haus mit allen Kräften vor dem Teuer zu fehlten, wenn ein
Brand es bedroht“ (Gazette de Laufanne vom 23. November 1914). Diefes
Sleihnis befagt weiter nichts ald das, was wir flhon lange willen: aud) der
Broletarier, der Mieter aus dem fünften Stod, hat ein Vaterland.
Statt den Yrrtum zu bemänteln und zu verfteden, hätte man offen befennen
folen, wa8 gerade die franzöfifche Internationale al8 die rabdifalite und
revolutionärfte von allen aus dem Kriege zu lernen bat: der Staatsgedante tft
ftärfer als der internationale Gedanke. Und diefe Überzeugung wird aud
fünftighin der Entwidfung der Sozialdemokratie die Richtung geben, mag man
au) den Schatten der alten Internationale hinüberretten. Auf die internationale
Drohung wird der ehrliche Sozialdemokrat verzichten, um alle Umgeitaltungen
im Rahmen der Nationalität zu erhoffen.
Der Weltkrieg
und die Lage der Unternehmerfchaft in Europa
Don Beinrih Göhbring
® RR it Stolz fann man heute fagen, daß die deutfhe Vollswirtſchaft
rc E ihre Feuerprobe auf das befte beitanden hat. echt zutreffend
R J Mo befagt der Jahresbericht 1914 der Dresdener Bank u. a., daß
* die deutſche induſtrielle Produktion insgeſamt eine Einſchränkung
« BA yon vielleicht einem Viertel bis höchftens einem Drittel erfahren
bat. Dies ift eine Ziffer, die in feiner Weife bedenklich und in Anbetradht der
Berhältniffe ficherlich als überrafchend günftig bezeichnet werden muß. Auf der
fürzlich in Berlin abgehaltenen Hauptverfammlung des Vereins deutjcher Eijen-
und Stahlinduftrieller wurde betont, daß mit den Erfolgen unferes Heeres fid)
die Zahl der wieder in Betrieb gefehten Anlagen mebrte, jo daß im März 1915
die Flußftahlerzgeugung wieder eine Million Tonnen überfchritt und fi im
Ditober 1915 auf 1215000 Tonnen, alfo auf mehr als 77 Prozent der durd-
fchnittlichen Friedenserzgeugung bob. AÄhnlihd wie in der Eifen- und GStahl-
erzeugung liegen aber bie Berhältniffe bei verjchiedenen anderen Produlten.
Übrigens bilden fon allein die enormen KriegSlieferungen der Bereinigten
Staaten von Nordamerila an unfere Gegner — im lebten Rednungsjahre
(Juli 1914 biS $unt 1915) wurde Kriegsbedarf im Werte von etwa 350 Millionen
Dollar geliefert — das denkbar befte Leumunds- und Leiftungszeugnis für bie
deutfche Induftrie und den deutfchen Gewerbefleiß. Dank feiner eigenen body
entwidelten Induftrie, die feit einem Menfchenalter gewöhnt ift, alle Errungen-
ſchaften der Technik, der Wiffenfchaft, der Arbeitsmethodik in ihre Dienjte zu
fielen und im Wettbewerb gegen die um vieles älteren und ftärkeren Induſtrien
anderer Ränder — wie beifpielsweife diejenigen Englands — fi) erfolgreich
zu betätigen, hat Deutichland, unabhängig vom Auslande, feinen Heeres- und
fonftigen Kriegsbedarf aus Eigenem zu deden vermodt.
Ein Bild der Lage der deutjchen Unternehmerfhaft geben die Gejchäfts-
berichte der Aftiengefellihaften. Nah den Abichlüffen der Gelelliaften, die
im März 1915 über das Jahr 1914 berichteten, ftellte fi in den einzelnen
Der Weltkrieg und die Lage der Unternehmerfdaft 267
Gewerben der durchfchnittliche Dividendenzumah8 oder Rüdgang — die ein-
geflammerten Zablen find die Grgebniffe des Jahres 1913 — mie folgt:
Nabhrungs- und Genußmittelinduftrie 7,2 Prozent (6,05 Prozent), Cleftrizitäts-
und Gasgefellichaften 7,4 Prozent (7,3 Prozent), Eifen und Metalle 8,1 Prozent
(8,1 Prozent), Mafhineninduftrie 9,5 Prozent (11,4 Prozent), Bergbau und
Hütteninduftrie 11,2 Prozent (16 Prozent), Steine und Erden 5,5 Prozent
(10 Prozent), Papiergewerbe 0,4 Prozent (3,2 Prozent), Gtaphifches Gewerbe
5,6 Prozent (7,5 Prozent) und Gafthaus- und Erquidungsgemwerbe 1,9 Prozent
(4 Prozent). Allerdings muß man bierbei berüdjichtigen, daß bei der Gewinn-
berednung von einer Reihe von Betrieben größere Abfchreibungen als in ben
Vorjahren und befondere Rüditelungen angefichtS der gefamten Kriegslage vor-
genommen worden find. Bon den gefamten beutjdhen Altiengefelichaften —
in Deutihland gibt e8 mehr als fünftaufend — waren e8 nur einige hundert,
welche befonders mit Kriegslieferungen bedacht waren, und die fo in die Augen
fpringenden Gewinnziffern, wie beilpielSweife 20, 80, 40 Prozent und mehr
aufzumeifen haben. &rfreulid war es zu beobachten, dab von verfchiedenen
Unternefmungen ein großer Teil des dur die Striegslieferungen erzielten
Gemwinnes der Allgemeinheit und fpeziell der ArbeiterwohlfahrtSpflege zur Ver⸗
fügung geitellt wurde. Die Firma Fried. Krupp in Eifen bat beifpielsweife
aus ihrem im Gejchäftsjahr 1914/1915 erzielten Neingewinn von 86 465 611 M.
unter Berzichtleiftung auf eine höhere als die bisherige Dividende von 12 Prozent
faft 50 Millionen Mark für foziale und Wohlfahrtszmede bereitgeftellt. Höchit
anerlennenswert ift e8 ohne Frage von der deutfchen Unternehmerfchaft, daß
bei Ausbruch diefes8 ungeheuren Völlerringens unbelümmert um die allgemeine
2age und der vielfach großen Gemwinnausfälle bei überaus vielen Unternehmungen
eine umfangreiche Fürforgetätigleit einfebte, die von dem Gedanten geleitet
wurde, über die Neihs- und Gemeindeunterftügung hinaus durch Beihilfen jeder
Art insbefondere dur bare Unterftügungen den das Vaterland verteidigenden
Arbeitern und Angeftellten die Sorge um das Dafein und Wohl ihrer daheim-
gebliebenen Angehörigen abzunehmen. Hierfür nur ein Beifpiell. Bon den
244 Mitgliedern des Vereins deutjcher Eifen- und Stahlinduftrieller wurden
in den erften zwölf Kriegsmonaten 49 327 456 M. für diefe Zwede aufgewandt.
So hat diefer Krieg fo recht gezeigt, daß fi in der individualiftiiden Staat$-
und WirtfchaftSorbnung ein Gemeinfamleitögefühl erhalten hat, au dem, jobald
es nottut, fofort ein großzügiges Handeln im Intereſſe der Allgemeinheit hervorging.
Ähnlich wie in Deutfchland hat fich Die Lage der Unternehmerfchaft Dfterreich-
Ungarns entwidel. Mit Freude ann feftgeftellt werden, daß fidh Induſtrie
und Handmwerf bier in ganz furzer Zeit den durch den Krieg bedingten Ber-
hältniffen anzupaffen verftanden hat. Die Umgeftaltung der Betriebe im \ntereffe
des Heeresbedarf3 ging in weitem Umfange vor fi und erflärt es, daß die
Sabrikbetriebe den ungeheuren Anforderungen genügen fönnen. Man bat fi)
wicht nur angepaßt, fondern gleichzeitig auch eine intenfivere ArbeitSmethode
968 Der Weltfrieg und die Lage der Unternehmerfchaft
eingeführt, weldde die beften Früchte trägt und hoffentlich aud) zu den dauernden
Errungenfhaften des Strieges gehören wird. Nach Mitteilungen aus induftriellen
Kreifen Ofterreihs ift die Metallinduftrie ftark befchäftigt; ebenfo der Bergbau
gut, teilmeife auch die Holzinduftrie. Einen guten Abfah zeigen auch die Be
fleidung®gewerbe. Für das Baugewerbe haben fidh infolge der günftigen Kriegs-
geftaltung allerlei ArbeitSmöglichkeiten eröffnet, fo beifpielsweife der Wiederaufbau
des von den Ruffen vermüjteten Galiziens. Schlimmer daran find natürlich
jene Unternehmungen Ufterreih8, die unter dem Mangel an Rob» oder Hilfs-
ftoffen leiden, fomwie diejenigen, die hHauptfädhlich für den Export arbeiteten und
feine Möglichkeit hatten, fi) auf ein anderes Gebiet zu werfen. Berhältnis-
mäßig find die$ aber nur eine geringe Anzahl von Betrieben. ebenfalls wirb
die allgemeine Lage hierdurch nicht wefentlich beeinflußt. Dies zeigt jchon die
ftarfe Zunahme der Einlagen bei den Banken und Sparlafien und die troß
der Kriegsperiode günftigen Bilanzen der Imduftrieunternehmungen. ebenfalls
ift der Beweis erbracht worden, daß die finanzielle und wirtfhaftlidhe Kraft der
öfterreih-ungarifhen Monarchie ebenfo ungebroden dafteht wie ihre militärifche
auf den Schladhtfeldern Europas. Erfreulich ift ohne Frage, daß der Gedante
eines dauernden Wirtfchaftsverbandes der Zentralmädhte immer mehr und mehr
Boden fabt. Bedeutfame Vorteile böten fi Hier ficherlich allen Beteiligten.
Dur Feitfegung gemeinfamer Aukenzölle gegenüber anderen Staaten und ent-
Iprehender Binnenzölle im Zmifchenverfehr für foldhe Produfte, die noch des
Schutes bedürfen, würden mande Zölle auf Rohmaterialien abgebaut werben
fönnen, mwoburd die Leiftungsfähigleit der verarbeitenden nduftrien gefteigert
würde. ebenfalls bemweifen aber auch fchon die Anftrengungen unferer Gegner
in punfto der Niederringung "des wirtichaftlichen Lebens der Zentralmädhte,
wie beifpielsmweife die engliihe Liga zur Vernichtung des deutfchen Handels,
den Fürzli von dem „©uerre Sociale“ gemeldeten Berfucd) eines wirtichaft-
lichen Zuſammenſchluſſes zwiſchen Italien und Frankreich ufw., die Notwendigkeit
eines engeren Wirtſchaftsbundes der Zentralmächte.
Die Fehler der induſtriellen Produktion in England find der Mangel an
Organiſation und gründlicher wiſſenſchaftlicher Durchbildung. Die Badiſche
Anilinfabrik, die Allgemeine Elektrizitäts-Geſellſchaft, die Kruppſchen Werke uſw.
— dieſe ſichtbarſten Früchte deutſcher Organiſation und deutſcher Wiſſenſchaft —
find für England unlösbare Rätſel. Selbſt heute nach anderthalbjähriger
Kriegsdauer laboriert man in England immer noch daran, daß die engliſche
Induſtrie es nicht verſtanden hat, fich den veränderten Verhältniſſen anzupaſſen.
Die ſtetigen Klagen über die mangelnde Munitionserzeugung in der engliſchen
Preſſe ſind ein ſchlüſſiger Beweis hierfür.
Gleichwie die engliſche Nation ihre Kriege von jeher von dem Standpunkte
des geſchäftlichen Unternehmens betrachtet hat, indem ſie Söldner, möglichſt
fremder Nationen, kaufte und mit dieſem Einſatz wirtſchaftliche oder praltiſche
Erfolge zu erzielen verſuchte, betrachtet auch der engliſche Unternehmer den Krieg
Der Weltkrieg und die Lage der Unternehmerfchaft 269
als eine Art Gefhäft. Der Ausipruh Winfton Churdilg — „business as
usual“ ift zue Richtfehnur geworden. So tft beifpielsmweife die Kriegszeit für
bie englifhe Handelsmarine ftet8 die Zeit ter Ernte gewefen. Nicht nur, daß
fie infolge der Ausfchaltung des Wettbewerbs die Fracıtfäge beinahe bis in3 Un-
gemefjene fteigern fann, bietet fi) auch eine günftige Gelegenheit zur Vergrößerung
des Sciffsbeitandes durd) Anlauf der zahlreichen feindlichen Handelsichiffe, die
zu Anfang des Krieges der britifhen Übermadht zur See zum Dpfer gefallen
find. Intereſſant ift e8 nun ohne Frage, zu beobadhten, wie die englifchen
Meederlfreife gegen die Lürzlich eingeführte Kriegsgemwinnfteuer, die nad Mite
teilungen der „Zimes"“ auch auf das Schiffahrtsgewerbe ausgedehnt werden fol,
zu Telde ziehen. Jedenfalls ift dies fo recht ein Zeichen für die Opferwilligfeit
der engliſchen Unternehmerſchaft. Nicht auletzt beſtätigen dies auch die bisher
ſo überaus kläglichen Ergebniſſe der verſchiedenen Kriegsanleihen in England.
Der Teil der engliſchen Unternehmerſchaft, deſſen Lage ſich durch die durch den
Krieg bedingten Verhältniſſe, wie Heereslieferungen uſw., günſtiger geſtaltet hat,
iſt aber der bei weitem kleinſte; die Mehrzahl der engliſchen Arbeitgeber hat
teilweiſe ganz beträchtlich unter den Folgen des Krieges zu leiden. Nach Be⸗
richten aus Kreiſen der engliſchen Induſtrie liegen beſonders der Hoch- und
Tieſbau ſowie Teile des Maſchinenbaues und die Fahrzeugherſtellung ganz
darnieder.
-Ungünftig liegen auch die Verhältniſſe in der engliſchen Stahlinduſtrie.
Nach Mitteilungen vom April 1915 find eine ganze Anzahl von Betrieben, die
nicht mit Heeresaufträgen befchäftigt find, ganz gefchlofien. Befonders ſchwer
bat unter dem Kriege aber die englifche ZTertilinduftrie gelitten, die Hauptfächlichite
Srportinduftrie Englands, welche allein ungefähr ein Drittel des gefamten eng-
lichen Ausfuhrhandels ausmadjt und damit eine der Hauptitügen der englifchen
Bollswirtfchaft bildet. Die Ausfuhr der Tertilinduftrie ift nämli in den Mo»
naten Sanuar bi8 Auguft von 116,2 Millionen Pfund Sterling im Jahre 1914
auf 87,7 Millionen Pfund Sterling im Jahre 1915 gefunten, bat alfo gegen
das Vorjahr einen Verluft von nicht weniger al3 28,5 Millionen Pfund Sterling
erlitten. Der Hauptverluft entfällt dabei auf die Bauınmollinduftrie, die um
rund 22,5 Millionen Pfund Sterling zurüdgegangen if. In der englijchen
Zertilinduftrie ftanden nach Berichten des „Board of Trade Kournal“ in der
Woche vom 8. bis 13. März 1915 115 844 MWebftühle ganz leer und an
weiteren 136 740 wurde mit abgefürzter Arbeitszeit gearbeitet. er englijche
Baummollfachverftändige und Fachichriftfteler W. Tatterfal in Mandejter hat
eine Überficht über die Gefchäftsergebniffe von 66 Baummwollfpinnereigefellfhaften
von Lancafhire während der Monate Dezember 1914 bi8 November 1915 au3-
gearbeitet, nad) welcher diefe Gefellihaften nach Abzug von Anleihezinjen und
Abfchreibungen nur einen Nettogewinn von 5509 Pfund Sterling erzielten.
Auf das Altienlapital berechnet, beträgt der Gewinn für das Jahr 1915 fomit
weniger als 1 Prozent, und wenn manche Gefelljhaften Dividenden haben zahlen
270 Der Weltkrieg und die Lage der Unternehmerfcaft
fonnten, fo tft das meiftens nur mit Hilfe der Rejerven gejchehen. Ähnlich
ungünſtig liegen auch die Verhältniffe in dem überaus wichtigen Koblenbergban
Englands. (Bergl. Nr. 38 der Grenzboten 1915: „Der Weltkrieg und die
Preiſe von Kohle und Eifen in den europäifchen Staaten”.) Bei den leitenden
Kreifen von Englands Induftrie und Handel war e8 bei Ausbruch des Krieges
ausgemadhte Sade, daß England bald triumpbieren und der unbequeme
deutihe Konkurrent bald am Boden liegen werde. Wie in jo mander anderen
Beziehung, fo bat au) der Krieg in diefer Hinficht dem engliihen Volle eine
bittere Enttäufhung gebradt. Belanntlih bat die englifche Negierung ver-
fchiedentlich die Erfahrung madhen müffen, daß der mit fo großen Hoffnungen
begonnene Kampf gegen die deutfhen Induftrieerzeugniffe die Kräfte der eng-
lichen Snduftrie bei weiten überfteig.. So laufen nah Mitteilungen des
„Board of Trade Journal” jegt, nachdem die deutfhen Waren in England
und feinen Kolonien allmählich verbrauddt worden find, allmöchentlich zahlreiche
Nachfragen nad Imduftrieerzeugniffen aller Art beim engliihden Handelsamt ein,
für die jedoch) troß aller bisherigen Bemühungen in England Erfag nicht befchafft
werden Ionntee Dan nehme nur die ftetigen Klagen über den Mangel an
beutfchen Farbitoffen in der englifchen tertilinduftriellen Fachpreffe. Interefjant
tft wohl überhaupt ein Furzer Einblid in die englifche Handelsitatifti. So
beträgt beifpielsmweife in den fünfzehn erften Striegsmonaten der Ginfuhr-
überfhuß, d. 5. der Mehrwert des WarenimportS gegenüber dem Warenerport,
nicht weniger als 531 Millionen Pfund Sterling. Das find rund 233 Millionen
Pfund Sterling mehr als in den fünfzehn Monaten vom Auguft 1913 bis
Ende Ditober 1914, wobet in Betracht gezogen werden muß, daß die Donate
Auguft bis Dftober 1914 ebenfalls fon Kriegsmonate waren, der Unterfchted
von 233 Millionen Pfund Sterling alfo no als zu niedrig gelten muß.
Hierzu kommt noch, daß, abgejehen von einigen Rohſtoffen, wie beiſpielsweiſe
Baumwolle, durchweg alle Waren beträchtlich im Preiſe geſtiegen find, 20, 30,
40 Prozent und mehr, ſo daß England heute für 10 Millionen Pfund Sterling
vielfach eine geringere Warenmenge erhält, als früher für 8 oder 7 Millionen
Pfund Sterling. Und während Englands Kaufmannſchaft ihre aus den nord⸗
amerilanifchen Ländern bezogenen Waren prompt bezahlen muß, ift fie ge
zwungen, ihren Abnehmern in den verbündeten Staaten, wenn fie überhaupt
darin Gefchäfte maden will, einen langfrütigen Kredit einzuräumen, ganz
abgejehen davon, daß mande Poften wohl überhaupt nie bezahlt werden
dürften.
Schlechter noch als in England liegen die diesbezüglichen Verhältniffe in
FStankreihd. Der Hauptfig der franzöfifhen Schwerinduftrie, befonders der
Metall- und Zertilinduftrie, befindet fi im Norden und Dften. BDieje Gebiete
find entweder von den beutfhen Truppen bejeht oder befinden fi in der
Kampflinie, jo daß von einer geregelten Produktion nicht die Rede fein fann.
Dier fei gleich noch bemerft, daß die induftrielle Bedeutung der von uns befebten
Der Weltkrieg und die Lage der Unternehmerfchaft 71
Gebiete Franlreih8 meit größer tft, alS man im allgemeinen annimmt, da ficher
nicht weniger al8 40 Prozent von der geſamten gewerblichen Tätigkeit Frank⸗
reis, foweit diefe fih der Dampftraft bedient, biesfeit8 der eifernen Linie
liegen. Schließlich hat der Krieg die franzöffchen AInduftrie nicht nur der
beutfchen, belgifchen, türkifchen ufw. Abfatgebiete beraubt, d. b. eines Drittelg
bes franzöfifchen Erportes, fondern au) — und da8 traf fie am empfindlichften
— einer für fie lebensnotwmendigen Einfuhr. Mie fehr der franzöfiihe
Handel überhaupt geihädigt ift, zeigt ein Einblid in- die Handelsftatiftik.
Hiernad) beträgt allein fhon von 1913 bi8 1914 der Rüdgang des Wertes
der Einfuhr 2072 Millionen Franlen und der Ausfuhr 2055 Millionen
Franken. Nach den Mitteilungen der „Bulletins des Miniftertums der Arbeit”
vom August liegen die Andujtrie gebrannter Steine und Erden, das Bau-
gewerbe, die PBortefeuilleinduftrie und das Holzbearbeitungsgewerbe — befonder$
die alte Barifer Möbelinduftrie — faft ganz ftil. Die wirtfehaftliche Bedeutung
Sranfreihs auf dem Weltmarkt Tiegt nicht zulett in feiner Lurusinduftrie.
Und Ddiefe leidet natürlih am ftärkften unter den Yolgen der Srife, die der
Krieg in allen Ländern erzeugt hat. Auch die Tertilinduftrie und befonders
die Baummollipinnerei bat fchmer zu leiden. Bon den rund 7 Millionen
Spindeln Franfreichs liefen beifpielSweife im Auguft 1915 hödhitens 2'/, Mil
lionen, das tft ungefähr die Zahl der in Spanien laufenden Spindeln. Auch
ber Mangel an deutichen Farbitoffen machte fi) bier recht fühlbar. In weiten
Kreiſen diefer Ynduftrie macht man fi [don mit dem Gedanken vertraut, daß die
früher fo bedeutende Ausfuhr nad) Südamerika vollftändig von der amerifanifchen
Konkurrenz fortgenommen wird. Sn einer ähnlichen Tritiichen Lage befindet fich
übrigens auch die franzöfifche Sardineninduftrie. Hier lommt die in Frankreich
tn diefem Gewerbe beftehende Krife den jpanifhen und portugiefiihen Fildern
zugute. Belanntlich hat fih an den Küften Spaniens und Portugals in dem
legten Jahren eine blühende Sardineninduftrie entwidelt. Überhaupt hat bie
Fiicheret Sranfreihs unter den dur den Krieg bedingten Verhältniffen fchwer
zu leiden.
Der aud) bei uns belannte franzöfifche Volkswirt Victor Cambon betonte
in einem Bortrage in der Parifer Ingenieurgejelichaft, daß in der Gejamtheit
ber franzöfiihen Produktion diejenigen, die Waffen und Munition, Gewebe und
andere Ausrüftungsgegenftände berftellen, eine Ausnahme bilden, während bie
große Mehrheit der Unternehmungen völlig darniederliegt. echt zutreffend
fennzeichnete im April 1915 die „Züricher Poft” die induftrielle Lage Franf-
reich, indem fie u. a. fchreibt: „Franfreihs Synduftrie ift fchmwer gelähmt, bie
Fabriten ftehen ftil, die Kamine rauhen nidt. So wandert das franzöfifde
Gold über da8 Weltmeer, wo man Tag und Nacht für den Niefenbedarf der
Mepublif arbeitet”. Wie arg das Wirtichaftsleben Frankreich darniederliegt,
geht au aus einer Mitteilung der „Humanite“ hervor; biernad hat der
Umfang der Wechfel von Anfang Auguft bis zu Ende des Jahres 1914 nur
272 Der Weltkrieg und die Lage der Unternehmerfdaft
360 Millionen Franten betragen, während fi in normalen Jahren die Um-
fäte in Wechfeln auf etwa vierzig Milliarden Franten in ber gleichen Zeit
belaufen.
Nicht günftiger Itegen die Verhältniffe in dem übrigen gegen uns Trieg-
führenden Staaten. In Rußland wurde AInduftrie und Handwerk durd) die
Befegung weiter ruffifher Gebiete durch die deutfch-öfterreichifhen Truppen
wefentlich beeinflußt. _ Gründe der Produltionseinfhhräntungen in Rupland —
nur die Betriebe, die an SKriegslieferungen für den Seeresbebarf arbeiten,
weifen regere Beihäftigung auf — find Mangel an NRobftoffen: nach Mit-
tellungen der „Rußliia Webomofti” vom Dezember 1915 mußte beifpielsweife
bie ruffifche Regierung Aufträge an Tucjlieferungen im Werte von 10 Millionen
Rubel an japanifche Fabrilen vergeben, weil die ruffiichen Fabrilanten wegen
MWollmangels nicht imftande waren, den Auftrag auszuführen, ferner Koblen-
mangel, Verfehrsunterbredungen und -»ftörungen, Geldfchwierigfeiten — laut
Angaben des „Golos Mostwy” hat wegen der ftetigen Zunahme der KRonkurfe
in Rußland noch niemals eine foldhe Panik geherricht wie heutzutage — und
Tehlen der Nachfrage. Bedeutende Einwirkungen auf Rußlands Induſtrie übt
au die faft völlige Unterbindung der Ausfuhr der Agrarerzeugnifje, auf die
Rupland als vorwiegender Agraritaat angemiefen tft, aus.
Nah Mitteilungen des „Hamburger Frembdenblatt” vom Dezember 1915 tft
der Wert der Ausfuhr Rußlands in den legten zehn Monaten von 834794000
Nubel auf 247985000 Rubel zurüdgegangen. In der gleichen Zeit fiel der
Einfuhrwert von 869939000 Rubel auf 464798000 Rubel. - Nicht weniger
baben aud die ruffiiden Unternehmer unter der überaus ftarlen Zunahme
der Streilbemegungen in Rußland, die in den meiften Fällen nod) durch bie
brutalen Alte der Sabotage, daß ift die mutwillige Vernichtung des Eigentums
der Unternehmer feitens der Streilenden, wefentlich verfchärft werden.
Recht ungänftig hat fi) auch die Lage der ttalienifchen Unternehmerfchaft ge
ftaltet. So leidet beifpielsweife die italienifhe Eifen- und Metallinduftrie unter
Koblen- und Eifenerzmangel. Auch an der Zufuhr von verarbeiteten Eifen mangelt
ed. Aus Deutichand allein wird nach der italienifchen Statiftif in den Jahren vor
dem Weltkrieg alljährlich für 60 bis 65 Millionen Lire bearbeitete Eijen in
Stalien eingeführt. Ebenfalls fehlen Blei und Zint. Nicht viel befjer fteht es
zurzeit um bie italienifche Seibeninduftrie, die feit Jahren unter der japanijchen
und Kinefiihen Konkurrenz leidet, nad) dem Ausbrud) des Krieges aber außerdem
einen beträchtliden Teil ihres früheren Abfabes nach der Levante, den Ballan-
ländern und Mitteleuropa verloren hat. Nach einer Zufammenftellung italienifcher
Beitungen haben von den 98 Betrieben des Baummollgewerbes, die Altien-
gejellihaften find, 71 für das Yahr 1914 überhaupt feine Dividende verteilen
Unnen. Nah Züricher Mitteilungen vom Auguft 1915 befigt Italien nicht
genug Mafchinen zur Verarbeitung der Rohwolle. Troß Nadht- und Sonntag?-
arbeit Tann man bier nicht einmal ben eigenen SHeeresbedarf beden. Die
Der Weltkrieg und die Lage der Unternehmerfchaft 273
wirtiaftlide Nüdftändigkeit Italiens bekundet filh vor allem aud) darin, daß
die italienifhe Vollswirtihaft den großen Reichtum an menfchlichen Arbeits-
träften nicht zum Wohle, zum Fortichritt und Aufitieg des Volles nupbar zu
machen vermag, fondern Hunderttaufende und Millionen Jahr für Jahr zur
europäifhen und überfeeifhen Auswanderung nötigt. Statt Erzeugniffe dex
menj&lichen Arbeitskraft werden Menfchen Tetbft erportiert und dadurch) Land
und Bolt geichäbigt.
Aber nicht nur bie Unternehmerfchaft der Friegführenden Staaten, fondern
auch diejenige der neutralen Länder empfindet bie allgemeine Kriegslage. So
liegt beifptelsweife in den drei jlandinavifhen Köntgreichen, Dänemark, Schweden
und Norwegen, feit dem Beginn bes Weltkrieges das Baugewerbe fehr danieber.
Die wirtihaftliche Depreffion diefer drei Staaten bekundet aud) flhon die Tat-
fache, daß anläßlich des Ablaufens einer größeren Zahl von Tarifverträgen in
Dänemark und Norwegen im nädjiten Jahre nad) Kopenhagener Mitteilungen
vom November 1915 die Unternehmer beider Länder in Anbetracht der ab- -
fteigenden Konjunktur im Wirtichaftsleben auf das unveränderte Weiterbeftehen
der alten Tarife für eine kürzere Zeitperiobe beftanden. Überhaupt führte der
Krieg zu allerlei befonderen Maßnahmen. So wurde beifpielsweife in Schweden
und zwar in Sothenburg erjt fürzlich nad dem Vorbilde der Bremer Baummoll-
Einfuhrgeſellſchaft eine ſchwediſche Baumwoll-Importgeſellſchaft, der mehrere
größere Webereien angehören, ins Leben gerufen. Der Zweck dieſer Gründung
iſt, die Störungen der Betriebe durch den Mangel an Baumwolle und Baum⸗
wollgarnen nach Möglichkeit zu verhindern. Viel geringer als die Zahl der
durch den Krieg in Mitleidenſchaft gezogenen ſtandinaviſchen Unternehmungen
war die, deren Lage ſich durch die durch den Krieg bedingten Verhältniſſe
günſtiger geſtaltet hat. Es ſind dies in der Hauptſache Induſtrien und Erwerbs⸗
zweige, die an Kriegslieferungen für kriegführende Staaten arbeiten, und Teile
der Schiffahrt. Nach Berichten aus Bergen vom Anfang Dezember 1915
gewährte die Nordensjeldsfe Dampfichiffahrtsgefellfchaft ihren Aktionären eine
balbjährliche Abjhlagsdividende von 70 Prozent. Ganz befonder8 bat aber
Induftrte und Handel der flandinavifchen Reiche unter der Willlürpolitit Eng-
lands zu leiden. Man nehme nur das befannte Beifpiel der norwegifchen
Fiſchkonſerveninduſtrie. Durch die Verweigerung der Lieferungen des zur
Herftellung von Konjervenbüchfen nötigen Weißbleh8 aus England fowie auch
bie Unterbindung der Dlzufuhr aus Stalten und Süpdfrankreih zwang man
die norwegifchen Filchlonfervenfabrilanten zu der Verpflichtung, Teine Waren an
Tentihland und feine Verbündeten zu liefern. In diefe Rubrif gehört auch
die fürzlid von der „Wejer-Zeitung” gemeldete Kontrolle der Margarine
fabrifation in Holland feitens der englifhen Negierungsvertreter. Schließlich
find au) bie verfdhiedentlichen engliiden Pofträubereien auf diefes Konto zu
buden. Auh in Holland liegt der weitaus größte Teil von Anduftrie und
Handwerk, abgefehen von den Nahrungs- und Genußmittelinduftrien und Teilen
Grenzboten J 016 18
a Andraſſy und die öfterreichifcheungarifche Orientpolitif
ber Schiffahrt — die Holland-Amerila-Linie kann beiſpielsweiſe ihre gefamte
Flotte: aus den Kriegsgewinnen abfchreiben —, fehr daniever. Aber aud) die
Unternehmerjaft aller übrigen neutralen Länder Europas hat mehr oder
weniger ihre Sorgen. So bereiten beifpielsweile die feitens der italientidhen
und franzöflfhen Regierung der Schweiz betreffs der Ein- und Ausfuhr ge
machten Schwierigleiten der bortigen Induſtrie recht erhebliche Schwierigfeiten.
| Diefe Ausführungen genügen wohl für ein allgemeines Bild der Lage der
Unternehmerfchaft in Europa. edenfalls lafjen fie erkennen, daß Deutjchlands
und feiner Verbündeten Unternehmer wohl unter der Wucht biejes ungebeuren
Krieges zu kämpfen haben, aber doch nicht ſchlechter geſtellt ſind, als diejenigen
in den gegneriſchen Laͤndern.
Graf Julius Andraſſy
und die öſterreichiſch⸗ ungariſche Orientpolitik
Von J. P. Buß
Govember 1871) war Julius Andraſſy in die Sphäre der großen
N velthiſtoriſchen Begebenheiten und in die hohe Schule der euro⸗
UN zäiföen PVolitif und Diplomatie eingetreten. Denn er hatte jhon
in den vorangegangenen $ahren in feiner Sunktion als ungarifcher
— Gelegenheit gehabt, ſein geniales Können und die Weſenheiten
ſeiner entſchloſſenen und großzügigen Individualität vor aller Welt darzutun.
Mit ſeiner ganzen Perſönlichkeit, die in der Politik volllommen auf das Realiſtiſche
hinzielte, war er im Jahre 1870 für die Neutralität im Deutſch-Franzöſiſchen
Kriege eingetreten. Die Richtlinien feiner Politif waren immer die einer be
ftimmten und lebensträftigen Yriedenspolitif. Solcherart war bereits fein zu
Beginn feiner Miniftertätigleit, in der er fi jtetS als Nepräfentaut der ge
famten habsburgifhen Monarchie fühlte, aufgeftelltes Programm: „Die Vorteile,
die ein noch) jo glüdlicher Krieg uns verjchaffen könnte, würden nimmermehr
diejenigen aufwiegen, welche die fortichreitende Entfaltung einer Brofperität uns
eintragen würde, deren Aufihwung felbjt durch eine Reihe innerer Krifen nicht
einen Augenblid aufgehalten würde.“
Seine auswärtige PBolitit war vor allem dur) die Borausfidt motiviert,
Rubland, das fhon zu Beginn der fiebziger Jahre in ftändig zunehmender
IR a Sicht erft mit feiner Ernennung zum Minifter des Ausmärtigen
AUndraffy und die Öfterreihifch-ungarifche Orientpolitif 275
Minterarbeit im Orient den öfterreichtichen Intereſſen birelt entgegenarbeitete,
in Schad zu halten durch die Pflege freundfchaftlicder Beziehungen mit anderen
Staaten. Mit England wollte er in beftem Ginvernehmen ftehen aus der
Erwägung heraus, eine Alltanz zwiichen Deutihhland und Rußland zu ver-
hindern, mit Deutfchland zunädit, um den ruffifchen panflawiftifceden Strömungen
erfolgreich entgegentreten zu können. So äußerte fi Andrafiyg in einer Be-
gründung feiner Haltung während des Deutich-Franzöfifchen Krieges zu Kaifer
Franz Zofef: „Es leitete mich die Überzeugung, daß, folange 36 Millionen
Franzojen und die vorausfichtlicden inneren Schwierigkeiten der beutfchen Unifilation
eriftieren, der Yal nicht vorlommen Tann, daß wir Rukland gegenüber Deutich-
land brauden, dagegen der Fall, daß wir die Stübe Deutichlands gegen die
traditionellen Tendenzen der Ruffen bedürfen können, nur zu leicht möglich fit.“
Die Politit Andrafiys in der bosniidhen Krifis tft von fo ausgezeichneten
Kennern wie Eduard v. Wertheimer und Theodor v. Sosnosky gerade in ent-
gegengejegtem Sinne beurteilt worden. Der Andrafiy-Biograph gerät in eine
gewiffe Überfhägung Andrafjys auch in der Wertung feines Anteils am Zuftande-
kommen des deutſch⸗öſterreichiſch ungariſchen Bündniſſes. Sosnosky Hingegen
glaubt die Stellungnahme Andraſſys zu einer Dffupation Bosniens und der
Herzegomina, die befonders in Miilitärkreifen auf8 eifrigite propagiert wurde,
nit nur als paffiv, fondern „noch fehlimmer: als geradezu widerfinnig” be
zeichnen zu müfjen. Andrafiy wollte in der Tat im Drient nicht durch Kriege,
fondern nur in friedlidder Weife Eroberungen maden. Und wenn er immer
wieder gegen die „abjolut annertoniftifche Politif" mancher Kreife Front machte,
fo ziemt es nicht, diefen Standpunkt des Mtinifters, der in der Erhaltung der
Türfet das erfte Gebot für die Drientpolitit Dfterreih-Ungarns fah, mit den
teaktionären Beftrebungen des alten Staatälanzler8 Metternich zu vergleichen.
Vielmehr: Die meltpolitiihe Bedeutfamfeit der Türkei für die Zentral.
mädhte in ihrer ganzen Größe zum erften Male erlannt zu haben, wird alle Zeit
das unvergängliche Berdienit Andrafjys bleiben. Er hielt die Aufteilung ber
europäifchen Türkei nicht nur vom Öfterreichifchen Standpunkt, fondern auch aus
europäifhem Interefje für den größten politiihen Fehler. Nur aus folchen
Gefichtspunften wollte er die Türken nicht aus den beiden Provinzen mit Gewalt
vertreiben, verdrängen, fie vielmehr folange als möglid dort durch Erteilung
von Ratichlägen und Anempfehlung von Reformen ftüten, im gegebenen Moment
jevod an ihre Stelle treten, falls ihnen die Kraft mangle, ihre Pofition felbft
zu verteidigen. Schwächlich und energielos kann ſolche Politik nicht bezeichnet
werden. Denn auch in dieſen Jahren, die dem Berliner Kongreß vorangingen,
hätte Andraſſy die Zuſtimmung der Großmächte — vielleicht mit Ausnahme
Rußlands — für eine Okkupation Bosniens und der Herzegowina gefunden.
Wohl war dieſe Politik eine Friedenspolitik, mit nichten aber — wie ihm ſo
oft zum Vorwurf gemacht wurde — eine ſolche um jeden Preis. In der ungariſchen
Delegation erklärte er (im September 1875), daß der europäiſche Friede aller
18*
976 Andraffy und die Öfterreichifch- ungarifche Orientpolitif
Borausfiht nad als gefichert betrachtet werben Tönne, aber ganze Verantwort-
lichfeit dafür Fönne er allerdings nur übernehmen, wenn unter allen Umftänden,
was auch immer geſchehe, die Intereſſen der öſterreichiſch ungariſchen Monarchie
gewahrt würden. Vollſte Übereinſtimmung und nachdrücklichſte Unterſtützung
tn ſeiner Drientpolitik fand Andraſſy in Bismarck.
Noch auf dem Berliner Kongreß, wo die ruſſiſchen Bevollmächtigten, wie
ſchon auf der Entrevue von Reichſtadt (MMai 1876), offen die Zerſtücklung bes
Osmanenreiches forderten, war Andraſſy nicht willens, die Teilungsfrage vor
den Kongreß zu ziehen. Und wenn ihm das nicht gelang, ſo war es nicht
ſeine Schuld; denn er fand weder beim ruſſiſchen noch beim engliſchen Kabinett
die nõtige Unterſtützung zu einer friedlichen Löſung der türkiſchen Frage.
England förderte geradezu den ruſſiſchen Vorſchlag einer Teilung der europätjchen
Turkei. Die geheimen Abmachungen zwiſchen Oſterreich- Ungarn und Rußland
auf der Entrevue von Reichſtadt und nicht — wie ſpäter und heute noch
oft behauptet wird — der Berliner Kongreß, gaben der Monarchie die Grund⸗
lage für eine fpätere Beſitzergreifung Bosniens und der Herzegowina und
ficherten gleichermaßen den Ruſſen während ihres Krieges mit der Türkei die
Neutralität Ofterreihs. Andraffy hatte durch biefe Konvention nicht einen
Krieg zwifhen Rußland und der Türkei, wohl aber einen folden zwiichen ber
Monarchie und dem Zarenreih zu hindern oder mindeſtens hinauszuſchieben
vermoddt. Er hatte hier den Grundftein aufgebaut, auf dem Ofterreih- Ungarn
zu einem hervorragenden Faktor im nahen Drient emporwachſen konnte. In
Rußland wollte man um die Mitte der fiebziger Jahre in offiziellen Streifen
unter allen Umftänden eine gemwaltfame Löfung der türkifhen Frage durch Auf-
ftellung maßlofer, unannehmbarer Bedingungen für die Türkei herbeiführen.
Dazu bediente man fi) des uns heute beftbefannten Schlagwortes, für Rußland
das „ansihließlide Proteltorat Über die gefamten Chriften des Orients“ zu
erwerben.
Die wahren Abfihten Rußlands erhellten jenoh aus einer offenherzigen
Äußerung eines Mitgliedes ber Wiener ruffifcden Botichaft: „Wenn Lfterreic-
Ungarn fi) jegt zu unferer Politik gefellt, Tann die Löfung der Krifis in feinem
Ssnterefle erfolgen, wenn nicht, werden wir die Stage etwas fpäter ohne und
gegen Ofterreich erledigen.” Laut und vernehmlich Klingt aus dem von Andrafiy
verfaßten Antwortfchreiben des Kaiſers Franz Joſef an den Zaren die fefte und
ztelbemußte Politif des Grafen heraus: „Erteilt Rußland den Befehl zum
Einmarjd feiner Truppen in die türfifhen Provinzen, fo ift aud) Öfterreid-
Ungarn zur Mobilifierung eines Teils feiner Armee und zur Wahrung feiner
Intereſſen entihloffen. Die gegenfeitigen Zufiherungen der Neichsftabter Ber-
abredung find Hinfälig, wenn fie bei befinitiver Regelung bes Zuftandes ber
europätihen Türkei verlegt würben.“
Andrafiy Tonnte fi in jenen Tagen nicht im bireften Gegenfab und offene
Feindfhaft zu Rußland ftellen. Er hatte fi einerfeitS nad einem Kriege
Andraffy und die Öfterreihifhh-ungarifhe Orientpolitif 277
Nuplands gegen die Türkei bei der Seftfegung der Friedensbedingungen zunächit
die volle Mitwirkung der Monardie ausbebungen. Reale Garantien für die
Meutralität Ofterreichs im Falle eines unabwendbaren ruffifch-türkifchen Krieges:
dies ftellt im mejentlihen das Boftulat der Politit Andrafiys gegenüber Ruß-
land dar. Andrerfeits war Andrafig nicht gemwillt, fih in einen gefährlichen
Bweilampf mit Rußland zu ftürzen, ohne auf die tatkräftige Unterftügung einer
anderen europätfchen Macht rechnen zu können. Deutfchland und feine leitenden
BVerfönlichkeiten ftand gerade damals vor der großen Entjcheidung einer Wahl
zwifhen Rußland und Ofterreih-Ungern. Dab Stalten mit größter Ungebuld
den Moment berbeifehne, in dem es fi in den Befib des Zrentino fehen
Lönnte, war für Andrafiy ohne jeden Zweifel. Bon England glaubte er, daß
es fi in einem Kriege Dfterreihs mit Rußland ruhig als Zufchauer betätigen
werde — bi8 zu den Friedensverhandlungen. hne die Sicherheit europätfcher
Allianzen wollte e$ der leitende Staatsmann der Monarchie nicht zu einem
feindlichen Verhältnis zu Rußland kommen laflen.
Erft nachdem Bismard wiederholt verfihert Hatte, er würde in einem
Kriege gegen Rußland nie eine Wendung zum Nachteile Dfterreich- Ungarns
dulden und in einem foldhen Falle mit dem moralifden Gewichte Deutjchlands,
und wenn nötig, felbft mit Waffengewalt dazwifchentreten, fonnte Andrafiy fich
der Unterftügung Deutichlands im Falle eines ruffiihen Angriffs ficher fühlen.
Seine Stellung zu Bismard, der erfolggerönte Abjchluß einer in der Welt-
geichichte einzig und allein daftehenden Tat: das deutjch-öfterreichifch-ungarifche
Bündnis hatte ihm eine gewaltige Nüdendedung in feiner DOrientpolitit gegen-
über Rupland verfchafft.
Andrafiy und Bismard find in allen bedeutenderen politifchen Fragen in
vollfter Harmonie vorgegangen. So war e8 gewiß von entidheidender Be-
deutung, daß gerade im Augenblid des bevoritehenden Kampfes zwiſchen Ruß—⸗
land und der Türkei an ber Spibe der auswärtigen Gefchäfte des Deutfchen
Reiches der Dann ftand, auf defien aufrichtige Yreundfhaft Andrafiy in jedem Falle
feft vertrauen konnte. Sebt verfuchte der öfterreichifche Mtinifter des Auswärtigen
gegenüber Rußland eine noch entfchiedenere und leichter verftändliche Sprache
zu ‚Iprechen. Am 28. Februar 1877 jchrieb er an den Freiheren von Laugenan:
„Tritt aber infolge der Ereignifie der Zerfall der Türkei und für die Monardjie
fomit aud) die politifche Notwendigkeit ein, an die Befegung Bosnien? und ber
Herzegowina zu fchreiten, dann follte deren @inverleibung feine provijoriiche,
fondern eine dauernde fein.“
Das Loftbare Gut der Freundfchaft Deutihlands follte fi in den zahl-
reichen Ballankrifen der nächften Jahrzehnte in der ganzen Größe feiner welt-
politifchen Bedeutung ermweifen. Schon auf dem Berliner Kongreß zeitigte die
Unterftügung Bismards das große Ergebnis, daß Rußland fi ifoliert fühlte
und notgebrungen der Dffupation Bosnien und der Herzegowina feine Zu-
ftimmung erteilte.
278 Uene Bücher über Mufit
Die orientalifde Politik feiner Nachfolger hatte den zurüdgetretenen Miniſter
it Befremden erfüllt, denn er befämpfte jede Politit Dfterreichg, die nicht
darauf ausging, der Monardie im Driente die Yührerrolle zu bewahren und
zu fihern. Über die Drientpolitit feiner Nachfolger (Haymerle, Kalnody)
urteilte er: „Dat der Berliner Kongreß Rukland aus der Balfanhalbinfel
berausgeleitet, fo haben meine Nadjfolger e8 wieder dahin zurüdgeführt.“
Aufs Höchfte enttäufht war Andrafiy über die Verabredung Kalnodys mit
Rußland, jede im Drient neu auftauchende Frage einer Beiprechung zwilchen
Ofterreih- Ungarn und Nubland zu unterwerfen. Er erblidte in jeder Ab-
madung folder Art ein Aufgeben bes Selbftbeftimmungsrechts, eine Abweichung
von dem dur) Sahre Lonfequent verfolgten Zielen und den Berluft der
wefentlicgften Erfolge, welche die Monarchie erreicht hatte. „Ich befürdite,“ —
fo lauten feine prophetiiden Worte — „daß uns diefe unnatärlidde Kooperation
mit Rußland in ihren Konfequenzen früher oder fpäter, aber fidher vor folgende
nititiave ftellen wird: entweder Verzichtleiftung auf unfere natürlide Madht-
ipbäre, oder Zmweitellung der Macht auf der Balfanhalbinfel und als Yolge
davon — Srieg.”
Neue Bücher über Mufif
Don Dr. Rihard Hohenemfer
23 tft begreiflih, daß immer wieder der Berfudd unternommen
4 wird, über die zunädft verwirrende Fülle der Tünftlerifchen Er-
[heinungen unferer Zeit eine orbnende Überfiht zu geminnen.
Da man bei Behandlung der Zeit, in der man felbft fteht, bie
I Aufgabe des Hiftorilers, die gefhichtlihen Vorausfegungen ber
inzelnen Erjheinungen aufzudeden, in der Regel vernadjläffigt, fo Iaufen bie
Darftelungen der Gegenmwartsfunft meift auf Staffifitationen, verbunden mit
mebr oder weniger fubjeltiven Bemerkungen verjiedenen Wertes hinaus.
So verhält e8 fih auch mit zwei einander nahe verwandten Büchern, von
welchen fi das eine auf die Nach-Wagneriche D.per in allen Ländern, das andere
auf alle Gattungen der deutſchen Tonkunſt beſchränkt (Edgar Iſtel, die moderne
Oper, vom Tode Wagners bis zum Weltkrieg, „Aus Natur und Geiſteswelt“,
B. G. Teubner, Leipzig, 1915; Rudolf Louis, die deutſche Muſik der Neuzeit,
dritte vermehrte und verbeſſerte Auflage, Georg Muller, Munchen). Louis,
der viel zu früh verſtorbene Münchener Muſikrezenſent, gibt, wie mir ſcheint,
das Bedeutendſte ſeines Buches mit dem einleitenden Kapitel „Vom muſibkaliſchen
Fortſchritt/. Die darin dargelegten Gedanken ſind zwar nicht neu, aber gerade
für die Gegenwart, in welcher die Ausdrücke , Fortſchritt“ und „Realtion“ als
Schlagworte aus dem politiſchen in das künſtleriſche Gebiet übertragen wurden,
XIeue Bücher über Mufif 279
tm bödjften Maße beherzigenswert. Vergleicht man vollendete Kunftwerke mit-
einander, fo kann man überhaupt nicht von Fortichritt reden. Beifpielsmweife
bat es feinen Sinn, zu jagen, die Entwidlung fei von Baleftrina zu Bad, von
diefem zu Beethoven „fort“ gefchritten; denn feiner der drei Meifter fchuf Höheres
als der andere, vielmehr nur Anderdartiges. An der Wiflenfchaft und in ber
Technik gibt e8 Fortfchritt, infofern eine Überzeugung durch eine andere, eine
Konftrultion durch eine andere erfegt wird. Das vollendete Kunftwerk dagegen
ift ein Individuum, ein abfolut Einzigartiges, das ebenfowenig wie ein Men
burdh ein anderes Individuum erfegt werden fann. Dennoch gibt es au in
der SKunftgefchichte fortfchreitende Entwidlungen, nämli überall da, wo bie
vollendeten Kunftwerke, die Höhepunkte der Kunft, durch allmähliche Aufwärts-
bewegung aus primitiven Anfängen heraus vorbereitet werben. Sit der Höhe
punlt erreicht, fennen wir alfo das Ziel, fo läßt fi auch der Weg verfolgen,
ber zu demfelben führte. Cine hiervon verjchiedene und fhwer zu entiheidende
Yrage tft e8 dagegen, ob den jeweiligen Zeitgenofjen die Etappen biefes Weges
als folche, d. h. al8 mehr oder weniger unbefriedigende Verjuche, oder bereits
als das Bollendete erjchienen, und andererfeit8 Tann uns nicht die Gejchichte,
fondern nur unfer äfthettfches und Tünftlerifches Urteil Iehren, wo die Verfuche
aufhören und die Vollendung zutage tritt. Aus dem Gefagten ergibt fi, daß
eine fortgejepte Entwidlung in der gleichen Richtung durchaus nicht immer einen
Hortfchritt bedeutet und daß die Reaktion, diefes Wort in feinem urfprünglichen
Sinn, d. h. als natürliche Gegenwirkung veritanden, eine fegensreiche Notwendig-
feit if. &8 wmwechfeln eben Zeiten des Aufftieges, der Höhe und des Verfalls
fomohl beftimmter Richtungen als auch) ganzer Kunftzweige, ja felbft der Kunft
überhaupt. Wer ausgerüftet mit diefen aus dem Wefen der Kunſt und aus
der tatſächlichen gejchichtlichen Entwidlung gemonnenen Srundfäben an die
Gegenwart berantritt, der mag im Zweifel darüber fein, ob er in ihr eine
Beriode der Blüte, des Verfall oder der Vorbereitung auf neue Höhepunfte
fehen foll; aber er wird mwiffen, was er von dem Gerede der Kunftpolitiker,
die mit den Schlagworten „Fortichritt” und „Reaktion“ operieren, zu halten bat.
tel hat Louis’ Gedanken 'mit Recht übernommen und an einer Gtelle
feines Buches Turz wiedergegeben. Auch in der Behandlung der deutichen Oper
ftimmt er, was die Klaffifizierung betrifft, im wefentlicden mit feinem Vorgänger
überein. Den Haupteinteilungsgrund bildet naturgemäß das Verhältnis der
verihiedenen Komponiften und Richtungen zu Wagner. Aber der Gefichtspunkt,
unter welchem die beiden Verfalfer die Werke künftlerifch beurteilen, iſt nicht
ganz der gleiche. Während Louis in erfter Linie von der Muflt ausgeht, über-
wiegt bei itel das dramaturgifche nterefie. Mit vollem echt betont er bie
Wichtigkeit eines guten Tertbuches für den Bühnenerfolg. Aber er feheint mir
bisweilen zu fehr als Zheaterpraltifer zu urteilen, d. h. feine Bewertung einer
Dper zu fehr davon abhängig zu machen, ob ihr ein dauernder Erfolg befchieden
war ober nicht. Wie ftark fich in beiden Büchern das fubjeltive Moment geltend
280 LIeue Bücher über Mufif
macht, zeigt fih 3. 3. darin, daß Louis Hans Pfigner für den einzigen genialen
Komponiften unter den Modernen hält, während “Yftel den „Armen Heinrich”
das gequältefte Merk nennt, das jemals über die Bühne gegangen fei, und
au „Die Rofe vom Liebesgarten“, namentlich des Zerted wegen, nicht eben
bochitellt.
Bei feiner ausgefprochenen Hinneigung zu romantichem Wefen und romanifcher
Kunft ift e8 natürlich, daß er die franzöftiche und die italienifche Oper verhältnis-
mäßig ausführlich behandelt. Er gibt eingehende Analyfen von Bizets „Barmen“
und Berdis „Falftaff“, namentlich um die VBorzüglichleit und Bühnengemäßheit
der beiden Tertbücher Harzulegen. 8 folgt noch ein Kapitel über „Nationale
Dpern“, in welchem die tichechifche, polnifche, ungarifche, ruffiide und flandi-
naviſche Oper mehr geftreift als behandelt wird. Doch vermiffe ich genügend
hharfe Beitimmungen darüber, weshalb die deutiche, franzöfifche und ifalienijche
Dper weniger national fei als jene. In dem „NRüdblid und Ausblid” fowie
im Vorwort zeigt es fi, dak Stel die Einwirkung der politifhen Ereignifje
auf die Kunft überfhägt. Bis zum Srlege fah er das Heil für die Oper in
ber Vereinigung franzöfifeder und deutjcher Elemente. Yebt aber tjt er über-
zeugt, daß Frankreich zu politiiher und darum auch zu Fünftleriider Ohnmacht
berabfinfen werde; die beutiche Oper werde alfo völlig auf fidh felbft geftellt
fein, falls ihr nicht von Dften her neue Einflüffe zuftrömen follten, was davon
abbänge, ob Rußland nad dem Kriege politiih und daher auch Fünitleriich
eritarfen werde oder nit. Demgegenüber. ‚Tann darauf bingemwiejen werben,
daß, wie fhon oft betont wurde, die höchfte Blüte des deutichen Kunftlebens
in eine Zeit der böchiten politiichen Zerriffenheit, die zweite Hälfte des 18. Jahr-
bunderts, fält. Wir follten endlich einfehen, daß wir, bis jebt wenigitens,
durdaus nicht in der Lage find, über derartige Zufammenhänge, fomweit fie
überhaupt beftehen, allgemeine Gefebe aufzuftellen.
Nah der Oper beipricht Louis „Sinfonie und finfonifefe Dichtung“, wobei
bejonder8 die auf rafjentheoretifhen Vorurteilen beruhende fhroffe Ablehnung
der Werle Mahlers auffällt. Ein weiteres Kabitel faht Lied, Chor⸗, Kirchen⸗
und Kammermufll zufammen und ift offenbar in Eile gefchrieben. Intereflant
und für das Wefen des PBarteigeiftes charakteriftiih tft das Belenntnis des
Berfaffers, daß er in feinen FJünglingsjahren zufammen mit anderen Wagner⸗
heißfpornen an der Kammermufit achtlos vorübergegangen fei, biS dann auch
fogenannte Vertreter der neudeutfhen Richtung, wie Pfihner und Slofe, fich
diefem Gebiete zumandten. Den Schluß des Buches bildet ein Kapitel über
Ausübung und Pflege der Muftl.
Eine ganz ander geartete Überficht vermittelt uns H. Kretzſchmars weit
verbreiteter „Führer durch den Konzertfaal“. Hier handelt e8 fi nicht nur
um Neufhöpfungen, fondern um Alles, was in unferen Konzertjälen zur Auf-
führung gelangt und wenigitens einige Bedeutung beanfpruchen fann. Belanntlich
will Kretzſchmar durch feine Analyjen den Konzertbefudher auf das, was er zu hören
Leue Bücher über Muflf 981
belommen fol, vorbereiten, um ihm das Lünftlerifcehe Verftändnis zu erleichtern
und damit feine Genußfähigfeit zu erhöhen. Zugleich aber will er ihn aud
über die gefchichtliden Grundlagen der Werke aufllären. Lebteres Streben bat
dazu geführt, daß das Buch weit über den durchſchnittlichen Anſchauungskreis
des Laien hinausgeht und für den Mufifhiftorifer geradezu unentbehrlich geworden
ft. Ganz befonders jcheint diefe Eigenfchaft, die freilich die Erreihung des
Hauptzweckes etwas beeinträchtigen mag, in dem jebt neu aufgelegten Bande
bervorzutreten, der dem Oratorium und der weltlichen Chormufit gewidmet ift
(9. Kresfhämar, Führer dur) den Konzerifaal, zweite Abteilung, Band 2,
Dratorien und weltliche Chorwerfe, dritte vollftändig neu bearbeitete Auflage,
Breitlopf und Härtel, Leipzig, 1915). Namentli über bie Anfänge des
Oratoriums und über feine Entwidlung bis zum achtzehnten Jahrhundert, Die
fih banptjählid in Stalien vollzog, haben erft die neueften Forfchungen Klar
beit gebradit, und Krebfchmar benütt diefelben zu einer überfichtlichen, Höchft
tnterefjanten geichichtlichen Darftellung. Die fonftigen Erweiterungen des Bandes
gegen die Auflage von 1898 beftehen in Beipredhungen der feitdem entftandenen
Dratorten x. Dabei ergibt es fih, daß das Ausland auf diefem Gebiet weit
probduftiver ift als früher. ‘ch bedauere, daß Kresihmar nicht auch den bei-
bebhaltenen Zeil des Textes einer Revifton unterzogen und die Lleinen Verfehen
der früheren Auflagen befeitigt bat. Sn dem großen Kapitel über die Dratorien
Hänbels, in dem naturgemäß der Schwerpunkt des Ganzen liegt, hätten durch
Berüdfihtigung der neueren Forfehungsergebniffe, wenn fie auch feine grund- .
legende Bedeutung befiten, doch interefjante Gefichtöpunfte gewonnen werden
tönnen. ch denke dabei an das, was über die merfmürdigen und fo verfchieben-
artigen Entlehnungen Händel bekannt geworden ift, ein Thema, das Krebfchmar
nur ganz im Vorübergehen berührt.
Neben dem Dratorium bilden den widtigften Beftandteil unferer &hor-
fonzerte die Werle Bachs, die Krebichhmar, weil fie ihrem Wefen und ihrer
urfprünglicden Beitimmung nach der Kirchenmufil angehören, in einer anderen
Abteilung feines „Führers“ behandelte Doch fei bier zum Schluß no ein
Heines Buch erwähnt, mweldhes der Pflege der Bachihen Kantate in Konzertfaal
und Kirche dienen will (Leonhard Wolff, %. Sebafttan Bachs Kirchenlantaten,
ein Nachſchlagebuch für Dirigenten und Mufilfreunde, Kurt Wolff, Leipzig).
Kür nicht weniger al3 199 Kantaten in der Reihenfolge, in welcher fie in ber
großen Ausgabe der Bachgefellichaft erfähtenen find, bringt e8 genaue Angaben
über Befegung zc., fodaß es dem Dirigenten leicht fällt, diejenigen SKantaten
berauszujuchen, deren Aufführung fi mit den ihm zur Verfügung ftehenden
Kräften ermöglichen läßt. Bei der erfreulicden Entwidlung unferer Kirhenchöre
während der lehten Jahrzehnte und bei dem im Steigen begriffenen nterefje
für die Bachihe Kantate wird das Buch zweifellos gute Dienfte leiften.
—
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Philoſophie
Max Scheler, Abhandlungen und Auf⸗
ſätze. 2 Bände. Leipzig, Verlag der Weißen
Bücher 1916.
Die philoſophiſchen Schulen der jüngſten
Bergangenheit waren im allgemeinen dadurch
gelennzeichnet, daB fie einen Philofophen der
Bergangenheit — Kant, Fichte, Schelling,
Sries, Hegel — der Gegenwart neu er-
f&loffen, um fo zum Weiterbauen eine Grund-
lage zu fIhaflen. 8 war don bornberein
da Charakteriftilum der jungen Göttinger
Bhänomenologenihule, die fih unter dem
Borgang Edmund Huflerld gu einer engen
Methodengemeinihaft zufammenfchloß, daß fie
in unabhängigerer Weife, weniger belaftetdurd
Biftorifch übernommene Problemftellungen, nad
neuen Pfaden de8 philofophifhen Denken?
Ausihau hielt. Während Hufferl dem Ge
biete treu blieb, an dem er alß erfter die
neuartigen Unterfuchungen einfegte: der Logit
und Erkenntnistheorie, zeigte fhon das 1918
herausgelommene „Sahrbudh für Philofophie
und pbänomenologifhe Forfhung”, in dem
die Schule fih ihr Organ fhuf, daB diefer
neue Sntuitionigmus durhaus einer iveiteren
Anwendung fähig war. So Ientte ihn u. a.
Geiger auf da8 äfthetiihe, Neinad auf das
recht3pbilofophiihe und Mar Scheler auf das
etbiiche Gebiet. Während der Legtgenannte
an jener Stelle eine ftreng fahlihe Grund«
legung ber philojophifhen Ethif verfuchte und
au in einem andern Werk über die Sympa-
tbiegefühle die neue Methode mit einer ge
wiflen wiflenfhaftliden Exrflufivität handhabte,
zeigen die foeben gefammelt erfchienenen Ab-
bandlungen und Aufläge, wenigftend zum
größeren Zeil, ebenfo wie da8 Turz boraufe
gegangene Verf: Der Geniuß des Friegez
und der Deutiche Krieg, daß es diefer Philo-
fophie bei aller fyftematifhen Strenge ge-
geben ift, auch ein breiteres Bildung2publiktum
an ernfthafte philofophiihe Probleme heran«
auführen, und in den ragen, die der All⸗
tag8journaligmus mit dem abgenugten Werl»
zeug der gedanfliden Konvention bearbeitet,
ihre auf allgemeinere fyiternatifhde Bufammen-
hänge weiterweifende PBroblematif aufzudeden.
Und nod deutlier vielleiht al® in den
früheren wifienjchaftlicderen Werfen tritt hier
zutage, daß der Scelerfche Gedanke zu breit
if, um im Nahmen einer Schulphilofophie
Play zu haben. Xeilt er mit den Böttingern
auch die formale Methode der Wejenzihau :
der ideale Gehalt feines Werld weift auf
andere reichere Quellen, und da8 jo entftan-
dene Ganze erweilt fi al® ein blutbollerer,
plaftifherer Organiemus als die bei aller
Subtilität boh ein wenig dünne Analyſe
Huſſerls.
Indem nun ſo die ideellen Quellflüſſe, die
hier ſich zu einem ſtark mitreißenden Strome
zuſammengefunden haben, aus den verſchie⸗
denſten Richtungen entſprungen find, kamm
auch Zuſtimmung und Widerſpruch ſich viel
weniger eindeutig entſcheiden, als etwa
Huſſerl gegenüber. Was Conrad Ferdinand
Meyer ſeinen Hutten ſagen läßt:
„Das heißt: ich bin kein ausgeklügelt Buch,
Ich bin ein Menſch mit feinem Widerſpruch“
das gilt auch in hervorragendem Maße von
der denkeriſchen Perſon Schelers. So ver⸗
einigt ſich in ihr mit einer faſt romantiſchen
Haltung gegenüber dem mittelalterlichen
Katholizismus und einer ſcharfen Ablehnung
der neuzeitlichen Einheit von Proteſtantismus,
Kritizismus, Kapitalismus doch ein merk⸗
würdig entſchloſſener Wille, dieſe neuzeitlichen
Ideen nun gerade zu Ende zu denken, um ſo
an ihre Grenze zu gelangen und erſt dort
die neuen poſitiven Ideen anzuſetzen. Der
Maßgeblies und Unmaßgeblidhes
impulfipe Trieb zu ihrer radilalen Ver⸗
neinung ftreitet in ibm mit dem pofitiveren
Beflreben einer partilulären Bejabung, die
jreilih) fogufagen eine no) bdemütigendere
Berneinung bedeutet, da fie eine ganz bes
fondere Überlegenheit der eignen abfolut ge-
nommenen Saltung befundet. Auch Gott de»
mütigt den Mephiftopheles am tiefften, gerade
indem er ihn gewähren läßt. So belämpft
Scheler an allen Orten die Abfolutheitan«
fprüde des zivilifatorifchen Geiftes, weiß ihm
aber doch im Dienfte der Kultur eine relative
Rechtfertigung zuteil werben zu laflen. Er
beftreitet die Miberheblichteit des fozialen Ge»
danten?, der die dhriftlihe Liebe erfegen zu
lönnen meint, fundiert ihn aber ficher in der
Idee der Gerechtigkeit und der ftaatlichen
Dpportunität und verfteht ihm fo ebenfalls
feine pofitive Seite abzugewinnen.
Die in den vorliegenden Bänden ber-
einigten Abhandlungen und NAuffäge ber
Khäftigen fi mit einer bunten $ülle tultur-
und leben2pbilofophiiher Fragen. Die
Kärffte Wirkung bat in der früheren Yorm
als Zeitichriftdeitrag die Abhandlung: „Das
Refientiment im Aufbau der Moralen”
(früher: „Neflentiment und moralifches Wert.
urteil”) geübt, die daB Chriftentum gegen
Riegihes Borivurf in Schug nimmt, wonad
es dem Nefjentiment, den Werte berabziehen-
den bämilhen Macdeimpulfen einer unter-
drüdten Schicht, piychologifd feinen Urfprung
verdante. Dagegen erhebt Scheler darin den
gleihen Vorwurf gegen die moderne Bürger-
moral. Der Hritil des SKapitaliamus find
drei Aufläge gewidmet. Zugleich ſetzt ſich
Säeler in ihnen mit Sombart und War
Weber auseinander. Mit befonderem Eifer
belämpft er übrigens die pofitiviftiiche Lebens
philofophie vor allem Herbert Spencer®.
Der Auffag „Zur Jdee ded Menjchen“ zeigt
die Unfähigkeit der Raturwiflenichaft auf, da8
Weien des Menihen mit ihren Kategorien
überhaupt zu faflen, da8 bier ald Gottfucher-
tum eine [höne und tieffinnige Sormulierung
findet. Der Menfh ift ihm da3 Wefen, in
dem ba8 Leben trandzendieri. Eine natür-
fie Einheit des Menichen gibt es nicht. Die
283
Unterfudung über die „dole der Selbiter-
fenntnis* trägt am meilten ftreng twiflen«
Ihaftlihen Charakter. Sie entwidelt eine
PBhänomenologie der Täufchungen der innern
Wahrnehmung. Die Abwendung don der
Tantifden Ethit der Selbftahtung und des
ftarren Formaligmuß de8 Guten fommt in
der wundervollen Arbeit „Zur Nebabilitierung
der Tugend” zum WYusdrud. Mit dem
„Phänomen ded Tragiihen“ werden aud
äfthetiihde Probleme in die Betradhtung ge=
rüdt, obihon die Argumentation darauf ab»
zielt, diefen Begriff über das äfthetiihe Ge»
biet Binauß zu erweitern. Spezielle moderne
Fragen altuellen Eharalterd behandeln fchließ-
lich die Auffäge über die Mentenhufterie und
über die Frauenbewegung.
E83 ift ebenfo unmöglid, auf engitem
Naume einen kirfliden Begriff von dem
Neihtum der aufgeworfenen Denfaufgaben
und von ihrer vielihichtigen Problematik zu
geben, wie vollendd einzelne Xhejen des
Denter8 oder feine Grundhaltung zum Gegen»
ftand der Kritil zu maden. Daß die Phil»
fopbie der Gegenwart von Mar Sceler
flärffie Impulfe erhalten und aud no
ferner zu erwarten bat, Tann ungeicheut auge
geiprohen werden. Denjenigen, denen eine
fahlihe Beihäftigung mit philofophiichen
Fragen berfagt ift, und die dennod ihr
Denten philofophifch vertiefen wollen, werden
wenige unter den lebenden Philofophen fo
viel zu geben haben wie Scheler gerade in
diefem Werl. 8 bleibt natürlich feinem
fahliden Wollgehalt entfprechend für den
Ungefchulten eine nicht gerade leichte Lektüre.
Aber e3 bietet in den meiften fällen wenig
ften® Teine dem Laien unüberwindlicdhen
Schwierigfeiten. &% ift niemals troden, oft
ein wenig draufgängerifch-higig in der Abs
lehnung gänzlih irriger Meinungen, aber
durchaus ehrfürdtig, feinfühlig und weitherzig
bor den genialen Rortführern der Bhilofophies
geihichte und reicht feine gedanklihe Yülle
in einem Stil dar, in dem die pradtvoll
ftämmige Haltung diefe® Denkers ihren
dedenden Ausdrud gefunden bat.
Dr. Boehm
Kriegstagebucd;
21. Januar 1916. An der Sralfront erleiden die Engländer unter
General Aylmer eine fhwere Niederlage, über 8000 XTote.
21. $anuar 1916. Die feindlihen Sciffäverlufte im Dezember
duch U-Boote betragen 24 Schiffe mit 104 764 Tonnen.
22. Kanuar 1916. Bei Neuville, nördlich Arras, die vorbere feind-
Iihe Stellung in 250 Meter Breite genommen, 71 Gefangene.
22. Januar 1916. Nördli von Bojan auf der Höhe Dolzof einen
zuffiihen Graben mit 800 Mann Bejagung gefprengt.
22. Januar 1916. Antivari und Dulcigno von den Ofterreichern bejet.
23. Xanuar 1916. Ein deutihes U-Boot verfentt im Golf don
Salonili einen englifhen Truppentraneportdampfer, vorher am 18. im
Mittelmeer den armterten englifhen Transportdampfer „Marere”. Am 17.
wurde daßfelde U-Boot von dem engliihen Dampfer „Melanie unter
boländiiher Flagge angegriffen.
23. Januar 1916. Erfolgreihe Flugzeugangriffe auf Dover und
Hougham.
28. Januar 1916. Feindlicher Luftangriff auf Metz, ein Flugzeug
abgeſchoſſen.
28. Januar 1916. Ein vom griehifhen Boden autgeftiegenes
Blugzeuggeihwader belegt Bitolj (Monaftir) mit Bomben.
23. Januar 1916. Stutari, Riffic, Danilowgrad und PBodgoriga
von den Ofterreichern befegt.
24. Sanuar 1916. Sn Flandern ftarle AUrtilleriefämpfe, vier Minen”
werfer erbeutet. Hftlih Reupille feindliche Gräben genommen, 8 Mafchinen-
gewehre erbeutet, über 100 Gefangene gemadt. Deuticher erfolgreicher
Sluggeugangriff auf Nancy.
25. Januar 1916. Abgeſchlagene Gegenangriffe der Franzoſen bei
Reuville, noͤrdlich Arras
26. Januar 1916. Bei Oslavija am Görzer Brückenkopf nehmen
die Oſterreicher einen Teil der italieniſchen Stellungen, ſie machen 1107
Gefangene und nehmen 2 Maſchinengewehre.
26. Januar 1916. Die Vereinbarungen über die Waffenſtreckung
von den Bevollmächtigten der montenegriniſchen Regierung unterzeichnet.
25. Januar 1016. Durazzo durch öſterreichiſche Flieger angegriffen.
26. Januar 1016. Beiderſeits der Straße Vimy —Neuville bie
franzoöſiſche Stellung in 600 -600 Meter Breite geftürmt, 58 Gefangene
gemacht, 6 Maſchinengewehre, 5 Minenwerfer genommen.
27. Januar 1916. Die offene Stadt Freiburg i. Br. vom Feinde
bombardiert. — Unſere Flugzeug⸗Verluſte an der Weſtfront vom 1. Oltober
1015 an betragen 16 Flugzeuge, die Feinde verlieren in der gleichen Zeit 68.
27. Januar 1916. Durazzo von öſterreichiſchen Seeflugzeugen
bombardiert.
28. Januar 1016. Nordöoͤſtlich von Neuville beim Gehoͤft La Folie
feindliche Gräben in 1600 Meter Breite geftürmt, 818 Gefangene, 19 Mafchinen-
Kriegstagebudy
gewehre genommen. Am WWeftteil von St. Laurent bei Arras eine Säufer-
gruppe geftürmt. Südlih der Somme dad Dorf Frife und 1000 Meter
tiefe, 8500 Meter breite anfchließende feindliche Stellung erobert, 1287
Gefangene, 138 Mafhinengewehre, 4 Minenwverfer erbeutet.
28. Januar 1916. WMuffiihe Angriffe nordiveftlih von Uſzieſzko
am Drieftr zurüdgeichlagen, an ber Strypafront zwei ruffifhe Flugzeuge
gerftört, drei weitere zur Landung binter der feindlichen Linie gezwungen.
28. Januar 1916. Mleffio und San Giovanni di Medua von ben
Oſterreichern beſetzt. Einfhlieglich der Lowifchen-Beute wurden in Monte
negro bißher an Waffen eingebradt: 814 Geichüge, 50 Mafchinengeivehre,
über 50 000 Gewehre.
29. Januar 1916. Ein franzöfifher Angriff auf die eroberfe Stellung
ſüdlich der Straße Vimy — Neuville abgeſchlagen.
29./80. Januar 1016. Erfolgreiche Luftſchiff⸗Angriffe auf Paris
als Vergeltung für den Angriff auf Freiburg.
80. Januar 1916. Abgewiefene franzöfiihe Angriffe auf die er-
oberten Stellungen bei Reupille und füdlih der Somme.
80. Januar 1916. Nuffiihe Angriffe bei Wienau, weftlid Riga,
abgeſchlagen.
831. Januar 1916. Engliſche Handfſtreiche gegen unſere Stellung
weſtlich Meſſines vereitelt.
81. Januar 1916. Deutſcher, erfolgreicher Luftſchiff⸗Angriff auf die
feindlichen Schiffe und Depots in Saloniki.
81. Januar 1916. Eins unſerer Marineluftſchiffgeſchwader greift mit
großem Erfolg Dod-, Hafen⸗ und Fabrikanlagen in und bei Liverpool,
Birkenhead, MNancheſter, Nottingham, Sheffield, am Humber und bei Great
HYarmouth an. Viele Munitionfabriken uſw. zerſtört, der kleine Kreuzer
„Caroline“ und die Zerſtörer „Eden“ und „Nith“ verſenkt.
81. Januar/ 1. Februar 1916. Ein deutſches U⸗Boot verſenkt in
der Themſemündung einen engliſchen bewaffneten Bewachungsdampfer und
einen belgiſchen, ſowie drei engliſche, gleichen Zwecken dienende Fiſchdampfer.
1. Februar 1916. Der engliſche Kohlendampfer „Franz Fiſher“
durch einen Zeppelin verſenkt.
1. Februar 1916. Der ruffiihde Minifterpräfident Goremylin tritt
zurüd, fein Radfolger ift Stürmer.
1. Februar 1916. ine ftärlere ruffiihe Abteilung füdlih von
Kuchecka Wola an der Wieſielucha aufgerieben.
1. Februar 1916. Durazzo zum drittenmal von öſterreichiſchen
Fliegern angegriffen.
1. Februar 1916. Ein deutſches Kriegsſchiff bringt den engliſchen
Dampfer „Appam“ mit deutſchen Gefangenen aus Kamerun nach einem
amerilaniſchen Hafen auf, nachdem es an der Weſtklüſte Afrikas 7 andere
Dampfer verſenkt hatte.
23. Februar 1916. Lebhafter Artilleriekampf in Flandern, bei Neu⸗
ville und an weiteren Stellen der Weſtfront.
2. Februar 1916. Nordöſtlich von Bojan ruſſiſcher Handſtreich
geſcheitert.
2. Februar 1916. Balona durch öͤſterreichiſche Seefluggeuge an⸗
gegriffen.
2. Februar 1916. WMarineluftihiff „2. 19" in der NRordfee ber-
285
286
Kriegstagebud;
loren. Der englifhe Fifhdampfer „King Stephen“ findet dad Wrad, läßt
aber die darauf befindlide Befagung in den Wellen umlommen.
8. Februar 1916. Kruja in Rorbalbanien von den Dfterreichern befekt.
8. Februar 1916. Nüdgzug der Italiener am Tolmeiner Brüdentopf.
8. Februar 1916. SHfterreihifhe Kreuzer beihiegen Ortano und
San Bito an der italienifhen Oftküfte.
4. Februar 1916. An der Champagne und in den Bogefen ftartes
Artilleriefeuer.
4. Februar 1916. Luftihiff- Angriff auf Dünaburg.
5. Februar 1916. Kleinere engliihe Angriffe füdweftlih von
Meifines und füdhlih des Kanals von La Baflee abgeiviefen.
6. Februar 1916. Eine ruffiihe Feldwadftellung auf dem öftlihen
Scharaufer genommen, ®egenangriffe abgefchlagen.
6. Februar 1916. Prinz O8lar von Preußen an der Oftfeont durd
Granatfplitter leicht verwundet.
7. Februar 1916. Lebhafte Kämpfe füdlih der Somme. Boperinghe
und, engliihe Xiruppenlager zwiihen Boperinghe und Dirmude durd
deutihe Flugzeuge erfolgreich angegriffen.
7. Februar 1916. Rergebliche Angriffe der Huflen nordiweftli von
Tarnopol.
7. Februar 1916. Für die Türken ſiegreiche Gefechte an der Irak⸗
front bei Korna.
8. Februar 1916. Weſtlich Vimy die erſte franzöſiſche Linie in 8300 m
Ausdehnung geſtürmt, über 100 Gefangene, 5 Maſchinengewehre erbeutet.
8. Februar 1916. Ein deutſches U⸗Boot verſenkt an der ſyriſchen
Küſte das franzöſiſche Linienſchiff Suffren“ (nach franzöſiſchen Meldungen
den „Admiral Charner“).
9. Februar 1916. Nordweſtlich Vimy den Franzoſen ein groͤßeres
Grabenſtück entriſſen, bei Neuville einen Trichter wiedererobert. 532 Ge⸗
fangene, 2 Maſchinengewehre erbeutet.
9. Februar 1916. Ramsgate, ſüdlich der Themſemündung aus⸗
giebig mit Bomben belegt.
9. Februar 1916. In Wolhynien und an der oſtgaliziſchen Front
ruſſiſche Angriffe abgewieſen.
9. Februar 1916. Tirana in Albanien von den Oſterreichern beſetzt.
10. Februar 1916. Denkſchrift der Kaiſerlich Deutſchen Regierung
betr. bewaffnete feindliche Handelsſchiffe.
10. Februar 1916. Nordweſtlich Vimy und ſüdlich der Somme
vergebliche Verſuche der Franzoſen, die verlorenen Stellungen wieder⸗
zugewinnen.
10./11. Februar 1916. Oſtlich der engliſchen Küſte auf der Dogger⸗
bank verſenken unſere Torpedoboote den neuen engliſchen Kreuzer Arabis“
und einen zweiten Kreuzer; der Kommandant, zwei Offiziere und 24 Mann
der „Arabis“ gerettet.
10. Februar 1916. Schwere Kämpfe bei Tarnopol.
10. Februar 1916. Bei Flitfh im Rombongebiet nehmen die Öfter-
reicher eine italienijhe Stellung; 78 Alpini gefangen, 8 Mafchinengewehre
erbeutet.
12. Februar 1916. Güdöftlih von Boefinghe über 40 Engländer
gefangen. Die Engländer befchießen die Stadt Lille. Die Befamtbeute bei
nn — — FFrn— — m _ _
Kriegstagebudh
Bimy bis 9. Februar beträgt 9 Dffigiere, 682 Mann an Gefangenen,
35 Mafchinengewehre, 2 Minenwerfer. In der Champagne füdlih von
St. Marierd-Py die franzöfiihe Stellung in 700 Meter Ausdehnung ge
flürmt, 206 Gefangene. Nordivefllih von Maffiges zwei heftige feindliche
Angriffe geicheitert. Umfangreihe Sprengung feindlider Gräben ziwiihen
Maas und Mofel. GHftlih St. Die, füdlih Lufle, einen vorgeſchobenen
franzöfilden Graben genommen, 30 äger gefangen. La Panııe und
Boperingbe ausgiebig mit Bomben belegt.
12. Februar 1916. SHftlih von Baranowitfchi den Ruſſen zwei Vor⸗
werte am weftlihen Scharaufer entriffen.
12. Yebruar 1916. NMavenna, Codigero und Cavanello von öfters
reihifhen Flugzeuggefhwadern bombarbdiert.
12. Februar 1916. Die Bulgaren bejegen Elbaflan in Albanien.
18. Februar 1916. Sn der Champagne feindlihe Gegenangriffe
füdliH von St. Marierd-By abgewieſen; nordiwefllid Xahure 700 Meter
franzöfilhe Stellung geftürmt, über 800 Gefangene, 8 Mafchinengeivehre,
5 Minenwerfer erbeutel. Bei Oberfept, norbweftlih Pfirt, franzöfiiche
Gräben in 400 Meter Ausdehnung genommen, 2 Wafchinengewehre,
11 Minenwerfer erbeutet.
18. Februar 1916. Der cnglifhe Kreuzer „Arethufa” gefunken.
"14. $ebruar 1916. Südöftlih von Ypern 800 Meter der englifchen
Stellungen geltürmt, 100 Gefangene. Abgewiefene franzöfifhe Angriffe
füdlih der Somme, nordweftlih Neims, nordweftlih Tahure und bei .berfept.
14. Hebruar1916. Mailand dur äfterreihifche Flieger erfolgreich
angegriffen. |
14. Februar 1916. Die Berlufte der Engländer an der Xraffront
betragen in den legten Kämpfen rund 2000 Mann. Un der Kaufafusfront
ergaben bie Kämpfe der legten drei Tage 5000 tote Auffen.
15. $ebruar 1916. Drei vergeblidhe Angriffe der Engländer auf
die von und eroberten Stellungen bei Hpern und vergebliche Angriffe ber
Sranzofen bei Zahure.
16. Februar 1916. ALuftangriffe auf Dünaburg und Wilejla.
16. Februar 1916. Die NAuflen nehmen Erzerum.
17. Sebruar 1916. Erneute engliihe Gegenangrifie bei Hpern blutig
abgewiefen, ebenjo ein franzöfifher Angriff füdlih der Somme,
17. $Kebruar 1916. Feindlicher Yliegerangriff auf den Bahnbo
Hubdowa, fühweltlih von Strumige. — Kavaja von Albanern und Diter-
reichern beſetzt.
18. Februar 1916. Engliſcher Angriff ſüdöſtlich Ypern geſcheitert.
Nördlich und nordöſtlich von Arras, zwiſchen Aisne und Maas, auf der
Combreshõhe erfolgreiche Sprengungen. Nordöõſtlich von Largitzen, ſud⸗
weſtlich Altkirch, 2 Minenwerfer erbeutet.
18. Februar 1916. Italieniſcher Fliegerangriff auf Laibach, ein
Flugzeug abgeſchoſſen.
19. Februar 1916. Am Vſerkanal, nördlich Ypern, die engliſche
Stellung in 350 Meter Breite geftürmt, 30 Gefangene.
19. Februar 1916. Erfolgreicher Luftangriff auf Ylugplag und
Truppenlager Furnes, Luneville und andere Orte der Weftfront.
19. Februar 1916. Logiihin und die Bahnanlagen von Xarnopol
von deutichen Fliegern angegriffen.
287
288 Kriegstagebudh
19. Kebruar 1916. Die Mliierten verbafteten die Konfuln ber
Mittelmaͤchte auf der griechiſchen Inſel Chios.
20. Februar 1916. Vergebliche feindliche Angriffe noͤrdlich Ypern,
füdlich Loos und an der Straße Loos —Arras.
20. Februar 1916. Bor Dünaburg gefcheiterte ruſſiſche Angriffe.
20. Februar 1016. Erfolgreiche Flugzeugangriffe auf Deal, Lowestoft
und auf Tankdampfer in den Downs.
20. Februar 1916. Weſtlich von Kavaja erreichen die Albaner unter
oſterreichiſch⸗ ungariſchen Offizieren die Adriaküſte.
21. Februar 1916. Oſtlich von Souchez 800 Meter frangöfifche
Stellung im Sturm erobert, 858 Gefangene, 8 Maſchinengewehre. Zahl⸗
reiche Luftgefechte, ein deutſches Luftſchiff bei Revigny abgeſchoſſen.
21. Februar 1016. Erfolgreiche oͤſterreichiſche Luftangriffe in der
Lombardei.
22. Februar 1916. Oſtlich der Maas, nordweſtlich Verdun, die aub⸗
gebauten franzoͤſiſchen Stellungen in 10 Kilometer Breite und 8 Kilometer
Tiefe geſtürmt, mehr als 8000 Gefangene, zahlreiches Material erbeutet.
— Weſtlich Heidweiler die feindliche Stellung in 700 Meter Breite und
400 Meter Tiefe geftürmt, 80 Gefangene.
28. Februar 1916. In Santa Erug, Teneriffa, Iandete das engliiche
Schiff „Weftburn” unter deutiher Flagge mit einer deutichen Brifen-
mannihaft von 8 Köpfen an Bord 206 Gefangene von (durd) die „Möwe“ ?)
berfentten 7 engliihen Schiffen. „Weftburm” wurde nad erfolgter Auß-
ſchiffung ebenfalls verfientt.
28. Kebruar 1916. Hftlih der Maas die Orte Brabant, Haumont
und Samogneur, das gejfamte Waldgebiet von Beaumont fowie daB
Serbeboiß genommen. — Südlih Met einen vorgeihobenen franzöfiiden
Boften von 50 Mann gefangen.
23. Februar 1916. Die Italiener und ihr Bundesgenofie Efiad
Baia bei Durazzo gejchlagen.
24. yebruar 1916. Die befeftigten Dörfer und Höfe Ehampneupille,
Eotelettes, Marmont, Beaumont, Ehambretteg und Ornes bei Berdun ge
nommen, fämtlidhe feindliche Stellungen biß an den Louvemonträden ge
ftürmt; über weitere 7000 Gefangene gemadit.
24. Februar 1916. Die Hfterreicher beſchießen den Hafen von
Durazgo, bieher 300 Italiener gefangen, 5 Geihüge, ein Mafchinengewehr
erbeutet.
25. Kebruar 1916. Die PBanzerfefte Douaumont der permanenten
Hauptbefeitigungslinie der Yyeltung Berdun bon brandenburgifchen Truppen
erftürmt.
Allen Manuflripten ift Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rückſendung
nicht verbürgt werben Tann.
NRatibrud fämtlider Untfäge nur mit ausprüdiiher Erlaubnis bes Werlags geattet.
VDerenworilich: der Herausgeber Georg Gleinow in Berlin Lichterfelde We. — Danuffeiptienbungen und
Briete werben erbeten unter der Abdrefie:
Un den Seraudgceher der Urenaboten in Berlin - Lichterfelde Wer, Gteruftrate 56
Gewipredier bes Herausgebers: Amt Lichterfelde 498, bes Berlags und ber Gehriftlettung: Amt Zügen 10.
Berlag: Berlag ber Srengboten ©. m. 5. S. in Berlin SW li, Xempelbofer Ufer 85a
Diud: „Der Neiäsbete” ©. m. 5. 6. in Berlin SW 11, Deflanes Gtzehe 88/37.
Deichnet die vierte Rriegsanleihe!
Das deutſche Heer und das deutſche Volk haben eine Zeit gewaltiger
Leiſtungen hinter ſich. Die Waffen aus Stahl und die ſilbernen Kugeln haben
das ihre getan, dem Wahn der Feinde, daß Deutſchland vernichtet werden könne,
ein Ende zu bereiten. Auch der engliſche Aushungerungsplan iſt geſcheitert.
Im zwanzigſten Kriegsmonat ſehen die Gegner ihre Wünſche in nebelhafte Ferne
entrückt. Ihre letzte Hoffnung iſt noch die Zeit; ſie glauben, daß die deutſchen
Finanzen nicht ſo lange ſtandhalten werden wie die Vermögen Englands, Frank—
reichs und Rußlands. Das Ergebnis der vierten deutſchen Kriegsanleihe muß
und wird ihnen die richtige Antwort geben.
Jede der drei erſten Kriegsanleihen war ein Triumph des Deutſchen
Reiches, eine ſchwere Enttäuſchung der Feinde. Jetzt gilt es aufs neue, gegen
die Lüge von der Erſchöpfung und Kriegsmüdigkeit Deutſchlands mit wirkſamer
Waffe anzugehen. So wie der Krieger im Felde ſein Leben an die Verteidigung
des Vaterlandes ſetzt, ſo muß der Bürger zu Hauſe ſein Erſpartes dem Reich
darbringen, um die Fortſetzung des Krieges bis zum ſiegreichen Ende zu er—
möglichen. Die vierte deutſche Kriegsanleihe, die laut Bekanntmachung des
Reichsbank⸗Direktoriums ſoeben zur Zeichnung aufgelegt wird, muß
der große deutjche Frühjahrsfieg
auf dem finanziellen Schlachtfelde
werden. Bleibe Keiner zurüd! Auch der Heinjte Betrag iſt nützlich. Das Geld
ift unbedingt fiher und hochverzinslich angelegt.
Grenaboten I 1916 19
Der internationale Gedanke
Don Dr. Karl Budheim
er internationale Gedanke ift eine Konjequenz der altruijtifchen
ı Strebungen des Dienfchenherzens. 3 gibt Zufammengebörigfeit3-
1] gefühle, Die über die nächftvertrauten fozialen Kreife, ja fogar
LGA über die Gelamtheit der Volfsgenofien hinausweifen. Diefe Ge-
fühle find erft entftanden, als der geiftige Horizont eine gewilje
Meite erreicht hatte. Wenigftens lehrt die Geiftesgefchichte vieler alter Völker,
fomweit fie für uns erkennbar ift, daß einftmals die fittlichen Bindungen an der
Grenze des Volles aufhörten, daß es lTaum Pflichten gegen Stammesfremde
und Nichtvolfsgenofien gab. Wo e8 aber feine Pflichten gibt, da find aud)
feine Zufammengehörigfeitsgefühle da. Erft fpäter tauden Gedanken der Art
auf, daß es jenfeits der Nationen eine weitere, vielleiht fogar höhere Gemein-
haft gäbe, nämlich die Gemeinfchaft aller Menfhen. Innerhalb der antiken
Kultur, die ja die maßgebende Vorausfegung unferer Kultur tft, finden wir dieſe
Gedanken zuerft in der griechifhen Philofophie. Nachher hat fie Das Chriften-
tum übernommen.
Freilid, wenn man fi) eine wahre Vorftellung von diefem antiken Begriff
der menſchlichen Gemeinſchaft machen will, jo muß man an die begrenzten
geographilhen Vorftellungen des Altertums denlen. Die [hwarze und die gelbe
Nafle lagen außerhalb der Betraddtung, und felbft die Völler Mittelafiens
dürften faum darin eine große Rolle gefpielt haben. Man nannte „Menfchheit“
das, was im lebendigen Verkehr jener Tage fühlbar in Wechfelmirkung trat:
die Völler der Mittelmeerfultur, die ja bald im Nömifhhen Rei aud zu einer
politifhen Einheit wurden. |
Das Römifhe Rei) hat dem internationalen Gedanken fozufagen Hand
und Fuß gegeben. Die vielen Nationen, deren Sonderkulturen früher vielfadh
in fharfem Gegenfag geftanden hatten: die Griechen, die taler, “Yberer und
Kelten, Bunier und Syrer, Ägypter und Lyder, befamen auf einmal Gemein-
famteiten die Fülle. Nömifche Herrfhaft in Dft und Weft, die gleichen Ver-
waltungsgrundjfäge in Spanien und Aften, griehifhe Bildung in Syrien wie
in Gallien, freier fiherer Verkehr bis zu den Säulen des Herkules: Turz, bie
Pax Romana, der „Römijche Friede“ verbreitete feine Segnungen über alle
Nationen der antifen Kultur. Das war eine „Menfchheit” in Fleifh und Blut.
Der internationale Sedanfe 291
Sihtbar ftand fie über den Wölfen. Zur Vollendung gelangte die antile
Neihskultur dadurh, daß fie im Chriftentum einen religiöfen Ausdrud fand.
Für die Gefchichte des internationalen Gedantens und feinen eigentlichen
Sinn ift die Tatfache wichtig, daß er nicht durch nationales Denken zuerft zu
einer geiftigen Macht geworden ift, fondern dur bie Biftorifhe Tatſache der
Eriftenz des Nömifhen Reiches. Diefes war als höheres foziales Gebilde über
den Nationen gegeben. Und weil die meijten Völler, die den antilen geogra-
phiihen Voritellungen geläufig waren, dem Reiche angehörten, jo wurde biejes
Gebilde pralftiih als „Meenichheit” jchlehthin empfunden.
Im Mittelalter blieb diefes Stüd der antiten Vorftellungswelt im wejent-
lichen beftehen. Wenn au das NRömijche Reich al Staat zerfiel, jo blieb es
doch als dee im Bemuptfein der Völker Iebendig. Die geographifche Grund-
lage des Reichsgedankens verſchob ſich dadurch, daß auf der einen Seite die
Germanen für die römiſche Kultur gewonnen wurden und auf der anderen der
griechiſch⸗ſlawiſche Oſten ſeine eigenen Wege ging. Das Reich erfuhr eine
gründliche Wandlung und blieb doch: wahrhaftig einer der wunderbarſten Vor⸗
gänge in der uns zugänglichen Menſchengeſchichte! Es belam einen anderen
Raum, eine neue nationale Zuſammenſetzung, ja ſogar einen veränderten Inhalt.
Es wurde mehr Idee als Tatſache, mehr Erinnerung als Gegenwart und blieb
doch da. Die germaniſchen Kaiſer des Mittelalters ſind etwas anderes als die
Cãſaren und fühlten ſich doch als ihre legitimen Nachfolger.
Das, was man im Mittelalter concordantia catholica nannte, iſt der
römiſche Reichsgedanke zwar in neuer Form, aber doch der alte Gedanke. Weil
die Reichskultur ſich im katholiſchen Chriſtentum bis zu einem religiöfen Aus-
druck hatte ausreifen können, beſtand fie als geiſtiges Weſen weiter, als die
politiſche Schale zerbrach. Der Reichsgedanke wurde zum katholiſchen Gedanken,
und der katholiſche Gedanke damit zur zeitgemäßen Form des internationalen
Gedankens überhaupt. Wie ſchon hervorgehoben, hatte es keinen praltiſch wirk⸗
ſamen Menſchheitsbegriff gegeben, der Chineſen oder Indianer einſchloß. „Menſch⸗
heit“ waren die Völker des Imperium Romanum geweſen, demzufolge hieß
es jetzt im Mittelalter: die Bekenner des römiſchen Chriſtentums. Die griechiſche
Kirche ging ihre eigenen Wege, und die wirtſchaftlichen Verhältniſſe der Zeit
(Rückbildung zur Naturalwirtſchaft, infolgedeſſen ſtarke Einſchränkung des Ver⸗
kehrs) machten eine derartige Verengerung des geographiſchen Horizonts möglich,
daß eine wirkliche Kluft zwiſchen Oſt und Weſt die Kirchenſcheidung zu einem
Kulturbedürfnis der Zeit machte. Abendland und Morgenland wurden jedes
abgeſchloſſene Welten für ſich, und erſt in der Kreuzzugszeit gab es Veranlaſſung,
darũber nachzudenken, daß auch jenſeits des Bereichs der katholiſchen Kirche
Menſchen da wären, neben denen man unter Umſtänden leben lernen müſſe.
Damit bereitete ſich ſchon die Zeit vor, wo die abendländiſche Kultur aus
dem kirchlichen Gehege hinausdrängte. Die ſeit der Kreuzzugszeit einſetzende
Entdeckung der Erde durchbrach die Schranken des bisherigen Geſichtskreiſes,
19*
292 Der internationale Gedanke
ber Verkehr Inüpfte Verbindungen mit üüberfeeifhen Ländern, und das Auf-
fommen der Geldwirtichaft befchleunigte den Rhythmus des Lebens. Man fah,
man fühlte, man begriff, man mußte begreifen, daß die Mtenjchheit etwas
fattiid Größeres war als die Gemeinfhaft der Tatholiiden Kirche. Und dazu
fam, daß diefe Gemeinfhaft in fich jelber zerriß. Die alte Kirche gebar aus
fih feldft eine Antithefe: den Proteftantismus, die abendländiihe Kultur verlor
alfo ihren einheitlichen religiöfen Ausdrud. Dabei tat fi aber im übrigen
feine Kulturkluft zwifdden Katholiken und Proteftanten auf: das ift der Unter-
[&ted der abendländifchen Kirchenfpaltung von ber älteren zwifhhen Rom und
Byzanz. Syn diefer Lage mußte offenbar werden, daß das internationale Jnterefje
ein anderes und räumlich weiteres geworden war als das Tatholifche.
Der internationale Gedanke überflutete alle Dämme. Es war fein Neid)
mehr da, au in der Idee nicht mehr, das ihm eine räumliche Unterlage
gegeben hätte. SYenfeit$ der Meere wohnten ja auch Menſchen anderer Reiche
und fremdartiger Religionen. Alfo war die Menfjchheit mehr als alle Reiche
und Religionsgemeinfchaften, der internationale Gedante konnte weder Reich$-
gedanke noch katholiſcher Gedanke mehr fein, er floß in die Weite wie da$
Meltmeer und wurde „uferlos”. Bei dem Mangel einer Menfchheitsorganifation,
die diefer erweiterten Einficht entfprochen hätte, blieb Doch der univerfale Trieb
im Menfchenherzen lebendig, der nit nur für den Fortfchritt beichräntter
Kreife, jondern für das Wohl des ganzen Menfchendafeins etwas Ieiften will.
Und weil man feine fidhtbare Einheit der Menjchen mehr vor Augen fah, begann
man fie fittlih zu fordern und im Denlen vorauszufegen. So verlor ber
internationale Gedanfe feine biftorifhe Bodenftändigfeit und nahm die Ylügel
bes rationalen Dentens. Aus der neuen Erfahrung und Wiflenihaft gewann
er den Begriff der „Menfchheit” im modernen Sinne. Bald genug fand eine
nicht minder rationalifierte Sittenlehre Pflichten, die aus diefem Begriff floffen,
und „Menfhhenredhte”. rleuchtete Geifter begannen fi als „Weltbürger” zu
fühlen, obwohl es gar feinen Weltitaant gab, nicht einmal ein nod) jo [dwaches
Surrogat dafür. Man war Weltbürger eigentlih in bie blaue LZuft hinein.
Die Zeit felber hatte ein Iuftiges Gefühl dabei freilich Teineswegd. Das ift
fein Wunder, weil die rationaliftifhe Philofophie Denken und Sein grund-
fäglih verwmedjfelte. E8 war aljo nur zeitgemäß, wenn der Nationalismus die
gedachte „Menfchheit” für eine Tatſache der Wirklichkeit hielt.
So ift denn in der Zeit der Aufflärung bie einft bobenftändige und be-
grenzte internationale dee fo weit geworden, aber aud) fo von des Gedankens
Bläffe angefräntelt und „uferlos“, wie fie dem VBerbammungschorus ber
modernen Nationaliften erjheint. Auf dem europätihen Kontinent — von ber
befonderen Infellultur Großbritanniens fehen wir ab — war e8 bie franzöflfche
Revolution, die endlid den Verfuch unternahm, dem melibürgerliden Gedanten
eine tatjähhlihe Unterlage zu geben und einen Anlauf zur Organifation ber
Menjhheit zu maden. Statt des erträumten beglüdenden univerfalen Menfchen-
Der internationale Gedante 293
ftaate8 wurde freilich in fehter unbemußtem Übergange ein recht gemalttätiges
franzöftiches Nationalreich fertig: nebenbei einer der Fälle, wo man deutlich fehen
fann, daß die Gejchichte eine eigene immanente Logik hat, die über Die Gedanken der
jedesmaligen verebrlichen Zeitgenoffen erhaben if. Aber der rationaliftifche
weltbürgerlihe Gedanfe hatte damit feine Rolle noch Teinesmegs ausgefptelt.
Die deutfche tdealiftiiche Philofophie, die in der Erlenntnistheorie jo feharf mit
dem Rationalismus brach, z0g die ethiichen Konfequenzen vielfach nicht, und
fo fpielen denn die Weltbürgerpflichten und »rechte bei Kant und feinen Ge-
finnungsgenoffen noch eine große Rolle.
Um diefe Zeit begann auch in Deutjchland der Liberalismus aus den
Ergebnifjen des neuzeitlichen Denkens politifche Folgerungen zu ziehen. Für
die erftarlenden liberalen Anjhauungen war der internationale Gedanle Höchft
wichtig. Wolitit follte eigentlich fein die Sunft des praftiich Möglichen, war
aber damals weit mehr ein fräftig gefühlter Ymperativ, philofopbiich gefundene
Lehrfäge in die Wirklichkeit einzuführen. Dem begriffsitolzen, immer zum
Deduzieren geneigten Rationalismus mar die vollstümlihe Wahrheit, daß das
Hemde näher als der Rod fei, viel zu draftiih. Yhm fchien das Gebanlen-
wejen des Weltbürgertums viel wichtiger als die Wirklichkeit des Staatsverbandes
und Bollstums. Nationalgefühl erfhien beinahe ein wenig rüditändig, Staat$-
gefinnung als Außerlide Ordnungspflidt: daher war im politifchen Programm
des Liberalismus von Haufe aus der internationale Gedanke, das weltbürgerliche
Empfinden eine viel felbjtverjtändlichere Sahe als Nationalismus und warme
Hingabe an den Staat. Nicht jene weiteren, fondern biefe engeren Gefühle
mußten Hinzugelernt werden. Die geiftesgefhichtlide Situation war gerade
umgelebrt wie in der Antile, wo der Stadt- und Stammespatriotismus ur-
anfänglich gegeben waren, und die internationalen Gefühle neu hinzufamen.
Mir haben hon erwähnt, wie die Ziele der franzöfiihden Revolution aus
weltbürgerliden unverjehens in nationale umfchlugen. Ahnlich, aber langſamer
und tbeoretifcher, verlief die Entwidlung in Deutichland. Man begann zunädhjt
einzufehen, daß die weltbürgerliche Arbeit unmittelbar zum Wohle der Dienfchheit
do ihre fehr großen praltiichen Schwierigfeiten fand, daß man faft immer
“darauf angemwiejen fei, feine humanen Beftrebungen in einem engeren Kreife
zur Geltung zu bringen. So bildete fih das Bemußtjein aus, daß zwiihen
dem einzelnen und der Menfchheit Unterabteilungen verjchtedener Grade not-
wendig, und daß die Nationen die wichtigften diefer notwendigen Unterabteilungen
feien. So fanden die deutichen dealiften ihr Herz zum deutichen Volle wieder,
daburd daß ja auch dieſes als eine foldhe notwendige Unterabteilung der
Menfchheit erfhien. Und bald ging man einen Schritt weiter. Gerade weil
man im PBerlaufe der Revolution an den Franzofen eine Enttäufjung erlebte,
weil diefe bisher bemunderte Nation ihre humanen Ziele doch in recht eigen-
artiger Weife verwirflicäte, begann man den Mut zu fafen, dem eigenen Volfe
eimas zuzutrauen und zu glauben, daß Deutfhe denn doch nicht fähig wären,
294 Der internationale Gedanfe
fo fehmählich ihre Jdeale zu verfälfhen. Ya, man begann zu boffen, daß den
Deutfhen von der Vorfehung eine befondere Leifiung für die Läuterung der
Sitten und den Fortichritt der Welt zugedadt fei, eine Miffion, Menſchheits⸗
volk und Vorbild für alle Zeiten und Völker zu werden, wie einft die Griechen.
Das wurde der Glaube des Neuhumanismus und unferer Haffiihen Dichtung
und Bhilofopbie.
Somit hatte man eine neue nationale Wärme aus dem internationalen
Empfinden felber gewonnen: das Deutichtum erfchien als ebelites Gefäß des
Menfchentums, und die Liebe zur Menfchheit Triftallifierte fih in der Liebe zum
heimatlichen VBollstum. 3 war zunädjft noch eine Gedantenliebe, aber fie
folte bald naturbafter werden. Denn jebt wadhten bie alten hiftorifchen Er-
innerungen wieder auf, die mittelalterlichen Refte in den Tiefen der Bolksfeele,
der alte Kaifertraum und alle die noch bodenftändigen Negungen der Boll8-
Ihichten, die nicht fo fehr an der Aufflärung der Führenden und Gebildeten
teilgehabt hatten. Alles diejes halb oder ganz „Rüdftändige” gewann jebt
wieder Lebensreht. Und man war ja fo berzlich froh, die nationalen und
biftorifhen „Vorurteile nun glädlih vor feinem Denken rechtfertigen zu können.
Darum braden fie mit Allgewalt wieder durch. Das war die Stimmung der
deutfchen Romantik,
So fam denn ber auferftandene nationale Gebanle gerade nod) zurecht,
um das werdende politifhe Denlen auch noch mit aus der Taufe zu heben.
Liberalismus und Romantik find lange nicht fo fhharfe Gegenfäge, wie eine
ältere Betradhtungsweife glaubte. Nicht nur den nationalen Gedanken an fid
baben beide gemein, au) mander von der Romantif erneuerte befondere Zug
fand feinen Weg in das neue politifche Denken, 3. B. die Katferidee und das
Vermächtnis der politifchen Einheit des deutfchen Mittelalters, auch viele ftändifche
und territoriale Erinnerungen. Die weltbürgerlichen been aus dem Erbe der
Aufflärung blieben daneben beftehen. Auch die Nomantifer hörten nicht auf,
ihnen zu buldigen. Denn was ift 3.8. die heilige Allianz anderes, als ein
Verſuch, dem internationalen Gedanten eine gewiffe durch Verträge garantierte
Wirklichleit zu geben! Noch viel weniger gaben ihn die Liberalen auf, bie
mehr Rationaliftenblut in den Adern hatten. Seit der ulirevolution ftellten
fie der heiligen Allianz bemwußtermaßen den Gedanken von der Solidarität der
unterdrüdten Völler gegenüber. Und mie grundbfäglich man auf beiden Seiten
ben Menichheitsgedanfen über die ganze Erde ausdehnte, bemeift, daß man
auf fürftliher wie auf Liberaler Seite ebenfomohl den fübamerifanifhhen Re
volutionen wie dem griechifhen Freiheitsfampfe prinzipielle Bedeutung für
Europa beimap.
Einen gemwiffen Ausgleich zwifchen dem nationalen und dem internationalen
Bol fand man in Deutichland in der großdeutichen Jdee. An diefe mündete,
was von mittelalterliden Neichgerinnerungen wieder lebendig geworden war,
ebenfo der neubumaniftifhe Glaube an die Menfchheitsmiffion des Deutichlums
Der internationale Gedanke 295
und die politifden Hoffnungen für die nationale Zuflunft. Kam da8 erträumte
Großdeutfähland zuftande, fo war nicht nur die nationale Einheit verwirklicht,
ſondern ſchon durch die geographifhe Ausdehnung Ofterreih, auch wenn man
defjen nichtdeutiche Länder außerhalb des Neichsverbandes Tieß, ein Hand-in-
Hand-gehen mit weitjlawifchen, magyarifhen und italienifhen Vollselementen
notwendig. Diefes nationale Neid) hätte über fich felbft hinaus auf über-
nationale Aufgaben gewiefen. Aber die Ergebniffe der deutichen Revo—⸗
Iution von 1848 und der Ereigniffe von 1866 machten die großdeutfchen
Hoffnungen zunichte, und das fiegreiche Kleindeutſchtum ſchloß alle Einſchläge
internationaler Gedanten, Hiltorifde Nefte fo gut wie rationale Kon-
ftruftionen, aus.
Gewiß hatte die großdeutiche Fdee den über die Nation hinausweiſenden
Menſchheitsidealen nur eine vielleicht unvolllommene Heimftätte geboten, aber
fie hatte doch etwas davon in fih aufnehmen Tönnen. Das Heindeuifche Neichs-
patho8 dagegen flo alles Mehr-als-Nationale aus. ES mehrte fih fait
frampfhaft gegen gewilfe mittelalterliche SKaifererinnerungen, erfand fogar das
falide Schlagwort vom „evangelifhen“ SKaifertum, obmohl der deutfche Staat
feine Konfeffion hat und baben darf. E8 war kein Wunder, wenn die Satho-
Iifen in der Reichsgründungszeit unter den fogenannten „Neichsfeinden“ beifeite
ftanden und ihre kirchlichen deale erneuerten. Hatten fie in der Kirche ftet3
no einen feiten Boden, den man ihnen nicht nehmen Tonnte, fo wurden Hin-
gegen die Demokraten völlig ind Land Utopia vermwiefen. Somiefo ihrer
geiftesgefhichtlichen Abftammung nad) am meiften mit dem alten Rationalismus
verwandt, erhoben fie jenes Gedankending „Menfchheit” wieder auf den Thron,
das einft im 17. und 18. abrhundert Tonftruiert worden war. Nur war
diefes internationale Pathos einft unpolitife gewejen und trat jet mit politi«
[hen Anfprüden auf den Plan. Untergegangen war dieje Art Menfchheitsideal
feither nie, 1830 und 1848 hatte es eine Rolle gefpielt, aber zu einer großen
politiiden Macht wurde e3 doch erft jebt, als das Fleindeutiche Neich die demo»
fratifchen, Parteiideale nicht gelten ließ, und ein wirtjchaftlich-fozialer Macht-
faltor erften Ranges, die Arbeiterbewegung, die demofratiihen Schlagworte zu
den ihren machte.
Zum Geiftesrüftzeug des Sozialismus gehört nämlich der internationale
Gedanke nicht. Sozialiftiich Tann auch der Nationalftaat fein. Er ijt ein Erb-
ftüd des bürgerlichen Radilalismus, der ihn feinerfeit$ von der Aufklärung
übernahm. Karl Marz, der Stifter der fozialiftifchen Internationale, war eben
feiner Herkunft nach) ein bürgerlicher Nadilaler. Sn diefer Geiftesrichtung wurde
das Nationale völlig verneint. Alle Unterbrücdkten der Erde, gleichviel ob weißer,
ihwarzer oder gelber Hautfarbe, feien folidarifch gegen die herrſchenden Klaſſen.
Die Nationen haben höchftens als Unterabteilungen der Menfchheit Eriftenzrecit,
weil die ganze Menfchheit etwas zu groß ift, um fie völlig von einem ‘Punlte
aus zu beglüden. Allgemeiner Weltfriede und einbeitlihe Organifation ber
296 Der internationale Gedanke
gefamten Menfchheit find von diefem Standpunkte aus fittlicde Forderungen,
die dur) Verträge zu verwirkliden find.
Völlig verfehteden ift diefer moderne internationale Gedanfe von dem
antiken römifchen Reichsgedanten und au) von der Tatholifchen Fdee. Er ift
nicht wie diefe beiden hiſtoriſch bodenſtändig, ſondern „uferlos“, er achtet Leine
natürlichen Schranfen, denn er ift nichts als das, Tonftruierte Gedantenmwejen
der Aufflärung, das nur jebt die Kühnheit bat, mit politiichden Machtaniprüchen
aufzutreten. Die Gefchichte verläuft aber in der Wirklichleit und nicht im
rationalen Denken, und nicht Verträge geftalten und verändern die großen
politifden Organifationen der Menfhen, fondern Mächte. Wenn daher das
internationale Pathos unferes Volles filh großenteils feindlich gegen unferen
nationalen Staat wandte, fo diente e8 in Wahrheit nicht fich felber, weil es
fein Subftrat auf dem wirfliden Boden diefer Männererde hatte, fondern bödh-
fteng außernationalen Mächten, die e8 befjer verftanden hatten als das deutſche
Boll, ihrem nationalen Gedanlen Bedeutung für die weite Welt zu ver-
ſchaffen.
Eine ſolche Macht war vor allem England. Während man auf dem
Kontinent um das Erbe der Vergangenheit rang, war der wichtigſte Teil der
überſeeiſchen Erde engliſch geworden. Hätten unſere Sozialdemokraten ihre
Weltfriedens- und Vertragspläne durchſetzen können, ſie hätten nichts anderes
erreicht als die Sanktionierung der Tatſache, daß die Welt wahrſcheinlich für
alle Zeiten engliſch blieb und immer mehr wurde. England hatte das welt—⸗
umſpannende Reich und damit die Macht zu befehlen. Wer bei uns inter
national ſein wollte, war in der Tat nur engliſch. So verfahren war unſere
Lage bis zur Schwelle des Weltkrieges, daß ein Kleinod des deutſchen Geiſtes,
nämlich die ehrliche Begeiſterung für das Wohl der ganzen Menſchheit, zu einem
Schaden unſerer Selbſterhaltung wurde. Welch eine Erlöſung, daß der Krieg
den gordiſchen Knoten des Widerſtreits zwiſchen den nationalen und den inter⸗
nationalen Strebungen zerhauen bat!
Wenn der Krieg fiegreich ausgeht, dann werden wir unferen Pla an der
Sonne neben den Engländern gewinnen, dann wird in einem angemefjenen
Zeile der Welt nicht die englifche, fondern die deutfde Kultur die Arbeit für
das Wohl und den Fortichritt der in diefem Raume mwohnenden Völler über-
nehmen. Schon ift von der Norbfee bi8 fait an den Perfiichen Golf eine Gaffe
gebroden, und vier Reiche <röffnen durch ihre Waffenbrüderfchaft der Zukunft
ben Weg. Wir Deutfche werden berufen fein, dem Menfchheitsgedanfen mit
an eriter Stelle unter den Völkern zu dienen, und wir werden zeigen Tönnen,
ob wir wirklich wie einft die Griechen ein Salz der Erde find. Generationen
, unjeres Volles haben ein reines Pathos an den internationalen Gedanken gejegt.
Wir wollen diefe8 Pathos, das uns früher in unferer nationalen Entwidlung
mandmal hemmte, jebt al$ nunmehr geläutertes Koftbares Erbe der Vergangen-
heit ung zu eigen madhen und an den Völkern, die uns Vertrauen fchenfen, echte
— — -
— —
Der internationale Gedanke 297
Kulturarbeit leiſten, fie aber nicht als Objelte eines undeutſchen chauviniſtiſchen
Weltherrſchaftsdünlels mißbrauchen.
Wenn wir nach dem Kriege zu ſolcher praktiſchen internationalen Kultur⸗
arbeit berufen ſind, dann werden hoffentlich aus unſerem Geiſtesleben die letzten
Reſte jenes „uferloſen“ Internationalismus der Aufklärung und der Demokratie
des neunzehnten Jahrhunderts verſchwinden. Möge der weltbürgerliche Gedanke
dafür aus ſeinen bodenſtändigen älteren Formen die brauchbaren Ideale wieder
ũbernehmen! Sollte, wie wir hoffen, aus den beiden Zentralmächten Deutſchland
und Oſterreich⸗ Ungarn ein dauernder Verband irgendwelcher Art erwachſen, ſo
haben wir ja wieder in Wirklichkeit eine ſolche übernationale Organiſation, wie
ſie das Römiſche Reich und die katholiſche Konkordanz in ſonſt natürlich ganz
unvergleichbaren Formen für ihre Zeiten geweſen ſind. Dann braucht unſere
internationale Sehnſucht nicht mehr in die Ferne zu ſchweifen. Mitteleuropa
iſt dann ihr Gebiet, wo ſie Kultur- und Vereinigungsarbeit genug leiſten kann,
und doch auch wieder Grenzen hat, die jede Wirklichkeitsarbeit braucht. Vielleicht
ſchließen ſich mit der Zeit noch mehr Staaten dem mitteleuropäiſchen Verbande
an. Dann wird der Raum umſo weiter und die Arbeit umſo größer und für
die Menſchheit wichtiger.
Einen Raum aber, einen beſtimmten Raum für unſern internatiovalen
Gedanken ſoll uns der Krieg vor allem geben, damit wir eine wirkliche und
faßbare „Menſchheit“ vor uns haben, nicht mehr jenes Gedankending, das vor
dem Kriege beinahe unſerer nationalen Zukunft gefährlich zu werden drohte.
Wir wollen uns nicht mehr vor lauter weltbürgerlichem Pflichtgefühl für engliſche
Intereſſen ins Zeug legen, ſondern in unſerem eigenen Raum auf dieſer Erde
für die Völler arbeiten, die unſere Freunde ſind, die ihr Blut mit unſerem zu⸗
ſammen vergoſſen haben. Hier, ihr Sozialiſten und Demokraten, habt ihr eine
Möglichkeit, eine internationale Solidarität zu begründen, die nicht in den nebel-
baften Fernen des bloßen Gedanlens und Wunfches verfämindetl Und, ihr
Katbolilen, follte, wie daS Bündnis mit der Türkei und Bulgarien uns hoffen
läßt, der deutide Kulturgedanfe im Drient dauernd Einfluß gewinnen, fo tft die
Möglichkeit nicht von der Hand zu weifen, daß die römische Kirche die verlorene
Verbindung mit den griehiichen und orientalifchen Chriften wiedergewinnen
könnte.
Täuſchen die Zeichen der Zeit nicht, ſo ſteht für unſer Volk die Epoche der
Bewährung vor der Tür. Was der Glaube unſerer Beſten und oft der Schmerz
unſeres Volksgewiſſens war, das ſoll jetzt in Wirklichkeit ausgeſät werden und
Früchte tragen. Wir ſollen wirklich Gelegenheit finden, die Kultur der Erde
über den Kreis der Nation hinaus zu vermehren und die Menſchheit, ſo viel
an uns ift, volllommener zu machen. Ein Reich nicht unſerer Herrſchaft, aber
unſerer Arbeit wird uns geſchenkt, daß wir nicht mehr mit unſerem weltbürger⸗
lichen guten Willen Völkern nachzulaufen brauchen, die gar nichts von uns
wiſſen wollen, ſondern denen um ſo mehr dienen können, die unſere Freundſchaft
298 Koalitionsfrieg
zu fchäben wiffen. Dan Ieiftet ja in Wahrheit viel mehr, wenn man jeine
Arbeit nicht verzettelt. So werden au) wir dem internationalen Gedanken auf
engerem beftimmten Raume beffere Dienfte leiten als in der uferlofen Weite.
Btsher war das Weltbürgertum unferem Nationalismus feind. Wenn es
jest einen beftimmten Raum für fein Walten und ein Feld praltifher Betätigung
findet, werden beide in einen Alford zufammenklingen. Die Nation wird in
ein größeres Ganze hineinwachfen, aber nicht als Unterabteilung eines national
fonftruierten Gebanfenwefens „Menfhheit”, fondern als lebendiges Organ eines
zum Leben erwacdhenden Menfchheitsorganismus, der mehr als ein Staat ift.
Koalitionsfrieg
a er franzöftiche Yournalift Rivarol hat von den Soalitionen_ge-
fagt: „Elles sont toujours en retard d’une annee, d’une
armee et d’une pensee.“ Man könnte dagegen einwenden, daß
die Zentralmädhte, die Doch au eine Art von Koalition bilden,
die Unrichtigleit des Ausipruches bemwiejen haben, denn fie haben
wenig verfäumt und find nie um Armeen und “deen verlegen geweſen. a,
fie haben im Gegenteil einen folchen “$deenreihtum und ein derartiges Gefchid
in der Einfegung ihrer Armeen an den richtigen Stellen und zur richtigen Zeit
an den Zag gelegt, daß jelbit die Gegner ihnen ihre aufrichtige, neiderfüllte
Bewunderung nicht verfagen fonnten. In der Ententepreffe und namentlich in
den englifchen Blättern glaubt man, wie für alle peinlichen Überrafhungen,
melde die Bierverbandsmächte in diefem Kriege erlebt haben, auch dafür eine
Erflärung gefunden zu haben, die ihrem eigenen Preftige aufbelfen fol. Für
die Zentralmächte, fchreiben fie, jet es leicht, einheitlich vorzugehen. Sie würden
alle von Deutfhland oder richtiger von Preußen fo tyrannifiert, daß fie feinen
eigenen Willen mehr haben dürfen und blindlings geboren müfjen, wenn man
in Berlin befiehlt. Der Londoner „Daily ZTelegraph“ fpielt in einem Artikel
„Die Bolitif der Verbündeten“ Diefes Argument al8 Trumpf aus. Er fchreibt:
„Sie (das verführte Öfterreich- Ungarn und die beiden anderen Opfer: Türkei
und Bulgarien) müfjen tun, was man ihnen fagt, und wenn ihre Anfichten
zufällig mit denen der Striegäherren in der Wilhelmftraße nicht übereinftimmen,
fo brauden fie nicht berüdfichtigt zu werden. Wir (die Entente) haben im
Gegenfate dazu mit wirklichen Verbündeten zu tun, die über die Ziele voll»
ftändig einig find, aber gelegentlich in ihren Anfchauungen über die Mittel aus«
einandergeben, wie das nur begreiflich ift.”
Koalitionsfrieg 299
Milder könnte man fich über die „gelegentlihen” Dieinungsverfchiedenbeiten
unferer Feinde nicht ausdrüden, zumal wenn man an die wenig fhmeichelhaften
Äußerungen der italienischen Preffe über das verbündete England nach dein
Tale Montenegros dentt. Auch die vielgerühmte Einigkeit über das Kriegsziel
befteht offenbar nit. Nur jo wenigftens läßt es fih erflären, warum Sir
Edward Grey fi) genötigt fühlte, dem deutfhen Botfchafter in London, Fürften
Lichnowäly, bei feiner Abreife anzudeuten, daß England im Falle eines ruffiichen
Siege Deutihland vor einem zu tiefen Sturze bewahren wolle. 3 ift ja
alles fo ganz anders gelommen, al man es bei unferen Feinden erwartet hat!
Wie die Dinge jegt für die Entente liegen, läßt fih allerdings injofern von
einem einheitlichen Sriegsziele jprechen, als fie ohne Ausnahme von demfelben
unerreichten Wunfche befeelt find, endlih aus der Defenfive in die Dffenfive
überzugehen und ihre Feinde zu befiegen. Darüber hinaus aber fann von
Einheitlichleit nicht die Nebe fein. Wenn die Vierverbandsmädhte einige große
Siege erlämpften und gezwungen wären, fi) darüber ins Reine zu fommen,
was nah dem fchlieklihen Zriumphe, von dem ihre Zeitungen noch immer
ſchwärmen, zu geicheben hätte, jo würde die Welt vielleiht ein ähnliches
Schaufpiel erleben, wie nah der Beflegung der Türkei dur die Balfan-
ftaaten.
Angenommen, e3 wäre den Engländern und Franzofen geglücdt, den Ruffen
Konftantinopel zu erobern. Was für eine Unmaffe von politifden Problemen
unangenehmfter Sorte hätte fih daraus ergeben! England hätte feinen öftlichen
Verbündeten in der europätfhen Türkei nicht fo ohne Weiteres wirtichaften
lafien lönnen, wie er wollte, und bätte ihm vermutlich dur) Befegung der
Dardanellen einen Dämpfer aufgefebt. Unter diejen Umftänden wäre die obne-
hin nicht fehr feit begründete FSreundfhaft zwiichen den beiden Ländern ficher
fehr bald zu Ende gewejen. Mehr no als die Rivalität zwiſchen Rußland
und England bat der Abfall Italiens vom PDreibunde und fein Beitritt zur
Entente Konfliitsmöglihleiten gefchaffen. Die italtenifche Politil, welche in den
legten Jahren die Adria als italienifches Binnenmeer, „il mare nostro“, be-
tradhtet bat, verfolgt am Balfan Ziele, die fi) mit der urfprünglihen Ballen.
politif der Entente ganz und gar nicht vereinbaren laſſen. Der befannte
Bublizift, Sir Arthur Evans hat in einem vielbeiprocenen Artikel im „Manchefter
Guardian” darauf hingemwiefen. Er hat das Debacle, welches die Entente am
Balkan erlebte, zum Zeil diefen einander miderftreitenden Intereſſen zugeſchrieben
und England vorgeworfen, daß es in feinen Abmachungen mit Stalien bedeutende
flawifhe Gebiete den talienern ausgeliefert und fi dadurd) viele Slawen,
die früher ihre Hoffnungen auf die Entente gefett Hatten, entfremdet habe.
Die Staliener hätten nah Sir Arthur Evans Montenegro leicht retten können,
wenn es thnen ernftlih darum zu tun gemejen wäre. Aber fie hätten es
vorgezogen, Balona zu befegen nad) dem Grundfae, daß der Sperling in der
Hand befier fei ald die Zaube auf dem Dad. Man fieht, daß der „Daily
300 Koalitionsfieg
—
—
Zelegraph“ fi etwas zu optimiftifh äußert, wenn er nur vom einem gelegentlichen
Auseinandergehen der Anihauungen über die Mittel fpricht.
Das große Problem, wie man es anftellen muß, um bem einheitlichen
Borgehen der Zentralmächte ein ähnlich einheitliches Vorgehen entgegenzufeben,
bildete bei dem Vierverbandsmächten allerdings fchon Tange den Gegenitand von
Beratungen gemeinfamer Kriegsräte und von unzähligen Leitartileln und Auffägen
militärifher Fahmänner. Zrogdem hat man das Gefühl, daß dabei bisher
eigentlich nichtS berausgelommen if. Man macht Verjudhe über Berjuche und
vergißt, daß das, was man eigentlich anftrebt, nämlich größere Einfachheit, nicht
erreicht wird, fondern daß man aus dem herrihenden Durcheinander in eine
immer unangenehmere SKompliziertheit hineingerät. Und wenn man fchliekli
fieht, daß die erhoffte Verbefferung der Lage nicht eingetreten ift, bemüht man
fih, die Gründe für das Fehlfchlagen der Pläne ausfindig zu machen und bem
enttäufhten Publilum zu erflären, warum es fo kommen mußte und nicht
anders: Man vertröftet den Lefer auf den nädjiten Frühling, den nädhiten
Sommer, Herbft und Winter, on est toujours en retard d’une anne, d’une
armee et d’une pensee. Gibt es tn diefem Kriege einen fehwergeprüfteren
Mann als den gläubigen Lefer von Ententezeitungen und »zeitfehriften?
Kaum mar das erfte britifche Erpedittonstorps auf dem Kontinent angelommen,
al3 man au ſchon von Reibungen zwiſchen dem franzöſiſchen und dem britifchen
Dberlommandierenden hörte. Die Meinungsverfchiedenheiten bejchränkten fi
nit nur auf das Zufammenmirken der Verbündeten, fie waren auch in jedem
einzelnen Lager, vor allem aber in England, jo ftar! fühlbar, daß daraus für
die Sieben, die ausgezogen waren. um Denutfchland und Ofterreih-Ungarn zu
vernichten und die Landkarte Mitteleuropas gründli umzuändern, die unheil-
volfiten Folgen entitanden. Die mißlungene Entfegung Antwerpeng dur
Churhils Marinebrigade, diefes Meifterftüc an militärifchem Unverftand, das
fi der erfte Lord der Admiralität anfcheinend ganz auf eigene Fauft leiftete,
ift wohl das Haffifchite Beifpiel in der eriten Phafe des Krieges. Einige
zehntaufend balbausgebildete Amateurfoldaten hätten Damals eine verlorene
Stellung retten folen. Ganze Scharen von ihnen gerieten in bolländtiche
Kriegsgefangenfhaft.e Da fie beffere Schaufpieler als Soldaten find, ift aus
ihnen eine im Lande jehr beliebte Kabarettruppe, die „Zimbertown Yollies“,
wie fie fi) felbitironifierend nennen, hervorgegangen, die mit Erlaubnis ber
holländiihen Militärbehörden die Städte bereit und zugunften der durch bie
Waſſersnot Betroffenen Vorftelungen gibt. Das Schidfal war ihnen aber
au) bier nit Hold. Nachdem ihnen das Glüd der Freiheit eine Weile ge-
lächelt hatte, mußten fie plöglic) wieder ins Gefangenenlager nad Groningen
zurüd, um dort Strafen wegen eines nicht ganz aufgellärten Möbelbiebftahls
abzufigen.
Man erinnert fi) ferner an die erften Depefchen des Feldmarſchalls French,
die fharfe Kritilen einiger franzöfifcher Generäle enthielten, und deren rüdfidhts-
Koalitionsfrieg 301
—
loſe Veröffentlichung die Eitelkeit der Franzoſen ſehr verletzte. Andererſeits litt
es der engliſche Stolz nicht, daß die britiſchen Streitkräfte an der Weſtfront
einem einheitlichen und zwar franzöſiſchen Oberkommando unterſtellt wurden.
Im Gegenſatz zu den Zentralmächten, bei denen nach Bedarf öſterreichiſch-
ungariſche Truppen deutſchen Kommandanten untergeordnet wurden und um⸗
gekehrt, wollten die Engländer um keinen Preis auf dem Schlachtfelde ihren
inſularen Dünkel aufgeben, obwohl angeſehene Autoritäten, unter ihnen der
bekannte Militärſchriftſteller Spenſer Wilkinſon, ein einheitliches Oberkommando
für unerläßlich erllärt hatten. Dieſelbe Uneinigleit führte auch in England
ſelbft immer wieder zu Kriſen. Die Angriffe, welche die Northcliffeſche Preſſe
tm letzten Frühſommer gegen das Kriegsamt richtete und die indirekt der Perſon
des Lord Kitchener galten, waren mehr als eine der unzähligen Zeitungs⸗
fampagnen, an denen es in England auch während des Krieges nie mangelte.
MWahricheinlich gingen fie vom Oberbefehlshaber an der britifchen Weitfront aus.
Die erfte fenfationelle VBeröffentlihung über den Munitionsmangel in der „Times“
ftammte von dem militärifehen Mitarbeiter des Blattes, Dberft Repington, der
Trend eben einen Befuh an der Weftfront abgeftattet hatte. Der Zufammen-
bang fit durhfihtig. Die Neibungen zwiichen Frenh und SKitchener waren
damit nicht beendet. Sie haben zu dem Rücktritt des britifchen DOberbefehls-
babers geführt, denn als Rüdtritt ift feine Ernennung zum Dberlommandierenden
der Streitkräfte in England, der fogenannten home forces, anzufehen. Die
Meinungsverfchiebenheit zwilhen rend und Kitchener war derartig, daß fie
eine Zufammenarbeit der Beiden unmöglich madte. French fehte fi) mit aller
Energie dafür ein, daß England fi militärifh im Weften lonzentriere und
dort alle feine verfügbaren Streitlräfte in den Kampf bringe. Er fagte fich,
daß die Entfheibung nur an den großen Fronten erlämpft werden könne und
verurteilte alle Heinen, nicht unbedingt notwendigen Einzellampagnen, die er
für eine Zerfplitterung der Kräfte anfah. Die Ereigniffe fcheinen ihm Recht
gegeben zu haben. Borläufig ift er laltgeitellt, aber er bat feinen politifchen
Andang, der die Flinte noch nicht ins Korn geworfen bat.
Befonders fcharf war die Kritik in ihrer eigenen Prefjfe, al3 die Weſt⸗
mädte, offenbar duch Munitionsmangel behindert, e3 unterliegen, mährend
ber Rüdzugsfämpfe der Ruffen in Polen dur) eine große Offenfive im Weiten
ihrem Verbündeten Luft zu machen. ALS die Dffenfive endlich einfehte, war
e8 zu fpät. Den Weiterblidenden unter den engliihen Bolitilern fam das
vielleicht gar nicht unerwünidt. ES hätte ihnen vielleicht größeres Unbehagen
verurfacht, wenn bie Ruflen wirklich wie eine Dampfwalze nach Berlin und Wien
vorgedrungen und damit militärifch und politiid übermächtig geworden wären.
Die Verhinderung, daß eine Macht in Europa eine Art von Hegemonie
ausüben fan, die dee des Gleichgewichts der Mächte auf dem europätichen
Kontinent, des gegenfeitigen Sih-in-Schad-Haltens, gehört ja feit je zu dem
Ariomen der englifchen äußeren Politit und war eingeftandenermaßen einer der
302 Koalitionsfrieg
Hauptgründe, warum Sir Edward Grey fih am Sriege beteiligte. Und fo
war es ihm vielleicht nicht ganz unwilllommen, daß Nikolai Nilolajemitih, fo-
lange er noch offenfiv auftrat, fi) anfcheinend nicht recht entjheiden Tonnte, ob
er feine Dampfmwalze zuerft nach Berlin oder nah Wien rollen laffen folle,
fo daß ein neutraler Beobachter über ihn fehrieb: „Man weiß nidht, wo er
eigentlich hin will, nad) Wien oder nad) Berlin. Entre ces deux son caur
balance.“
Die Koalition unfrer Feinde Fitt fomit von allem Anfang an unter innerer
Schwäche, ſowohl als Ganzes genommen, wie aud) in ihren einzelnen Gliedern.
Und diefe Schwädhe wuchs rafcd und wurde immer deutlicher. Am meilten trat
fte hervor, al8 Churhill, um über den Mangel an Erfolg binwegzutröften und
ohne Rüdfiht auf die mögliden Folgen im Falle eines Sieges, fih auf fein
Dardanellenabenteuer einließ. Der Kriegsfhaupläge find im Laufe der Zeit
immer mehr geworden, und die Einheitlichleit der Kriegführung ift ganz in bie
Brühe gegangen. Die Kommandos auf den verfchiedenen Kriegsihauplägen
waren voneinander unabhängig. Man hatte allein bei den weltlichen Ver⸗
bündeten zwei felbftändige Heeresleitungen in Franfreih, zwei in Gallipoli,
eine in Mefopotamien, die überhaupt nichtS mit London zu tun hatte, fondern
von Sndien reffortierte, eine in Egypten und eine in Salonili. Es lam die
Zeit der größten militärifhen Ohnmacht der Entente, die Wochen, in denen
Serbien endlich feinen Lohn für die Bluttat in Sarajemo erhielt. Unjere
Feinde famen überall zu fpät. in englifches Blatt bemerkte melandolifdd, es
fei merfwärdig, daß man dem Publilum immer vorhalte, wie ftarf die Ver⸗
bündeten feien, und daß trogdem nichts gefchehe. Lffenbar fei man gerade
immer dort ftarl, wo es im Angenblice nichts zu tun gäbe. Und die „Zimes“
fhrieb einen feharfen Leitartikel, in dem fie verlangte, daß in die Kriegführung
im Dften do endlih Ordnung fommen müfle und man dort einen Mann
braudje, der die Verhältniffe genau fenne und felbftändig handeln dürfe. Sie
mollte einen ftarfen Dann für den often haben. Das war au dringend
notwendig geworden. Serbien war zerfceämettert, Montenegro lag in den leten
Zügen, in Mefopotamien ging es rüdwärts ftatt vorwärts und in Gallipoli
war man fchon feit Monaten nicht von der Stelle gelommen. Kitchener felbft
mußte fih aufmaden, um endli nad dem Rechten zu fehen. Dan fing an
in London und Paris gemeinfame Kriegsräte abzuhalten und erflärte offiziell,
daß nunmehr die Einbeitlichfeit der Kriegführung gefichert fe. Was fchon längft
unbedingt notwendig gewefen wäre, wurde jebt feierlih al8 große Errungen-
[haft in die Welt pofaunt, daß man nämlich endlich wife, wa man wolle.
Gallipoli wurde geräumt, Griechenland gründlich gefnebelt, und die „weitliche”
Schule hatte anjheinend eine Stärkung erfahren, obwohl French ging. Schlieklich
wurde aud) die Oberleitung über die Truppen in Mefopotamien von ndien
nad London verlegt. Aber der ftarle Mann für den Dften war nicht auf-
getaudit, in Mefopotamien tft noch kein Umfhmwung eingetreten und die Rettung
Koalitionsfrieg 303
Serbiens, wenn e3 da überhaupt noch etwas zu retten gibt, it anjcheinend auf
den Frühling verfhoben. PBorausgefegt, daB der Borftoß von Salonili mehr
ift als ein Buff, mit dem man Truppen ber Zentralmädte am Balkan feft-
balten will. Bielleiht wiffen die Verbündeten felbjt noch nicht genau, was fie
in Salonifi eigentlich anfangen werden. In diefem Falle beitünde aljo die alte
Unjlüffigteit weiter, ebenfo wie in England felbft da3 Durcheinander, der
„muddle“ weiter in Ehren bleibt, wie die Erperimente mit der Luftverteidigung
bemweifen.
„Vergleicht die Wirkfamkeit der deutfchen Pläne mit der der Pläne der
Berbündeten”, fchrieb der „Manchefter Guardian“ vorwurfsvoll in einem XLeit-
artilel. „Weder im Often noch fonft wo hat die deutiche Strategie eine Spur
von Gentalität verraten. Sie ift nad) ganz Tonventionellen Gefichtspuntten vor«
gegangen”. Und do, und doch — — — —! €8 ift immer wieder dasfelbe
Lied, ob bei den „Hunnen“ oder den Anwälten der europäifchen Zivilifation.
Sie fingen alle: „Deutfchland, Deutichland über Alles“. Cs ift übrigens
interefjant in demfelben Leitartifel des „Manchefter Guardian“ zu lefen, wie
fih das Blatt die Neuorganifation, mit ber e8 Deutfchland zu fchlagen hofft,
vorflelt.. Darad wäre Paris die natürliche Zentrale für die Leitung der
Operationen an der Weftfront, Egypten für die Operationen gegen die Türkei
und am Balkan, Indien für Mefopotamien und London für die Koordination
ber Operationen in Rukland und an der Weftfront. Sein einfaches Programm,
wie man fiehtl Wenn man dem „Mancheſter Guardian” feinen Wunfh er-
füllte, würde man vier Stellen erhalten, die mehr oder weniger unabhängig
von einander die Leitung der Kriegführung in Händen Hätten. Und daneben
würde e3 nod) eine KriegSleitung in Petersburg geben, die fi vorausfichtlid
mit der Londoner Sriegsleitung bejtändig in den Haaren liegen würde. Eine
rafde und ausreichende Verftändigung zwifchen diefen vom „Mandeiter Guardian“
vorgefählagenen SKriegsleitungen wäre faum möglih. Die bivergierenden Mei-
nungen der verj&hiedenen Yeldherren würden den Wirrwarr no) größer machen.
Schon jest fommt es häufig vor, daß einer der Beteiligten fich nicht in
den Rahmen einfügen will oder fonft etwas nicht Happt, was fo fchön aus-
gedadht war. Entweder es ift das Schmerzenstind talten, von dem man fo
viel erwartete und das fo wenig hielt oder Dtunitionsmangel oder da8 Klima
oder fonjt etwas. Zumeilen bat e8 den Anfchein, als ob e8 endlich anders
werden würde. Man reformiert und verkündet der Welt, daß nun alles gut
fei. Zatfächlich fcheint es au, al3 ob mehr Schwung in die Kriegführung der
Koalition fommen follte. Dan bat gerade in der allerlegten Zeit immer wieder
mit aller Beftimmtheit erflärt, daß die Zeiten der ‘Blanlofigfeit und Jrrtümer
vorÄäber feien und daß noch im Laufe diefes Jahres die Zentralmädhte zu fühlen
belommen würden, was e3 heißt, gegen eine geordnete Phalanr von vier Groß-
mädhten, die untereinander einig und reichlich mit Waffen und Munition ver-
jeden find, zu kämpfen. Briand tft nach Stalien gefahren, um feinen lateinifchen
304 Die Ausaleihung der Samilienlaften
Brüdern ins Gemüt zu reden, und biefe Reife Toll ausgezeichnete Kolgen gehabt
baden. In London, Paris, Petersburg und Rom verkündet man gleidherweile
das nahe bevorftehende Ende des Militarismus der Zentralmädte. Die großen
Worte der Ententepreffe bröhnen einem im Dhre. Aber es tft nicht das erite-
mal, daß Deutfchland und feinen Bundesgenoffen der baldige Untergang
prophezeit wird und es ift zu erwarten, daß es auch diesmal bei den Jllufionen
bleibt und fo weiter geht, wie der Untonijt Sir Marf Syles neulid) im Unter-
baufe fagte: „Wir debattieren und der Yeind befälteßt, wir unterjuden und
der Feind macht Pläne, wir find erftaunt und der Yeind handelt!“
NPZ
| N Cu s FG
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ð u Fer —
Die Ausgleichung der Familienlaſten als Grundlage
einer gerechten Beſteuerung
Von A. Zeiler, J. Staatsanwalt in Zweibrücken
Or" der Februarnummer von „Recht und Wifjenfhaft” bat Herr
"Sf 3 Geheimrat Strug mit fchlagenden Gründen die Notwendigkeit
u F dargetan, bei der künftigen Geſtaltung der Steuer weit ſtärker
2 als heute auf die Höhe der Familienlaften der Steuerpflichtigen
NRüdfiht zu nehmen, anderfeitS aber davor gewarnt, fi von
he fogenannten Junggefellenfteuer einen tarfen Einfluß. auf die Hebung der
Bollszahl zu verfprehen. Wenn ich troß aller Übereinftimmung mit diefer
Auffafjung auch noch die Aufmerlfamfeit des Lefers erbitte, jo geichieht es aus
einem doppelten Grunde: weil mir die Benölferungsfrage eine der widtigiten
iheint, deren Löfung uns obliegt, und weil ich glaube, daß Struß mit den
aus feinen Betrachtungen gezogenen Folgerungen lange nicht weit genug gebt.
Wir find darüber einig: Der ernften Gefahr, in der Benölferungszahl
von den Öftliden Nachbarn ftark überflügelt zu werden, muß mit aller Kraft
entgegengetreten werden. Zum Ziele führt nicht ein einzelnes WDkittel; fondern
alle die manderlei Mittel, die wir Tennen, müfjen verbunden und nebenein-
ander angewendet werden. Wenn aber die Hebung der Lebenshaltung und
damit die bedrohlich fteigende Schwierigkeit, eine größere Familie aufzuziehen;
wenn die immer ftärfere Verbreiterung ber Kluft zmilchen der Lebenshaltung des
Ehelojen, des Kinderlofen, der finderreihen Familie mit Sicherheit als einer
der ftärfiten Gründe für den Geburtenrüdgang anzufprechen ift, dann muß
eins der hauptfädhlichiten Gegenmittel die Schaffung wirtfhaftlichder Hilfen für
die finderreihen Familien fein.
Die Ausgleichung der Samilienlaften 305
Alfo do eine „Ssunggefellenfteuer*? Ya und nein, wie man e8 nimmt.
In dem Sinn und in der Form, mie fie in taufend Köpfen fpult, halte ich
fie für unerträgli, und aud Sirup lehnt eine folde ab. ES geht hier ganz
ebenfo wie bei der Befteuerung der Kriegsgewinne. Nicht der Ärger, daß der
Nachbar Gelegenheit Hatte, reihen Kriegsgewinn zu machen, ber einem felbft
verfagt war, nicht der heilige Zorn darüber, daß jener fo jelbftfüchtig war,
nit auf den Gewinn zu verzichten, darf uns bei der Steuergeftaltung leiten.
Auch die rubige Mäßigung, mit der das Neihsihabamt die Frage behandelt,
wird zum Ziele führen und gerade fo fidher: nicht zur Strafe foll der „Kriegs-
wucherer“ bluten, fondern er foll einen erfledlichen Teil des Gewinnes abgeben
einzig deshalb, weil er in ganz befonderem Maße tragfähig ift für die Laft,
die der Krieg der Allgemeinheit auferlegt. Genau fo ift’8 bei der Beftenerung
der Junggefellen (und der biefen felbftverftändlich gleich zu behandelnden Kinder⸗
Iofen und Kinderarmen): nicht weil fie felbitfüchtig ehelos blieben oder feine
Kinder zeugten, follen fie Strafe leiden; jondern weil fie in ganz wejentlich
höheren Grade fteuerleiftungsfähig find als der Tinderreihe Familienvater, follen fie
vorzugsweife an den Öffentlichen Laften tragen. Und fie find wirklich in befonderm
Maße leiftungsfähig, felbjt wenn wir einzig und allein auf die direlten Steuern
fehen, ganz zu fjchmweigen aljo von der Belaftung mit den indireften Steuern,
die befanntlich den finderreihen Familienvater fo jehr viel ftärfer treffen als jene.
Wir müßten alfo — ganz in Übereinftimmung mit Strup — den Ge-
danken der „unggefellenfteuer” dahin veredeln, daß nicht geradezu und aus-
gefprodhen von dem Ehe- oder Kinderlofen eine Steuer eigener Art oder eine
Steuererhöhung erhoben, jondern daß die Ausgleichung der Yamilienlaften in
anderer Weife gefucht wird: im einzelnen etwa dadurdh, daß die Steuerfreiheits-
grenze für den &he- oder stinderlofen beruntergejegt, insbefondere aber, daß
das „SKinderprivileg“ beffer ausgebaut würde, und bierfür müßte, wie Struß
gang mit Recht fordert, die Steuererleichterung nicht erjt vom zweiten, dritten,
vierten Kind an gewährt werden, fondern fi vor allem fon an das Beitehen
einer Ehe an fi) anfnüpfen und für jedes einzelne Kind fteigen, und zwar
bis zu weit höheren Einlommenftufen hinauf.
Aber gleichwohl, mögen wir das Ktinderprivileg nod) fo gut ausbauen, fo
fomme ich doch zu dem Ergebniffe, daß der ganze Berfudh, die Ausgleidhung
ber Famtlienlaften auf dDiefem Wege zu fuchen, verlaffen werden müßte. Das
Mittel ift und bleibt zu Mleinlih, um auch nur halbwegs wirkfam zu fein, und
überdies hat feine Anwendung mehr Nachteile im Gefolge, als fie Vorteile
bringen Tann.
Bor allem: feine Wirkung ift viel zu Shwad. Wir erreichen mit ihm
niemals au) nur in befcheidenfter Weile das Ziel, dem der fräftigere Ausbau
des Stinderprivilegs do auch nad der Auffafjung von Struß dienen fol,
nämlid die Pflichtigen wirklich nach dem Mape ihrer Leiftungsfähigleit zu den
öffentlichen Laften heranzuziehen, gefchweige denn, ihnen einen Anfporn zur
Grenzboten I 1916 20
306 Die Ausgleihung der Samilienlaften
Beugung einer größeren Sinderzahl zu geben (oder vielmehr richtiger: das
gegen ben Naturtrieb beftehende Hemmniß der wirtfchaftlicden Enge wegzuräumen).
Für Einfommen von 1000 und 2000 Mark mit ihren ohnehin niedrigen
Steuerfägen ift das felbftverjtändlih; aber- es trifft auch für Einlommen von
4000 und 5000 Marf und mehr noch ganz ebenfo zu: der Einkommenbezieher,
ber feh8 Kinder aufzuziehen Hat, fteht infolge der Familienlaft in feiner
ftenerlichen Leiftungsfähigleit jo weit hinter dem Che- oder Kinderlojen zurüd,
daß man ihn geradezu fteuerfrei laffen müßte. Und troß alledem wäre bie
Hilfe, die ihm dadurd) gewährt würde — und wäre e$ der volle Erlaß der
Steuer von rund 100 Marl — viel zu unbedeutend, um ihm die Enge feiner
Mirtfehaft wirklich fühlbar zu erleichtern.
Sodann aber jehe ih in einer Steuerbefreiung des Kinderreichen oder in
der Gewährung von Steuerermäßigungen eine Gefahr befonderer Art.
E35 ift bedauerli, daß die Rüdfiht auf die dem „Heinen Dann“ in den
indireften Steuern auferlegten Laften dazu geführt bat, die Heinen Einlommen
auch über die Grenzen des notdürftigen Unterhalt3 hinaus ganz oder faft ganz
fteuerfrei zu laffen und dasfelbe im Wege des Kinderprivilegs zu beftimmen
für die finderreihen Familien etwas höherer Einfommenftufen. Um nämlid
zu dem Gefühle zu erziehen, daß ein jeder ein vollgültiges Glied des Ganzen
ift, tft e8 ein wertvolles Mittel, auch einem jeden eine direlte Steuer aufzuerlegen.
Nicht ftören, fondern fördern fol die Steuerleiftung das innerlide Zufammen-
wadhfen mit dem Staate. Darum fcheint e8 mir geradezu erwänfcht, daß jeder
Bezieher des gleihen Einfommens in gleihem Make zum StaatShaushalte bei-
zutragen hätte. Ein feinere8 Gefühl muß es al8 Demütigung empfinten, daß
ibm um der beengten wirtihhaftlihen Lage willen an der fonjt beftehenden
Pflicht zur Beitragung zu den Staatslaften etwas gejchentt werde, ein be-
drüdendes Gefühl, das allen „Nachläffen”, 3.38. aud der Schulgeldbefreiung,
anhaften muß. Mögen auch nicht viele Betroffene fo fein empfinden, fo müßten
do die Feinerfühlenden gefchont werden und jedenfalls fjoll nicht die Gefeh-
gebung die Schuld auf fi laden, daß die Bildung eines foldhen feineren Ge-
fühls erjäwert oder untergraben werde.
Darum weg mit jeder Maßnahme, die durch die Geftaltung der direlten
Steuern den Kinderreihen zu entlaften judt. (DaB ich damit nicht fagen will,
es müßten die indireften Steuern mit ihrer den Stinderreichen fo jehr viel
ftärfer treffenden Belaftung in ihrer heutigen Geftaltung beitehen bleiben, bedarf
wohl nicht erit der Erwähnung.)
Wenn aber gleihwohl dem Kinderreichen durch wirtfchaftliche Maßnahmen,
und zwar durd) foldde in erfter Linie und wirkfam, geholfen werden muß, fo
ehe ih nur einen Weg: durch die Einführung einer allgemeinen Yamilien-
beihilfenordnung einen Ausgleich der Familienlaften zu fchaffen. Hier mag
unterfuht werden, welde Wirkung ein folder Ausgleih auf die Gejtaltung
unferes Steuerwefens zu üben vermödhte.
— — — — — — —
Die Ausgleichung der Familienlaſten 307
Zunächſt würde durch die Einführung einer Familienbeihilfenordnung den
indirekten Steuern ein guter Teil von ihrem Stachel genommen. Denn in der
Bemeſſung der Höhe der einzelnen Beihilfen wäre den nun einmal beſtehenden
indirekten Steuern Rechnung getragen und wir könnten mit einiger Ruhe die
Entwicklung abwarten, die uns vielleicht doch einmal (ſoweit nicht die Beſteuerung
zu andern als zu Finanzzwecken erfolgt) zur Einkommenſteuer als der aus—⸗
ſchließlichen Beſteuerungsart führen wird.
Ich habe auf Grund eines guten Zahlenſtoffes aus dem Leben Be—
rechnungen über die Wirkung einer Beihilfenordnung angeſtellt und darf viel⸗
leicht die Ergebniſſe in freilich nur ganz allgemeinen Umriſſen mitteilen. Zu
fordern find Beihilfen für jede Familie, ausgiebig, nicht kleinlich bemeſſen, aber
do nicht fo Hoch, daß der Familienfinn und die DOpferfreudigfeit als Grund«
lage der Yamilie ausgefchaltet oder zur Nebenfächlichleit herabgedrüdt würden.
Die Beihilfen follen in diefem Sinn grundfägli nur einen Zeil der Familien-
laften deden, aber doch einen fo reichlich bemefjenen Zeil, daß der Haushalt
dadurdh eine ganz merfliche Entlaftung erführe. ch fordere im einzelnen Bei-
bilfen verfchiedener Art nebeneinander: zum ehelihen Haushalt an fidh, Bei-
bilfen für die Aufzucht der Kinder je nach deren Alter und nach der Art und
Koftfpieligkeit ihrer Erziehung. Durchmweg abgeftuft nad) der Einfommen3hböbe,
ohne Grenze nad) oben, jedoch mit Mindeft- und Höcdjitfägen für die Kinder-
beibilfen; ferner eine Ausftattungsbeihilfe für die heiratende Tochter. Damit
wäre einerfeitS eine gerechte Ausgleihung der großen Verfehiedenbeiten der
Familienlaften geboten, anderfeitS einer der wicdhtigften Gründe befeitigt, Die
heute im Sinne einer Geburtenbefchräntung wirffam find. Die Dedung des
Aufwandes (der felbjtverftändlich jehr hohe Zahlen ergibt) geihähe nicht im
Mege der Belteuerung, fondern dur ein Ausgleihungsverfahren ungefähr in
der Art einer Verfiherung auf Gegenfeitigfeit. Der Gejamtbevarf wird be-
rechnet und auf fämtlihe Eintfommenbezieher ausgefchlagen genau nad) dem
Maße ihrer Leiftungsfähigkeit. Bei einem ergibt fi dann ein Überfhuß zu
feinen Gunften, beim andern zu deflen Laften und der berechnete Unterjchted
wird dort ausbezahlt, hier eingehoben. Der Maßftab der Umlegung wäre wie
gejagt die Ginlommenhöhe, aber mit einer Berfeinerang: nicht die volle Höhe
des Einfommens wäre beftimmend, fondern das Einlommen abzüglich) eines
Betrages, der als Mindeftaufmand der Lebenshallung des einzelnen gelten
Ian, und Diefen Betrag fee ich gleich dem Zweihundertfadhen des ortsüblichen
Taglohns eines erwacdhfenen männlichen Arbeiters.
Eine folgende Berednung mag e8 veranfhaulicen. Doc) jei noch voraus
geihict, daß nach meinen Berechnungen der zur Aufmwandsdedung erforberliche
Ausgleihungsbetrag — die „Dedungsabgabe” — 24 Prozent des in ber vor-
ftehenden Weife „berichtigten Eintommens” betrüge. Ich babe dann im be
fonderen au für die in dem vorliegenden Auffate behandelte Steuerfrage
unterfucht, wie hoch fi bei Durchführung einer Beihilfenordnung der Ein-
210*
308 Die Ausgleiyung der Samilienlaften
ommenfteuerfa bemefjen würde, wenn beifpielSweife in Bayern die Einfommen-
fteuer genau denfelben Betrag bringen follte al nad) dem beute hier geltenden
. Steuerredt. Würden die Beihilfen zu den von mir geforderten Sägen gewährt,
fo müßte für Einfommen jeder Höhe gleihimäßig ein Steuerfa von 2,82 Prozent
oder fagen wir von rund 3 Prozent desjenigen Betrages erhoben werden, der
fi ergibt, wenn von dem Einlommen die zur Dedung der Yamilienbeihilfen
erforderliche Umlage und bei jedem Cinfommenbezieher der Betrag des not-
bürftigen Lebensunterhalt3 abgezogen wird.
Nun die Beifpielberehnung. Bei einem Einlommen von 4000 Darf
betrüge (an einem Drte mit einem Taglohnfab von 3 Marl) die Dedungs-
2
abgabe (4000 — 200 X 8) X 2 = 816 Mark und danad die "Einfommen-
fteuer (3400 — 816) X — rund 78 Mark. Hier iſt es nun tatſächlich
100
ohne Einfluß, ob es ſich um einen Eheloſen, ein kinderloſes Ehepaar oder
eine kinderreiche Familie handelt; denn der Unterſchied der Familienlaſt wird
eben durch die Wirkung der Beihilfen ausgeglichen, die ihrerſeits natürlich von
der Steuerlaſt frei zu bleiben hätten. So erhielte bei der angenommenen
Einkommenhöhe von 4000 Mark das kinderloſe Ehepaar eine Haushaltungs⸗
beihilfe von 600 Mark und ein Familienvater mit Frau und fünf Kindern von
5, 7, 10, 11, 14 Jahren (von denen keines eine hoöhere Schule beſucht) zu
jenen 600 Mark hier als Geſamtbetrag der Kinderbeihilfen weitere 712 Mark.
Die Steuerlaft von 78 Mark würde alſo ruhen auf folgendem „hberichtigten
Einlommen”: beim Chelofen auf 4000 — 816 = 3184 Marl, bei dem finder-
Iofen Ehepaar auf 4000 — 816 + 600 = 3784 Marl, bei jener Finderreidhen
Samilie auf 4000 — 816 + 600 + 712 = 4496 Mark.
Diefe Zahlenreibe für eine Anzahl verfchiedenfter Einfommenftufen berechnet
zeigt die Tabelle auf Seite 309.
Diefe Zahlen zeigen, daß e3 hier weder geboten noch geredht wäre, bie
Steuer nad wachſenden Sätzen zu geitalten. ine folde Regelung ift uns
freilich heute jo geläufig, daß wir fie für eine felbftverftändlicde Cigentümlichkeit
der Beiteuerung halten möchten. So mwädjlt 3.8. bei ber bayerlichen Ein-
Iommenfteuer der Sat von 0,17 biß zu 5 Prozent. Aber diefe Reglung ift
gleihmwohl weiter nichts als ein Notbehelf und nur folange bereditigt, alS das
Gejeg feinen anderen Weg findet, der Leiftungsfähigfeit volle Rechnung zu
tragen. Diefer andere Weg aber ift mit dem Aufbau der Steuer auf einer
allgemeinen Beibilfenordnung und damit auf dem leiftungsfähigen Einlommen-
teil von felbjt gegeben. Man fieht aus ben mitgeteilten Zahlenbeifpielen, wie
füblbar die höheren Einlommen zu einem gerechten Ausgleich der Familien-
lajten außerhalb der Steuer herangezogen werden. Nach unten aber bleibt —
und mit Net — nur der wirklich notbürftige Lebensunterhalt fteuerfrei, auch
hier wieder für den Unverheirateten wie für den finderreihen Familienvater in
EEE — — — — — — PER
Die Ausgleihung der Samilienlaften 309
Die Beihilfe Das „berichtigte Einkommen“
Für ein — I8
Ein |&,,|8_5| Die |.leftunge| 5 ® ürdiega-
tommen | ES 55 £ | Dedungs-jägige Ein.) ” 5 für den — — *
52|8358| abgabe || tommen- | 3 E finderlofe
bon 58 257 g re a5 || Ehelofen Ehepaar jenen
NM. zn = 8 e Sr 5 Kindern
304 904
216 684] 20:/,l 1284 1895
836 | 1064| 32 | 1664 2 359
576 | 1824| 55 | 2424 3 408
816 | 2584| 771/,| 8184 4 496
3344 | 101 || 3944 5 584
5624 | 169 | 6224 8 848
8664 | 260 | 9264 12 994
14 744 | 443 | 15344 20 294
22 344 | 671 | 22 944 29 394
50 000 1127| 38 144 47 594
7 500 | 1 950 11.856 | 37544
gleicher Höhe, da auch hier die Ausgleihung der Familienlaften außerhalb der
Beiteuerung und unberührt von ihr geſchähe. Zugleich aber wäre dadurch,
daß der notdürftige Lebensunterhalt nach der Höhe des ortsühlihden Taglohns
bemefjen würde, fogar der großen Verfchiedenheit der örtlichen Lebenshaltungs-
foiten au) für die Beftenerung Rechnung getragen.
Daß eine Ausgleihung der Yamilienlaften im Sinne der vorjtehenden
Ausführungen möglih ift und auf ihrer Grundlage die Negelung der Ein-
fommenfteuer, wird man nicht bezweifeln Lönnen. Die Ausführung des Gedanfens
hängt nur von dem Mute ab, mit dem nıan an eine Behandlung der großen
Bevöllerungsfrage berantreten wird. Für die fünftige Geftaltung der Steuer
aber wird allerdings fchon, bevor der Gedanke einer Beihilfenordnung zur Tat
geworden fein wird, eine ftarle Betonung der Verjchiedenheit in den Yamilien-
laften unumgänglich fein. Denn ohne fie müßte, je mehr wir mit wachjender
birelter Steuerbelaftung zu rechnen haben und je mehr zugleich indirekte Steuern
dazu treten werden, um fo unerträglicder der Drud fich fteigern, unter dem
ſchon heute die finderreihe Familie infolge der ungenügenden Steuerentlaftung
fteht._ Aus diefer Sachlage ergibt fi von felbft die Folgerung, daß für die
bevorftehenden Zufhhläge zu den direlten Steuern eine Fräftige Staffelung ge-
boten tft, und zwar nicht nur nach der Höhe der Einlommen, jondern zugleich)
und neben diefer eine folcde Staffelung der Zufchläge nad) der Höhe der Familtenlaft.
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Scleiermadıer als Patriot
Don Konfiftorialrat Profeflor Dr. Simon
Jene ſtolzen Inſulaner, welche viele unter euch fo ungebührlich ver-
B ehren, Fennen feine andere LZofung, als gewinnen und genießen,
Wide Eifer für die Wiffenichaften, für die Freiheit bes Lebens und
A für die heilige Freiheit ift nur ein leeres Spielgefeht. So wie
— die begeiſterten Verfechter der letzteren unter ihnen nichts tun,
als die nationale Orthodoxie mit Wut verteidigen und dem Volke Wunder vor⸗
ſpiegeln, damit die abergläubiſche Anhänglichkeit an alte Gebräuche nicht ver⸗
loren gehe, ſo iſt es ihnen eben nicht mehr ernſt mit allem übrigen, was über
das Sinnliche und den nächſten unmittelbaren Nutzen hinausgeht. So gehen
fie auf Senntniffe aus, fo ift ihre Weisheit nur auf eine jämmerliche Empirie
gerichtet, und fo kann ihnen die Religion nichts anderes fein, als ein toter
Buchſtabe, ein heiliger Artikel in der Verfaffung, in welcher nichts Reelles ift...
Aus anderen Urfaden wende ich mich weg von den Franken, deren Anblid ein
Berebrer der Religion kaum erträgt, weil fie in jeder Handlung, in jedem
Worte fait ihre heiligften Gefehe mit Füßen treten. Die frivole Gleichgültigleit,
mit der Millionen des Volls, der wisige Leihtfinn, mit dem einzelne glänzende
Geijter der erhabenften Tat des Univerfums zufehen, die nicht nur unter ihren
Augen vorgeht, fondern fie alle ergreift und jede Bewegung ihres Lebens be-
ftimmt, bemweift zur Genüge, wie wenig fle einer heiligen Scheu und einer
wahren Anbetung fähig find... Hier im väterlichen Lande ift das beglüdte
Klima, was keine Frucht gänzlich verfagt, Hier findet ihr alles zerftreut, was
die Menfchheit ziert, und alles, was gedeiht, bildet fich irgendiwo, im einzelnen
wenigftens, zu feiner fhönften Geftalt, bier fehlt e8 weder an weifer Mäßigung,
noch an ftiller Betradjtung. Hier muß fie (die Religion) aljo eine Freiftatt
finden vor der plumpen Barbarei und dem Falten irdifehen Sinn des Zeitalters.“
Weldh icharfe, treffende Eharalkteriftif der Nationen, wie aus den neueiten
Erfahrungen unferer Zeit heraus geboren, enthalten diefe Worte Schleiermadhers
in feinen „Reden über die Religion an die Gebildeien unter ihren VBerächtern“
aus dem Jahre 1799; welche freudige, männliche Vaterlandsliebe Lingt aus
ihnen! Er gehört zu den Propheten, die in jenen trüben, dunflen Tagen
unferes Daterlandes den Stern der Freiheit fahen. Sein Bild als eines ber
wirtungspolliten Patrioten aus der Zeit der Freibeitsfänpfe, deflen Andenken
wir no heute Dank fchuldig find, wollen wir vor unferem Auge erftehen lafjen.
me u
Scleiermader als Patriot 311
Schleiermacher hat dem Gefühl in der Religion ſein Recht erlämpft, ja
die Religion mit dem Gefühl geradezu identifiziert. Wer nur hiervon wüßte
und etwa die Reden über die Religion geleſen, an der Glut ihrer Empfindung
und ihrer Formvollendung ſich erfreut hätte, der könnte ſich ihn vielleicht als
ein empfindfames Gemüt mit weiblichem Unterton vorſtellen, das gern mit
anderen ſchönen Seelen, namentlich weiblichen Geſchlechts, gefühlvolle Bekennt⸗
niffe taufchte. Sn der Tat hat es eine Zeit gegeben, in der für viele der große
Theologe in diefer falfchen Beleuddtung erfhien. Und doc könnte fein Bor»
urteil törichter fein. Wie er mit glängender, fcharfer Klinge die Kämpfe de3
Seiftes führte, fo Tonnte er ftahlhart in der Vertretung feiner Prinzipien fein.
Ras bewies er im Konflilt mit feiner Regierung gelegentlich des Streite8 um
die neue Agende, in dem er kräftig für die kirchliche Freiheit auftrat. Das
zeigte er auch als Patriot. Wie Fichte vom Katheder flammende Worte in
die Herzen fchleuderte und Arndt feine zündenden Lieder ins Volk fandte, fo rief
Schleiermader von ber Kanzel das beutfche Voll zu einer in Gott gegründeten
Freiheit auf. „Den erften politifchen Prediger im großen Stil, weldien das
Ehriftentum bernorbradte”, nennt ihn der Philoſoph Dilthey. Einen Schaf
idealer Güter hatte die Philojophie auß den Schadhten des Denlens gefördert,
die Poefie hatte das Höcfte und Beite in Menfchenherzen anklingen lafjen.
Aber e3 war ein Feines Gefchledt, dem bie von unferen großen Geiſtesheroen
gefhaffenen Werte anvertraut waren. Der platte Yulgärrationalismus hatte
die öffentliche Meinung gewöhnt, alles auf feine Nüglichkeit hin anzufehen, und
dem philifterhaften gefunden Menfchenverftand erfchien eine in egoiftifher Enge
verfümmerte Glüdfeligfeit alS das felbftverftändliche Höchfte Gut. Man jhmärmte
in weichlidem Kosmopolitismus oder ruhte, wenn noch wie in Preußen etwas
von nationalem Empfinden vorhanden war, auf den Lorbeeren einer größeren
Bergangenheit. Den Traum felbftzufriedener Kümmerlichfeit hatte die Fauſt
des Torfiihen Eroberers jäh unterbrochen.
Sn Schleiermachers jugendlichfter Vertode finden wir nichts von politifcher
Leidenfchaft oder nur überhaupt von einem lebhafteren politifchen “Interefle.
Er politifiert wohl über die franzöftie Nevolution, ja, er nimmt ihre Partei,
wenn er auch ihre Ausmüchfe tadelt und ausfcheiden möchte, „wa menſchliche
Leidenfhaft und überfpannte Begriffe dabei getan haben.“ Doc allmählich
reift fein Denken heran und findet den Standpunkt, von dem er einft Traftoll
in die politifhen Wirren hinaustreten wird. Kant hatte dem unbedingten
fittlihen Gebot, das der Menfch tn feinem Inneren vernimmt, die gebührende
Stellung im Geiftesleben gegeben. Mit Kant bat fi Schleiermadher in der
Bett feiner Entwidlung eingehend befchäftigt, und ber fittlihe Ernft des Königs-
berger Weifen hat auf den heranteifenden Jüngling feinen Cindrud nicht ver-
fehlt. Aber Schleiermadjer gab dem Gedanfen Kants von der Unbedingtheit
der fittlichen Forderung eine originelle Wendung. Kant wußte nur von einem
allgemeinen, von jedem einzelnen ein und basjelbe forbernden Tategorijchen
312 Schleiermadger als Patriot
Imperativ: Handle fo, daß die Marime deines Willens jederzeit als Prinzip
einer allgemeinen Gefehgebung gelten fönnte. Schleiermadher betont, obgleich
dies mit der fpinoziftifchen Grundrichtung feines Denkens fi) fehwer vereinigen
will, der Allgemeinheit gegenüber das Recht und die Bedeutung der ndividualität.
Mohl trägt jeder eine unbedingt gültige fittlide Forderung in ih. Aber da
jeder als ein befonderes Mmdividuum mit eigenen Gaben und Aufgaben in
Berhältniffe tritt, die für jeden andere find, fo ftellt daS unbedingte fittlidhe
Gebot aud) an jeden befondere Anforderungen, denen er zu genügen bat. Jeder
einzelne tft: eine befondere Offenbarung bes einen, allgemeinen Weltgrundes.
Was er als folder ift, darüber fol er fi Har werden, das fol er erfafjen
und fein Befonderes in den Dienft der Allgemeinheit, des großen Ganzen ftellen.
Daß, wer der Allgemeinheit dienen will, fi) zunächft feiner Pflichten gegen
den Staat erinnern muß, daß der Staat ein fittlider DOrganidmus von un-
aufgebbarem Werte ift, das tft ihm allmählich immer Flarer geworden. &8 lag
den Anihauungen der Zeit, in welcher er aufgewacdhfen war, nahe, den Staat
mehr nur als ein notwendiges Übel zu betrachten, eine Beichränlung, welche
das Individuum fih um anderer Vorteile willen gefallen läßt, und man war
geneigt, denjenigen Staat für den beiten zu halten, den man am wenigjten
empfindet. Gerade die Unterdrädung und gewaltfame Zerreißung des Staates
durch äußer